ABENTEUER NORDPOL | AUSGABE 5/2012 | ||||||
Der 2006 in Dienst gestellte Nuklear-Eisbrecher 50 YEARS OF VICTORY ist der größte Nuklear-Eisbrecher der Welt. |
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Dröhnend schlingert die Aeroflot-Maschine über das kieferngrüne Taiga-Meer. Kaum zu glauben: unter uns die Halbinsel Kola – geheimnisumwittert, fast noch terra incognita. 51 Arktisfans aus acht Nationen haben den robusten AN-24-Flieger im nordfinnischen Rovaniemi am Polarkreis bestiegen. Jugendträume sind es: von Schnee-, Eis- und Forscher-Abenteuern, die sie Ende Juli hierher gelockt haben. Dutzende der über 180.000 silbrig glänzenden Seen-Spiegel dieser eiszeitlich überformten Felsregion, geographisch dem „Fernen Norden” Russlands zugeordnet, blinken zu uns herauf; synchron dazu spuken die medienbekannten Kola-Klischees durch die Köpfe: vom hermetisch abgeriegelten Stützpunkt der „Severny Flot” (Nordmeer-Flotte), riesigen Atom-U-Booten, Sperrgebieten, Verboten überhaupt ... Fotos auf dem Flugfeld, eine fast schon laxe Zollkontrolle lassen erste Zweifel daran aufkommen. Noch beträgt unsere geographische Breite 68°N bei + 10°C Lufttemperatur. „Bei uns herrscht zehn Monate Winter”, meint Reiseleiterin Galina, „und zwei Monate warten wir auf den Sommer”.
Am frühen Nachmittag steckt 50 LET POBEDY
oder Englisch-international 50 YEARS
OF VICTORY
ihre bullige Stahl-Nase in die selten so bleiern daliegende Barentssee. Kurs
50 Grad ist abgesteckt. 75.000 PS, übertragen auf drei Schrauben (5 Meter
Durchmesser und 42 Tonnen Gewicht), schieben den Koloss mit 21 Knoten nach
Nordosten. Die Murman-Küste verliert sich achteraus im Mittagsdunst. Wir werden, so ist zu erfahren, ungefähr der
historischen Route von Fridtjof Nansen folgen, die er mit seiner im Eis
driftenden FRAM zwischen 1893 und 1896
Richtung Pol eingeschlagen hatte. Angestoßen wird auf einen glücklichen Reiseverlauf.
Der Kalte Krieg, betont der Kapitän,
gelte nur noch dem Eis. „Den Russen gehört der Nordpol, uns der Südpol”,
stellt er schmunzelnd fest. Er verweist auch auf Zukunftsprojekte wie eine
Schifffahrtsroute Sibirien-Alaska via Nordpol; oder die verstärkte Nutzung
des Sibirischen Seeweges, auf dem wir ein Stück entlang dampfen, für
westliche Fracht- und Forschungsschiffe unter der Assistenz russischer
Großeisbrecher.
Bei höllischem Lärm – durch Kopfhörer leidlich schallgedämpft – der Rotoren des einen von zwei bordeigenen Mi 2-Hubschraubern, erklärt mir Eisbeobachter Nikolay die verschiedenen Eisformen, woran er sie erkennt und die Methoden der Beobachtung. Dennoch erleben wir es, dass 50 LET POBEDY, trotz ihrer Kraft, 30-Zentimeter-Stahlarmierung und elf Metern Tiefgang nicht glatt durchkommt. Dann wird zurückgesetzt und im Voll-voraus-Anlauf Rammfahrt probiert. Während wir mit dem Hubschrauber auf dem Eis gelandet sind und die Eisdecke per Maßband manuell gemessen wird (vier Meter), können wir das Schiff bei einem derartigen Gewalt-Manöver beobachten.
Mit geballten 75.000 PS wirft es sich einem schneebedeckten
Zehn-Meter-Presseisrücken entgegen. Ein Donnern und Krachen, über 20 Meter
hohe Eis- und Wasserfontänen werden geschossartig am Steven in die Luft
geschleudert. Das Schiff bäumt sich auf, rollt nach beiden Seiten und drückt
mit ihrer 23.000-Tonnen-Masse den hinderlichen Eisrücken zu Brei. Unter
schneidendem Zischen tritt Pressluft unter der Wasserlinie aus
(„air-bubble-system”), drückt das Eis vom
Rumpf weg und reduziert so die gewaltige Reibungsenergie. Staunend stehen
wir vor diesem arktischen Kraftakt und heben erst wieder ab, als der
gewaltige Eisbrecher bedrohlich auf uns zu hält.
