WINTER IN KANADA | AUSGABE 1/2012 | ||||||
Churchill, die Stadt mit dem einzigen am Arktischen Ozean gelegenen Seehafen Kanadas, liegt zwischen der Hudson Bay und dem Churchill River. Die Süßwassermassen, die die Flüsse rund um die Stadt in die Bucht bringen, stauen zu Winterbeginn gewaltige Eismengen an der Nordküste. Das lockt die Eisbären, die von hier zur Robbenjagd aufbrechen. |
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Wenn etwas abgelegen ist, dann ist es Churchill – ein Nest an der Hudson Bay, einer Bucht des Atlantischen Ozeans, die über den Foxe Kanal und das Foxe Basin mit dem Nordpolarmeer verbunden ist. Das verschlafene 900-Seelen-Städtchen ganz im Norden von Kanadas östlichster Prärieprovinz Manitoba ist nie überlaufen. Doch zumindest sieht man zweimal im Jahr mehr Menschen auf den meist leeren Straßen, als in den übrigen Monaten: Im Sommer, wenn sich die Belugas, die Weißen Wale, zu Hunderten zwischen Churchill River und Hudson Bay tummeln, und zu Winterbeginn, wenn sich die Vertreter der Spezies „Urs maritimus” hier versammeln. Sie begründeten Churchills Karriere als Touristenziel und machten es zur „Welthauptstadt der Eisbären”. Der Flughafen von Churchill ist eher ein Flughäfchen mit dem Charme einer ländlichen Busstation. Sicherheitskontrollen gibt es nicht. Und neben dem Check-in-Schalter steht ein Wagen mit Kaffee und Plätzchen. „Wo wollt ihr denn hin?” fragt Steve lachend, als er die viel zu dick verpackten Ankömmlinge begrüßt. Die meisten hatten sich auf polareres Wetter eingestellt. „30 Grad unter null könnten jetzt normal sein. Doch es sind nur minus vier – viel zu warm für Ende Oktober”, meint der Mann von Churchill Nature Tours. Steve Clubb, 62, ist in der arktischen Natur zu Hause. Seit 23 Jahren führt er Reisegruppen durch die kanadische Tundra. Eine Jacken- und Pulloverschicht kann also wieder weg. Als Mensch ist man flexibel. „Die Eisbären kriegen Magenknurren von diesen milden Temperaturen”, sagt Steve. „Denn erst wenn es kalt genug ist, dass die Hudson Bay zufriert, beginnt für sie die Robbenjagdsaison. So lange heißt es Kohldampf schieben für die weißen Petze”.
Normalerweise vertreibt das brechende Eis im Juli die Hudson-Bay-Bären vom Meer. Oft lange schwimmend, kehren sie an die Küste zurück. Zwischen Cape Tatnam nahe der Grenze zu Ontario und Churchill wandern sie landeinwärts, manche bis zu 100 Kilometer weit in den Wapusk Nationalpark hinein. „Kommt der Sommer nur eine Woche früher, kann das einen Bären bis zu zehn Kilo Körpergewicht kosten. Ähnliche Opfer fordern späte Winter”, so der Guide. Nun sind sie also wieder hier und warten auf das Eis und auf die Robben. Das kann bis Dezember dauern. Wer viele Eisbären sehen will, hat hier dazu in diesen Wochen die allerbesten Chancen. Die ersten Tiere dieser Tour sind Elche, höher als der Wald. Wie Gulliver im Land der Zwerge stehen sie zwischen borealen Krüppelkiefern – 60, 70 Jahre alten Bäumen, die ihnen gerade einmal bis zum Bauch reichen. Der Helikopter dreht. Der blaue Horizont steht schief, spiegelt sich in zugefrorenen, endlos vielen kleinen Wasserflächen. Minibäume, Minibüsche. Vorbei am Chistmas Lake geht es zurück in Richtung Bucht. Da, am Halfway Point, ganz nah am Wasser, der erste Eisbär. Sitzt und gräbt nach Fressbarem oder scharrt sich einen windgeschützten Schlafplatz. Gleich daneben liegt ein zweiter – auf der Seite, eingerollt. Der dritte läuft davon, hat wohl Interesse an der Eiderente, die ein Stück weiter auf den Wellen schaukelt. Zwei Stunden über Tundra und Küste. Neun Eisbären aus der Vogelperspektive. Neun von 950 Tieren, die an der westlichen Hudson Bay zu Hause sind – unwesentlich mehr, als Churchill Einwohner zählt. In den 1940er und 1950er Jahren war der Ort ein Stützpunkt des US-Militärs. Aus dieser Zeit stammen noch etliche Hangare, die rund um die Stadt verstreut sind. Früher Flugzeuggaragen, dienen die Riesenblechbüchsen heute zivilen Zwecken. Die bekannteste ist das Eisbärengefängnis, zeitweilige Residenz allzu unscheuer weißer Räuber.
