Der Vogelspezialist unter den Tourguides ist wie immer leicht zu erkennen:
Das ist derjenige, der seinen Feldstecher permanent umgehängt hat, auch
während des Essens. Der Verdacht liegt sogar nahe, dass er ihn auch zum
Schlafen nicht weglegt. Unser „Vögeler”
heisst Steve (man duzt sich auf dem Schiff), kommt aus Kalifornien, war
früher Museumsdirektor und ist – logisch – der beste Beobachter an Bord.
Er ist es, der im Gewusel in der Golden Bay auf South Georgia als Erster
einen Königspinguin mit einem gänzlich schwarzen Bauch entdeckt (eine
Sensation) und nur Minuten später eine Krabbenfresserrobbe (eine kleine
Sensation). „Diese Robbenart kommt
eigentlich nur auf der Antarktischen Halbinsel vor”,
erklärt Steve jedem, der vorbeikommt, „sie
ist über tausend Kilometer bis hierher geschwommen und ruht sich jetzt aus.
Also bitte nicht stören.
„Schauen, grenzenlos staunen und natürlich
fotografieren ist allerdings mehr als erlaubt; deswegen sind wir
schliesslich hier. Wir, das sind 88 Passagiere buchstäblich aus aller Welt,
die in Ushuaia an Bord des Motorschiffs PLANCIUS
gehen. 19 Tage lang wird die Reise vom südlichen Zipfel Südamerikas zu den
Falkland-Inseln, nach South Georgia und zur Antarktischen Halbinsel führen.
Fast drei Wochen Natur und Abenteuer. In dieser Zeit wird die kunterbunt
zusammengewürfelte Gruppe von Passagieren zu einer eingeschworenen
Gemeinschaft von Südpolar-Reisenden zusammenwachsen.
Heute aber, am ersten Tag auf Schiff, prägt sich mir von den vielen neuen
Menschen wegen seines Feldstechers nur Steve ein. Und die Frau mit dem Tee.
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Die adrette Dame mit pflegeleichtem Kurzhaarschnitt steht vor der
Kaffeemaschine in der Aussichtslounge auf Deck fünf und stellt mit sich
selber redend fest, dass sie vergessen hat, ihren Tee mitzunehmen.
„You must be english”, sage ich
spontan zu ihr, und „Earl Gray
...” Sie bejaht beides und stellt sich als Fay vor, sie kommt aus
London, ist Personalberaterin und very freundlich. Als ich ihr am Abend zum
Trost für den fehlenden Tee eine Tafel Schweizer Schokolade in die Hand
drücke, freut sie sich zwar, sagt aber, dass sie ihre Teebeutel lediglich in
der Schiffskabine vergessen hatte, nicht zu Hause in London. Ist ja
eigentlich logisch, dass Engländer ihren Tee mit auf Reisen nehmen – ich
selber habe ja auch ein ganzes Kilo echte swiss Chocolate im Koffer.
Über die Schoggi freut sich übrigens auch Fays Begleiter: Rob ist
schweigsam. Eine Art Silent Rob. Fay und Rob sitzen stundenlang in der
Lounge nebeneinander und vertiefen sich in trauter Schweigsamkeit in Bücher
– sowas muss man können. Erst Tage später wird mir Rob erzählen, dass er für
die Walschutzorganisation Whale and Dolphin Conservation Society arbeitet
und als Tierfotograf internationales Renommee geniesst.
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Vorerst aber bin ich viel zu aufgeregt, um mich mit all den neuen Leuten
anzufreunden: Es tut so gut, wieder auf einem Schiffzu sein, wieder
unterwegs zu sein zu Horizonten, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Diesem
Drang, Neues zu entdecken, endlich nachgeben zu können. Immer wieder stehe
ich im Bugkorb und schaue aufs endlose Wasser hinaus. Igor, mein Freund von
der Kola-Reise letztes Jahr, russischbelgischer Rallye-Fahrer, ist ebenfalls
an Bord, auch ihn treibt die Entdeckerlust.
Manchmal schauen wir schweigend den Sturmvögeln zu, die unser Schiff
begleiten, und sind einfach nur glücklich. „Tu
sais”, sagt Igor dann,
„c’est ça: la nature”. Ich
verstehe. Jeder und jede hier an Bord hat seine Gründe, warum er oder sie
durch diese südpolare Gegend reist. Bea aus Barcelona will demnächst ihre
eigene Reiseagentur eröffnen. Fritz aus Zürich will fotografieren. Jasmine
aus Kentucky bekam die Reise von ihrem Mann geschenkt, ihre Freundin Terry
begleitet sie. Karl aus Zürich hat sich diesen Trip zu seinem 50. Geburtstag
gleich selber geschenkt. Seine Partnerin Anita ist ganz aus dem Häuschen,
als am 14. Februar abends im Schiffsrestaurant die Lichter ausgehen und alle
Passagiere samt der philippinischen Serviercrew für Karl
„Happy Birthday” singen. Helga und
Ernst aus Basel waren schon in Grönland, dort hat sie das Kältevirus
gepackt, jetzt erkunden sie zusammen mit ihrer Tochter Regula auch den
Süden.