Am 5. August (80°N, 97°E)
kommen vor der Küste von Ostrov Komsomolskaja, der nördlichen Insel,
majestätische Tafeleisberge in Sicht, die das gleißende Sonntags-Sonnenlicht
reflektieren. Kap Arkticheskij, der nördlichste Inselpunkt mit
einer Forschungsstation auf der Severnaja-Zemlja-Gruppe, fällt jedoch
(buchstäblich!) ins Wasser: Die Hubschrauberpiloten weigern sich, die
weitgeschwungene eisfreie Bucht zu überfliegen, da die Maschinen für
Wasserungen nicht ausgerüstet sind. Wie es der Zufall will: Kurze Zeit
später streikt bei einem der Helis eine Turbine und er muss in dichtem Nebel
auf einer Scholle notlanden. Zum Glück in Sichtweite der 50 LED
POBEDY. Nicht auszudenken, wäre dieses
Malheur über dem Wasser passiert. Die sehr großen Flächen offener
Seegebiete, russisch Polynia genannt, reißen Wind und Strömungen in die
Eisdecke. In der Nacht die Meldung von der Brücke: 85°N
soeben erreicht. Jeder nächsthöhere Breitengrad ist ab jetzt das
Bordereignis, und alles fiebert den magischen Punkt 90°N
entgegen.
Auf der Seekarte, der wohl seltsamsten der Welt, sind nur noch konzentrische Breitenkreise zu sehen. Unbeirrt poltert 50 LET POBEDY durch die drei bis fünf Meter dicke polare Festeisdecke. 60 bis 70 „Schaulustige” drängeln sich zeitweilig auf der |
Brücke. Die Kameras schussbereit, starren sie wie
gebannt auf den Navigationscomputer. Der Zweite Offizier Andrej, heute ganz
„offiziell” mit Schirmmütze, ruft laufend
die Position aus und markiert sie in der Seekarte. An diesem 8. August, um 13:00 Uhr, 2.433 Seemeilen
von Murmansk, zeigt der Bildschirm den Punkt satellitengenau an: 90°00‘N. Das ist der Beweis! Jubel, Umarmungen, Bruderküsse,
vielsprachige Gratulationen, Sektkorken knallen, Gläser klirren,
„Nastarowje!”-Rufe. The „top of the world”,
der geographische „Gipfel der Welt”, liegt
bei 4.000 Metern Wassertiefe unter unserem Kiel. Das Typhon verkündet das
minutenlang. Spontane Gefühlsäußerungen von „Wunderbar!”
bis „Ein alter Traum von mir, habe ich mir schon immer gewünscht!”,
reicht die mehrsprachige Skala. Die Brücke heizt sich auf bei so viel
menschlicher Wärme, während draußen Nebel und Schneetreiben für eine
„festliche” Kulisse sorgen. Wir fühlen uns wie Pioniere, sicher anders als
Robert E. Peary, der als Erster am 6. April 1909 den Nordpol (per
Hundeschlitten) erreichte. Dennoch ist es auch heute ein (exklusives)
Abenteuer, bei dem die Natur immer noch das Programm macht. Trotz aller
Technik.
Im Gegensatz dazu das von den Menschen für diesen historischen Tag
vorgesehene Programm. Als Höhepunkt dieser Reise soll es auf dem „Festplatz”,
einer halbwegs ebenen Eisfläche an Steuerbordseite, abrollen. Zeit spielt
keine Rolle, denn Tag und Nacht sind eins. Die Sonne dreht sich, ohne auf-
oder unterzugehen, über uns auf einer gleichförmigen Kreisbahn. Auch die
Datumsgrenze kommt hier auf den Punkt, was allerdings keine kalendarischen
Folgen für uns hat. Hier kann man zeitlos glücklich sein. Ein paar äußerst Mutige tauchen zunächst einmal
unter großem Gejohle der dick vermummten Zuschauer ab: nackt ins 0°C
kalte und über vier Kilometer tiefe Eiswasser. So rot und blitzartig, wie
sie wieder herausstürzen, so frostig ist es gewesen. Da hilft auch kein
Wodka, sondern nur noch das russische Dampfbad. Matrosen räumen auf dem Festplatz den Schnee beiseite, richten zwei Flaggenmasten auf, schleppen Rednerpult und Grillgerät aufs Eis. Die Nordpolfahrer versammeln sich unter den friedlich flatternden Fahnen Russlands, USA, Finnlands, Deutschlands, Frankreichs, Kanadas, Arabiens, der Schweiz und Australiens. Signalmunition zaubert Silvester-Stimmung in den
Himmel. Neun Nationalhymnen lassen uns zu Eissäulen gefrieren, dann die
Festreden: vom Kapitän und dem Reederei-Vizepräsidenten. Noch einmal
Glückwünsche, Lob und Werbung für die Leistungsfähigkeit der russischen
Flotte – bis es reicht.
