AUSGABE 2/2012
hr

Foto: Egon Giebe, SeereisenMagazin Der Hamburger Herbert Fricke ist jahrelang zur See gefahren, auf Frachtern, Expeditions- und Kreuzfahrtschiffen rund um den Globus,

bevor er von der Nautik zum Journalismus wechselte.

   

Kissen Zwischen - passt 

Nachdem wir auf dem Achterdeck eine Partie Schach gespielt hatten – wobei ich Blödmann wieder mal verlor –, schlenderten der Doc und ich nach vorne, um mit dem Fernblick die Kimm entlangzuhangeln. Auf der Suche nach Entgegenkommern. Oder nach Mitläufern an Backbord oder Steuerbord. Wie Leute auf Ausguck es ja gerne tun. Die Augen leicht zusammengekniffen. Die Ellbogen auf der Reling. Immer denkbereit, manchmal gesprächsbereit, hin und wieder geständnisbereit. Gelegentlich ein paar Tümmler oder einen fliegenden Fisch verfolgend. Eine Möwe, einen Kormoran. Mit Glück auch mal die Atemfontänen von Walen. Und deren gewaltige Heckflossen. Die See lebt. Und die See zu beobachten kann faszinierend sein.

Manchmal steht man auch nur da, um im Fahrtwind einfach die Augen zuzumachen. Bilder zu verfolgen, die aus Erinnerung entstehen. Bilder aus Wunschvorstellung oder Fantasie. Vorn oben im Fahrtwind an der Reling, mit geschlossenen Augen, das ist eins der privatesten Gefühle. Das geht nur ganz allein oder mit einem gleichgesinnten Geist.

Unser Doc, unser Schiffsarzt, hatte zwar keine Sprechstunde mehr, wollte aber doch noch ein bisschen nachdenken. Und über sein Nachdenken reden. Nicht mit einem seiner Kunden, nicht über seine oder deren Leiden, sondern mit mir als seinem Nichtpatienten. Wir zwei allein da vorne an der Reling. »Sie eröffnen zu riskant«, sagte der Doktor. »Wenn Sie schon den Damenbauern ziehen, dann muss der Königsspringer folgen.« »Ich hab' noch nie ein Schachbuch gelesen«, sagte ich, »ich denke mir das alles selber aus.« »Dafür ist es dann doch nicht so schlecht«, meinte er, und ich sagte: »Spassiva, Doktor Kasparow!«

»Und Sie? Was machen Sie beruflich?«, neugierte der Doktor so ein bisschen. »Momentan bin ich Hellseher. Weil ich meine Sonnenbrille vergessen habe.« »Witzbold.« »Pardon, Doktor, im Ernst bin ich was Ahnliches wie Sie. Sie verschreiben, und ich beschreibe. Sie überweisen, und ich unterweise.« »Wen?« »Schauspielerinnen, Schauspieler, Sprecher, Sprecherinnen, Vorstände, Direktoren - na, alle, die sprechen können müssten und deshalb sprechen können wollen.« »Sprechlehrer?« »Sie haben es. Unter anderem an der Freien Schauspielschule Hamburg.«

»Spreche ich korrekt?« »Sie sprechen astrein, noch.« »Wie meinen Sie das?« »Ich habe noch keinen Schiffsarzt ohne Giftschrank gesehen.« »Woher kennen Sie meine stille Bar im Hospital?« »Aus einer Vorahnung heraus. Ich sagte doch: Ich bin Hellseher.« »Ich muss noch eine Dialyse beenden.« »Und ich will das Programm sehen.« »Die Tanztruppe von der Newa?« »Genau die.« »Treffen wir uns danach im Hospital?« »Ja, aber ohne Schlips und Kragen. Und ohne Uniform, dottore!«

Das Proben hatte sich gelohnt. Die fünf tobten über die Bühne, dass es manche Leute von den Sitzen riss. Das Publikum war hingerissen. Ein tolles Programm aus vielen Stilen, vielen Rhythmen, vielen Tänzen. Als sie sich verbeugten, sah ich, dass alle drei Tänzerinnen ihre schwarze Perle trugen, an kurzen Kettchen am langen Hals. Ich sah, dass Nastja mich gesehen hatte. Der Bruchteil einer Sekunde reichte. Unsere Blicke berührten sich so schnell wie Florettklingen beim Fechten. Wie der elektrische Kontakt beim Treffer auf der Planche.

Während des Beifalls stand ich auf und ging – in die Toilette ein Deck höher. Absichtlich irrtümlich in die Damentoilette. »Oh, Sie haben sich in der Tür geirrt«, sagte die Barpianistin, die mir »zufällig« gefolgt war und mich beim Händewaschen »überraschte«. Na also, dachte ich und murmelte: »'schuldigung.« Sie war die, die jede Nacht bei Joe in der Bar Lord Nelson spielte. Sie hieß Valentina, aber alle nannten sie Valja. Keine Ahnung, wie sie wirklich hieß.