„Wer menschlichen Siedlungen zu nahe kommt, wird bis zum Abtransport per Helikopter mit Knast bestraft”, sagt Steve. Doch eine solche Aktion koste bis zu 10.000 kanadische Dollar. Deshalb müsste der eine oder andere unfreiwillige Teilnehmer des „Polar Bear Alert Programm” auch schon mal etwas länger brummen. Platz für 28 Tiere bietet das fensterlose Gebäude. Vier Zellen sind momentan besetzt. Einer der Insassen protestiert mit lautstarkem Klopfen. Keine Chance, das nächste Ticket in die Tundra gibt es erst in einer Woche. Wer Pech hat, kommt in einen Zoo. „Oft genügt es, wenn die Mitarbeiter des Alert-Programms ein paar Schreckschüsse abgeben. Die Bären mögen den Krach nicht und verziehen sich in Richtung Wasser. Vier Fahrzeuge mit bewaffneten Leuten sind ständig unterwegs in und um Churchill”, berichtet Steve. Etwas Ernsthaftes sei selten passiert. Die letzte tödliche Attacke auf einen Menschen habe man Mitte der 70er erlebt. „Schuld war der pure Leichtsinn”, meint Steve. „Wir nennen das Walt-Disney-Syndrom. Viele Leute finden die Bären niedlich, wollen sie am liebsten streicheln, bedenken aber nicht, dass es sich um gefährliche Raubtiere handelt. Ein Mensch ist für sie nichts anderes als Fleisch und Knochen. Weiter nordöstlich hält der Jeep vor einem anderen Hangar, der jetzt zu „Great White Bear” gehört. Dieses Unternehmen bietet nicht nur Touren an, sondern stellt auch |
gleich die fahrbaren Untersätze dafür her. „Polar Rovers” nennen Marilyn und Don Walkoski ihre 15 Tonnen schweren, geländegängigen Vehikel mit bis zu 40 Sitzplätzen. Dank der Riesenräder, Sonderanfertigungen für Flughafenfeuerwehren, genießt man aus den Monster-Ausflugsbussen weitreichende Aussichten. Fahrzeugwechsel. Zum Glück hat Bill, der Driver, den Polar Rover vorgeheizt. Die Temperaturen sind zwar immer noch nicht unter minus zehn, doch der Wind ist eisig und kneift ziemlich in die Nase. Bill kennt den Weg, auch wenn es in der Tundra keine Straßen gibt. Über den Bird Cove, einer felsigen Landnase, geht es zur Great White Bear Lodge. „Das rollende Hotel steht die ganze Wintersaison an der Küste. Wenn du Glück hast, weckt dich früh ein Eisbär”. Ein erwachsenenes Männchen erreicht bequem die Fenster. Die größten Exemplare bringen es stehend bis auf vier Meter“, weiß Steve.
Bills Talisman, ein Spielzeug-Wackelbär neben dem Lenkrad, nickt. „Manchmal schüttelt er auch mit dem Kopf. Er hilft mir bei der Orientierung”, behauptet der pensionierte Lehrer. Falls er seinen Gästen damit keinen Bären aufgebunden hat, beweist das kleine Kunststofftier eine wirklich gute Nase. Steve und Bill sind völlig aus dem Häuschen, und nun auch alle anderen. Was für ein Schauspiel! In etwa 500 Meter Entfernung lassen sich vier erwachsene Eisbären eine Robbe schmecken. Ganz rosa gefleckt sind sie vom Blut, wie man durchs Fernglas deutlich sehen kann. Weiter ran will Bill nicht fahren, möchte die Hungrigen bei ihrer Mahlzeit nicht stören. Wer kein extralanges Objektiv hat, ist ein bisschen traurig. Man muss ja nicht alles fotografieren. Doch schon kurz darauf sorgt ein junger Bär in Steinwurfweite für drollige Ersatzmotive. Zwischen zwei Büschen auf dem Rücken liegend, streckt der Halbwüchsige alle Viere in die Luft. Am Gordon Point kommt ein weiterer Artgenosse schließlich bis auf Tuchfühlung heran, läuft eine Ehrenrunde und macht es sich dann unmittelbar hinter dem Polar Rover bequem. Von dem Austritt am Ende des Fahrzeugs kann man sein Atmen hören. Während dieser und einer zweiten Beobachtungsfahrt gibt es Dutzende Begegnungen mit den größten Landraubtieren der Welt. Am meisten beeindruckt eine Eisbärenmutter, die ihrem Nachwuchs offenbar beibringen möchte, was Menschen sind und wie sie sich verhalten. Als gäbe es nichts Selbstverständlicheres, kommt das Weibchen auf das Fahrzeug zu. Ihr Junges, das sie stets im Auge hat, läuft brav an ihrer Seite. Aus nächster Nähe mustert sie das große weiße Ding – ein Riesenbär mit schwarzen runden Beinen? Das Bärenkind scheint ganz begeistert zu sein. Dann stellt Mama sich auf ihre dicken Hintertatzen und wirft mal eben einen Blick durchs Fenster. Und was sieht sie da? Versteinerte Zweibeiner, die vor lauter Aufregung ziemlich blöde gucken! Zu fressen gibt es nichts, auch wenn es noch so lecker riecht da drinnen. In aller Ruhe lässt sich die Eisbärdame zurück in die Vierbeinestellung fallen und kümmert sich um ihren Kleinen. Der ist mächtig stolz auf seine coole Mutti und vor allem froh, dass sie wieder bei ihm ist.