Ausgelassen tanzen wir im Kreis einmal um die Erde:
in der Rekordzeit von zwei Minuten haben wir es geschafft. „Wenn man sich
vorstellt, was da tief unter uns alles so passiert ...”,
sinniert Mitfahrer Andreas vor sich hin und reiht sich in den Kreis der
Tanzenden ein. Denis, unserem Junior, überreicht der Kapitän den meterlangen
vergoldeten „Schlüssel zum Nordpol”. Uns
werden Urkunden überreicht. Dr. Ibrahim aus Saudi-Arabien hat allerdings ein
Problem: als gläubiger Moslem möchte er seinen Teppich ausrollen und gen
Mekka beten, doch am Nordpol gibt es nur eine Himmelsrichtung: Süden. Sein
religiöses Pflichtgefühl obsiegt. Als erster Araber ist er nicht nur am
Südpol gewesen, sondern jetzt auch am Nordpol. Mit ein paar Schlucken Süßwasser bester Qualität aus
einem türkisfarbenen Süßwassertümpel, die überall auf dem Eis aus Schnee
schmelzen, erfrischen wir uns. Manche nehmen eine Kanne voll mit an Bord.
Letztes Zeremoniell auf der Back: ein Stahlzylinder mit den Passagiers- und
Besatzungslisten wird im Wasser versenkt. Gegen 1:00 Uhr befreit sich 50 LET POBEDY mit Pressluft rumpelnd aus der Treibeisumklammerung, um den Kurs auf Franz-Joseph-Land einzuschlagen. Nach mehreren Versuchen kommt ein Funkgespräch mit dem deutschen Forschungseisbrecher POLARSTERN zustande, der bei Spitzbergen auf 78°N, also „weit unter” uns, operiert: Glückwünsche und Erfahrungsaustausch.
NS (Nuclear Ship) 50 LET
POBEDY; Bauwerft: Baltische Werft
Leningrad; Indienststellung: 2006; Verdrängung: 25.000 tdw (größter
Nuklear-Eisbrecher der Welt); Länge: 159 Meter; Breite: 30 Meter; Tiefgang
(maximal): 11 Meter; Maschine: turboelektrisch, Kernreaktor, Dampfturbinen;
Leistung: 55.162 kW / 75.000 PS; Geschwindigkeit: (maximal): 21 kn;
Propeller: 3; Klasse: Arctica; Crew: 140; Passagiere (maximal): 128; Eigner:
Poseidon Arctic Voyages,
Murmansk, Russische Föderation; Reederei: ROSAtomflot; Heimathafen:
Murmansk; Flagge: Russland. Erstmalig in der Weltgeschichte fuhr NS ROSSIJA
mit westlichen Passagieren als Expeditions-Kreuzfahrtschiff 1990 zum
Nordpol. 1895 startete übrigens der Wismarer Kapitän Wilhelm Bade die erste Kreuzfahrt in die Polarregion mit dem Dampfer DANZIG, der auch schon bei der Eröffnungs-Parade des Nord-Ostsee-Kanals dabei war. Buchungen: www.polar-reisen.ch |
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Vom 18. Juli bis 2. August dauerte die Expedition 2012 mit dem Nuklear-Eisbrecher 50 YEARS OF VICTORY. |
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Dieses Eis ist auch für den NE 50 YEARS OF VICTORY etwas zu mächtig. |
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NE 50 YEARS OF VICTORY hat den Nordpol erreicht ... |
... satellitengenau an: 90°00’N. |
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Die Passagiere bilden einen Polar-Zirkel um den Nordpol herum. |
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Heiner und Rosamaria Kubny „hissen” die PolarNEWS-Flagge am Nordpol. |
Der Mi 8 Helikopter Poseidon steht für Rundflüge zur Verfügung. |
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Mächtiger Eisbruch schiebt sich seitlich an der Bordwand vorbei. |
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Die Karte zeigt die arktische Eisbedeckung. |
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Geschlossenes Eis auch zwischen den Inseln des Franz-Joseph-Landes. |
Rätselhafte Steinkugel auf der Champ-Insel, Franz-Josef-Land. |
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Felseninsel auf Franz-Josef-Land. |
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Der Nuklear-Eisbrecher 50 YEARS
OF VICTORY vor der
Inselgruppe Franz-Joseph-Land.
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