Der Doktor wartete schon im Hospital. »Alles klar?« »Ja, alles klar. Funktioniert sehr gut, unsere kleine Dialyse-Station. Sieben Patienten hab' ich da, alle sind gut drauf.« Der Brandy aus seinem Giftschrank kam mir jetzt gerade richtig. Lepanto! Ich erzählte ihm meine spontane Erinnerung: »Bei einer meiner letzten Reisen hatten wir in Cadiz angelegt, waren in >meinem< Ausflugsbus von dort zuerst zum großen Gestüt der Karthäuser-Pferde gefahren. Einmalig dort die Show. Sie haben über hundert sehr niedliche Fohlen in einer großen Manege. Dann, auf einen Pfiff hin, lassen sie 500 Meter entfernt die Stuten von der Weide. Die galoppieren los und stürmen im rasenden Pulk in einer Wolke von aufgewirbeltem Staub in die Manege. Im wilden Pferdegetümmel dauert es keine zwei Minuten, bis jedes Fohlen die eigene Mutter gefunden hat. Unglaublicher Instinkt!«

»Und was haben die Gäule nun mit meinem Brandy zu tun?«, stoppte der Doc meinen Redefluss. »Na, nach dieser Pferdeshow sind wir alle Mann nach Jerez zu Lepanto gefahren. Brandy vom Feinsten. Im Weinkeller dort tief unter der Erde haben viele Promis aus aller Welt ihr eigenes Fass liegen. Gekennzeichnet mit weißer Pinselschrift auf dunkler Eiche. Dort lagern sie ihren Pivatbrandy, die Großen dieser Welt. Picasso hat rechtzeitig ausgetrunken. Hemingways Fass hegt da immer noch, etwa viertelvoll. Liz Taylor hat ihres gewiss vergessen. Manchem hat die flüssige Sonne aus dem Süden Spaniens erst das Leben vergoldet und dann den Tod erleichtert. Oder umgekehrt.«

»Gute Idee«, meinte der Doktor, »wenn ich mal prominent bin, lagere ich dort auch mein eigenes Fass, lasse mir alle halbe Jahr ein paar Flaschen abfüllen und lade dich dann ein! Auf meine Elbterrasse nach Blankenese.« Ja, ja, so wirkt guter Brandy. Auf einmal

 

sagte der förmliche Herr Doktor du zu mir. Brandy räumt eben auf. Mit Förmlichkeit und Vorurteil. Da ging die Tür auf, und Anna kam herein. Seine Arzthelferin. Von den Passagieren »Schwester Anna« genannt. Die Matrosen sagten »Karbolmäuschen«, ohne Rücksicht auf emanzipierten Zeitgeist. »Hallo, Anna!«, sagte ich. Sie gab mir die Hand. »Sind Sie das?«, antwortete sie. »Wer?« »Na, der Versteher.« »Sie meint«, erklärte der Doc, »unser Mädchenversteher.« Ich verstand sie beide nicht und runzelte die Stirn. – »Du hast doch unser Sorgenkind – sagen wir mal – wieder fröhlich gemacht. Unsere Nastja. Unsere schöne Stimme, emm, ich meine: Stumme.«

»Psst!«, legte ich meinen Zeigefinger auf die Lippen, »nicht so laut, und keine große Glocke bitte. Auch keine kleine. Es gibt doch auch hier an Bord – wie sagen die Russen? – es gibt Strukturen ...« »Wir wissen das«, meinte der Doc, »wir Mediziner reden nicht. Schon gar nicht über diese – du weißt schon – über diese Strukturen.« Dabei machte er mit der flachen Hand ein Zeichen, als schnitte er durch seinen Hals. Dazu muss man wissen, dass die Russen ihre Mafia mit dem Ausdruck »Strukturen« gern umschreiben.

»Nastja ist meine Patientin. Sie wäre an dieser miesen Tat wirklich fast zerbrochen. Du hast sie wieder aufgerichtet, hast sie wieder ins Leben zurückgelächelt. Wir finden das ...« »Lassen wir das«, unterbrach ich ihn, »ich wünschte nur, ich könnte sie besser schützen.« »Das kann keiner«, hob der Doc sein Glas und trank ohne Lächeln auf die Wirklichkeit. Der Mann denkt nicht in Schnörkeln, der redet geradeaus, gut so, dachte ich für mich.