Allgemeine Infos zu Manitoba in deutscher Sprache können unter der e-Mail-Adresse maria@msi-germany.de angefordert werden. Anreise: Gute Verbindungen bietet die LTU ab Düsseldorf nonstop nach Toronto (9 Stunden), ab 400 Euro, www.ltu.de, weiter mit West-Jet nach Winnipeg (2,5 Stunden), ab 160 Euro, www.westjet.com, von dort geht es mit der Calm-Air weiter nach Churchill (2,5 Stunden), ab 200 Euro, www.calmair.com Übernachten und Essen in Churchill: zum Beispiel in der „Lazy Bear Lodge”, einem liebevoll gestalteten, selbst gebauten Holzhaus, ganz im kanadischen Stil. Doppelzimmer mit zwei Doppelbetten und Bad ab 85 Euro die Nacht. Im hauseigenen Restaurant wird allerlei „Wild” wie Karibou-Pfeffer-Steak und Moschusochsen-Rouladen serviert, www.lazybearlodge.com. Auch das Café on Mainstreet hält für die Mittagszeit kleine Snacks, Salate und Burger bereit. Individuelle Ausflüge: Eine Tagestour mit dem Polar Rover, inklusive Barbecue und Getränke, bieten Marilyn und Don Walkoski für etwa 200 Euro pro Person. Buchbar unter Great White Bear Tours, Telefon 001-204-675 27 81 oder 675 23 98, www.greatwhitebeartours.com. Komplette Tagespakete mit geführten Polar-Rover-Touren, Helikopter-Rundflug, Unterkunft und Verpflegung bietet der kanadische Spezialveranstalter Churchill Nature Tours. Aktuelle Angebote für 2012 mit allen Programmen, Preisen und Kontaktdaten unter www.churchillnaturetours.com/tours/bears.html Pauschalreisen: Die deutschen Reiseveranstalter SK-Touristik und Meridia Reisen offerieren Beluga-Wal-Touren in Churchill, ferner bieten folgende Veranstalter Kanada-Reisen an: |
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Das Städtchen Churchill – hier eine seiner zwei Kirchen – bietet Gästen sowohl komfortable Hotels wie die „Lazy Bear Lodge” als auch preiswerte Privatzimmer mit Frühstück. |
Der große Inuksuk in Churchill erinnert an die Zeit, als der Norden Manitobas nur von Inuit bewohnt war. Die kanadischen Ureinwohner nutzen die Steinskulpturen, denen auch magische Kräfte zugeschrieben wurden, vor allem als Wegweiser. |
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Blick vom Helikopter auf die vereiste Landschaft an der Hudson Bay. Die wenigen Bäume im Grenzbereich zwischen borealer Vegetation und baumloser Tundra erreichen kaum die Größe eines Menschen. |
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Wer beobachtet hier eigentlich wen? Während wir uns im Fahrzeug mit Ferngläsern und Kameras an den Fenstern drängen, läuft Frau Eisbär mit ihrem Nachwuchs schnurstracks auf uns zu und zeigt ihrem Kind, dass es auf der Welt nicht nur Eisbären und Robben gibt. |
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Mama Bär zeigt ihrem Kind, dass Menschen in großen weißen Kisten leben. Es riecht darin so gut nach Essen, doch leider kommt man da als Bär nicht ran. |
Ein neugieriger Junggeselle kommt dicht an den Polar Rover heran und gähnt gelangweilt, als er merkt, dass es da auch nichts zu fressen gibt. |
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„Polar Rovers” nennen Marilyn und Don Walkoski von „Great White Bear Tours” ihre selbstgebauten Monsterbusse, in denen sie mit ihren Gästen auf Eisbär-Pirsch durch die Tundra crossen. |
Tourguide Steve Clubb von Churchill Nature Tours zeigt seinen Gästen das Eisbärengefängnis von Churchill, in dem allzu unscheue weiße Riesen bis zu ihrem „Rückflug” in die Tundra in Einzelzellen brummen müssen. |
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Unmittelbar hinter dem Polar Rover macht es sich ein fauler Petz in einem kahlen Busch gemütlich. Vom Austritt des Fahrzeugs kann man ihn aus nächster Nähe beobachten – so nah, dass man sein Atmen hört. |
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