»Anna«, fragte ich, »wir gehen nach oben, Deck 8 ganz nach vorne, an die Reling, kommst du mit?« »Danke, nein, aber ich bringe Ihnen ab und zu flüssigen Nachschub, wenn Sie wollen.« »Gern«, sagte der Doc. Wir stiegen hinauf in die sternenklare Südseenacht. Der Bug teilte rauschend die See, die bei jeder Welle kurz weiß aufschäumte und dann gleich wieder in ihr tiefes Schwarz versank. Unter uns die Brücke, beiderseits der nach hinten abgedeckte Schein der Positionslaternen. Eine ruhige Nacht hier oben. Eine Weile schwiegen wir gemeinsam in die Ferne. Dünne Wolken unter den Sternen. Nur ab und zu blitzte einer hindurch. Dann leise Turnschuhschritte. Anna kam mit der Flasche und mit Plastikbechern aus dem Hospital.

»Denkst du an Nastja?«, fragte Anna unvermittelt. Sie hatte du gesagt. »Ja.« »Tut sie dir leid?« »Ich gebe ihr nicht aus Mitleid Wärme.« »Sondern?« »Aus ... aus ...« »Aus Liebe? Also mehr als Testosteron?«, fragte die Krankenschwester. Ich musste lächeln. Anna lächelte zurück, machte einen Knicks und ging. Nach langen Minuten ungestörten Meeresrauschens fragte ich den Doc, der sich mit beiden Unterarmen auf die Reling stützte: »Wo kommst du her?« »Backbord vom Süllberg.« »Also Blankenese? – Gute Klientel. Ganze Reihe Privatpatienten, sicher«, mutmaßte ich in die laue Nacht hinein. »Ja, Orthopäde.« »Durch kranke Knochen reicher Knochen?« »Ach, was heißt schon reich? Okay, mir geht es gut. Trotzdem fahre ich zwischendurch gern mal ein paar Wochen als Schiffsarzt, macht mir Spaß.« »Wenn du das regeln kannst. Ich meine Praxis, Belegbetten, Sprechzeiten und so.« »Ich habe eine Urlaubsvertretung, einen guten Mann, wir kriegen das gut geregelt.« Wir tranken in die Nacht. Bordeaux aus Plastikbechern. Und Salzstangen hatte Anna gebracht.

»Was ist denn so deine Haupteinnahmequelle? Knie, Hüften, Wirbelsäulen?« »Hüftgelenke gehen gut, werden immer wieder gern genommen«, ging er auf meinen Tonfall ein. »Aber am besten verdiene ich an Knieoperationen. Jeder zweite besteht heute auf neuen Knien.« »Mode-Operationen?« »Nee, aber früher liefen die Leute mehr und fuhren weniger. Die Knie waren in Bewegung. Heute haben Knie ein immer kürzeres Verfallsdatum. Kaum zwickt es hier und da ein bisschen, müssen neue Kniegelenke her. Früher haben sich die Beschwerden häufig wieder eingependelt. Muskeltraining, Massagen, ein bisschen Durchhaltevermögen, dann ging es wieder. Heute? Doktor, Doktor, ich brauche neue Knie! Frau Lehmann hat doch auch schon welche. Frau von Weidenfels doch auch. Und auch Herr Liebermann da oben von der Elbchaussee!«

»Na, ihr macht das aber auch sehr gerne. Arthroskopie, bedenkliche Stirnfalten, OP. Irgendwie muss die Station ja auch auf ihre Kosten kommen?« – Er wollte so ein bisschen böse werden, schaffte es aber nicht mehr ganz. Weil der Bordeaux sich jetzt mit dem Brandy vermischte, da unten gleich hinter dem Magenpförtner. »Du elender Zyniker, ich bin Ha ... Heiler, kein Berechner!« »Na gut, du Heiler, wie viele OPs im orthopädischen Bereich sind denn wirklich unumgänglich?« Anna kam wieder wie ein guter Geist in dunkler Nacht. »Bordeaux Grand Cru 2005«, sagte sie und schenkte nach. »Lieb von dir«, sagte ich. »Danke, M ... Maus«, sagte der Doc, der sich schon bald mit beiden Händen an der Reling festhalten musste.

»S-s-soll ich dir mal was gestehen? Was ich mir auch so ma ... manchmal denke? Mehr als die Hälfte dieser Knie-OPs sind überflüssig. R-r-rausgeschmissenes Geld. Aber psst, ich darf mir ja nicht s ... selber in den Hintern treten. W-weißt du, was ich selber mache, wenn mir die Knie schmerzen? Und w-was ich Freunden rate, die solche Maleschen haben? Legt euch ein kleines dünnes Kissen nachts zwischen die Knie. Das wirkt Wunder. Kissen zwischen – passt.« Dann ging der Doc ab von unserer windigen Bugbühne und verschwand im Dunkeln wie ein Bugschauspieler nach dem letzten Akt. 

hr
Foto: Delius Klasing, Bielefeld

Ein sehr amüsantes Kaleidoskop besonderer Begegnungen

an Bord.

 

Herbert Fricke

Gespräche an der Reling
Auf allen Schiffen dieser Welt ist die Reling der beste und beliebteste Treff für einen Gedankenaustausch, für alte Vorurteile und neue Einsichten, für flache und tiefere Gespräche, mal ernst, mal heiter, mal ganz albern. Kaum an anderer Stelle hat man soviel Zeit und Muße für Meditation und Mediation, für Reflexionen und Reflexe. An der Reling gewinnt man Einsichten, hier verfliegen Gedanken in unendliche Fernen, oder man kommt sich dort sehr nah.

Auf seinen vielen Seereisen an Bord ganz verschiedener Schiffe hat sich der Autor Herbert Fricke mit den unterschiedlichsten Menschen unterhalten: Mit Passagieren und Seeleuten, mit Kapitänen, Klugscheißern und Kapitalisten, mit Weisen oder Besserwissern, mit Frauen, Männern, Verstehern und Verständnislosen, auf jeden Fall mit einer bunten Vielfalt interessanter Menschen.

Herausgekommen ist ein sehr amüsantes Kaleidoskop besonderer Begegnungen an Bord. Das Buch hat keine feste Handlung und gerade das macht es so spannend. Es verrät, dass der Autor Kreuzfahrten als schönste aller Reisemöglichkeiten empfindet, aber er stellt seine Gesprächspartner und ihre Ansichten, auch seine eigenen, ironisch immer wieder neu in Frage. Ganz nebenbei gewinnt man äußerst interessante Einblicke in Häfen und Länder und fremde Gestade.

Erschienen im Delius Klasing Verlag, Bielefeld (ISBN 3-7688-1853-5 / ISBN 978-3-7688-1853-7). 158 Seiten, gebunden, Format 18,6 x 12,8 cm, 12,90 €.

Amazon/Gespräche oder Redaktion@SeereisenMagazin.de

hr
Foto: Delius Klasing, Bielefeld Es sind bittere und
süße, verzweifelte
oder glückliche
Geständnisse, die
Herbert Fricke hier
aufgeschrieben hat.

Herbert Fricke

Geständnisse an der Reling
Die Weite des Meeres, die entspannte Atmosphäre an Bord, die Besinnung auf das eigene Leben – all das macht Menschen auf See offener und gesprächsbereiter als die Alltagsenge irgendwo zu Hause. Erst recht an der Reling, wo einem die Seeluft um die Nase weht, wo man allein ist mit sich, seinen Gedanken und einem fremden Gegenüber. Und so kommt es oft zu überraschenden Geständnissen, zu denen es anderswo nicht kommen würde.
Es sind bittere und süße, verzweifelte oder glückliche Geständnisse, die Herbert Fricke auf seinen vielen Kreuzfahrten rund um den Globus erfahren hat. Wie bitter zum Beispiel das Geständnis einer stumm gemachten jungen Frau, die es wagte, sich gegen eine übermächtige Mafia zu stellen. Oder die Geschichte eines sehr alten Mannes, der nach fast 70 Jahren das Trauma seines eigenen Versagens eingesteht. Wie bittersüß das Schwangerschafts-Geständnis der jungen Zahlmeisterin, die sich während einer Kutschfahrt auf der Krim verliebte ... Niemand, so scheint es, kann ein Leben lang ein aufwühlendes oder beglückendes Geheimnis in seinem Innersten bewahren, ohne es irgendwann mit irgendwem zu teilen. Am liebsten an der Reling.

Erschienen im Delius Klasing Verlag, Bielefeld (ISBN-10: 3768826325 / ISBN-13: 978-3768826327). 192 Seiten, gebunden, Format 18,6 x 12,8 cm, 12,90 €.

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Seemann und Journalist

Der Hamburger Herbert Fricke ist jahrelang zur See gefahren, auf Frachtern und Passagierschiffen rund um den Globus, bevor er von der Nautik zum Journalismus wechselte. Zunächst als Zeitungsreporter und Fotograf, später als Rundfunkreporter und Moderator hat er von den Brennpunkten der Welt berichtet, für Sender der ARD, vor allem für NDR, Deutschlandfunk und Deutsche Welle. Dabei hat er seine maritime Kompetenz auch journalistisch genutzt. Vor allem in seinen Reportagen von Bord des Hospitalschiffes HELGOLAND in Vietnam, des Rettungsschiffes CAP ANAMUR im Südchinesischen Meer, des Expeditionsschiffes METEOR im Indischen Ozean, des einzigen atomgetriebenen Frachters unter deutscher Flagge, der OTTO HAHN, oder von Bord der im großen Bittersee eingeschlossenen Frachter MÜNSTERLAND und NORDWIND.

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