Femke aus Holland arbeitet bei der Reederei, der das Schiff gehört. Sie ist
quasi halbgeschäftlich hier. Man trifft sie nach dem Essen immer in der
windgeschützten „Raucherecke”
auf Deck drei. Dort erzählt sie, dass die komplett überholte PLANCIUS
extrem gut im Wasser liegt – „unser bestes
Schiff zurzeit”. Ach ja: Und da sitzt noch
dieses englische Senioren-Paar rum, das zu jeder Tages- und Nachtzeit very
british in den gewagtesten Farbkombinationen gekleidet ist und die ersten
zwei Wochen nie von Bord geht. Sie hätten, erzählt der Herr jedem, der es
hören will, die falsche Reise gebucht, und jetzt ärgere er sich: South
Georgia sei ein unnötiger Umweg, und Pinguine seien grundsätzlich nutzlos
und stinken. Er wolle nur den Kontinent Antarktis sehen. Aha. Wie kann man
bloss eine so teure Reise falsch buchen?
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Ausser diesem Paar, mit dem ich drei Wochen lang kein Wort wechsle, wollen
alle vor allem das eine: Pinguine sehen. Und die kriegt man unterwegs
zuhauf! Esels-, Zügel, Felsen- und vor allem Königspinguine – 500.000 von
ihnen alleine in der St Andrews Bay. Ausserdem Seeleoparden, Pelzrobben,
Weddell- und Krabbenfresserrobben und natürlich all die Vögel: Wander- und
Schwarzbrauenalbatrosse, Riesensturmvögel und die kleinen, überaus wendigen,
schönen Kapsturmvögel, die bei starkem Wind wie Formel-1-Piloten zwischen
den Wellen navigieren. Es soll sogar, erklärt Bord-Ornithologe Steve,
Vogelfreunde geben, die nur deshalb so eine Reise buchen, weil sie einen
bestimmten Vogel einmal in ihrem Leben in der freien Natur sehen wollen.
Wenn das nicht exzentrisch ist ...
Stundenlang können wir schauen und staunen, geniessen und fotografieren. Und
noch Stunden nach jedem Landgang sind alle ganz aufgelöst vor Begeisterung.
Dieses Hochgefühl verbindet, man kommt sich mühelos näher, wir werden alle
nach und nach zu einer grossen Komplizenschaft. Mehr noch: Je länger die
Reise dauert, umso eindeutiger beginnen manche Passagiere, den Tieren zu
ähneln. Rosamaria aus Zürich nickt bei Tisch wie ein Königspinguin fröhlich
vor sich hin. Wer den Übernamen Walross kriegt, obwohl es in der Antarktis
keine Walrösser gibt, sei hier der Diskretion halber verschwiegen ... Eine
Frau aus Deutschland (auch hier verschweigt der Gentleman ihren Namen)
kriegt den Übernamen Albatros, weil sie einen Riesensturmvogel gegen jede
Belehrung ihres Mannes als Albatros bezeichnet („
... doch, das ist ein Albatros, und den fotografier ich jetzt!”).
Nur der hagere bärtige Spanier am Nebentisch kriegt keinen Tier-Übernamen:
Der sieht aus wie Don Quijote.
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Doch trotz aller gemeinschaftlichen Glückseligkeit an Bord der
PLANCIUS: im Gold Harbour
schnauzt ein Holländer sehr unfreundlich eine Deutsche an, die ihm
unachtsamerweise vor die Kameralinse läuft, als er gerade ein Foto machen
will. Wo man doch bei so vielen Pinguinen unendlich viele gute Fotos machen
kann (und einem beim Fotografieren sowieso dauernd Pinguine vor die Linse
watscheln). Diejenige, die ihm in den Quere kommt, ist übrigens Frau
Albatros ... Auch der Holländer fällt auf: Während eines Vortrags über das
Klima und die vielen Forschungsstationen in der Antarktis meldet er sich mit
der Frage: „Wenn das Wetter sowieso
meistens schlecht ist, warum muss man es dann studieren?”
Nach seiner unfreundlichen Attacke gegen Frau Albatros überrascht mich das
nicht mehr wirklich.
Was mich allerdings überrascht, ist, dass manche Leute Mühe haben mit
Programmwechseln. Wenn etwa wegen schlechter Wetterbedingungen eine
Anlandung
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ausfällt (so geschehen bei der Saunders-Insel auf den Falklands) oder eine
Bucht ausserplanmässig angefahren wird (wie Rosita Bay auf South Georgia).
Das erstaunt mich zum einen, weil man ja weiss, dass man in die Wildnis
reist und wir Menschen uns der Natur anzupassen haben, nicht umgekehrt. Zum
andern auch, weil gerade das den Reiz einer solchen Reise ausmacht: Dass man
sich nämlich nie darauf verlassen kann, dass das, was man vorhat, auch
tatsächlich machbar ist. Das gibt dem ganzen Trip einen Hauch von Abenteuer.
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Denn immerhin haben wir hier auf der PLANCIUS
(Geschwindigkeit: gemütliche 12 Knoten) einen ganz entscheidenden Vorteil
gegenüber denjenigen Antarktis- Reisenden, die auf grössenwahnsinnigen
2000-Passagiere-Kreuzfahrtschiffen cruisen: Unser Schiff ist klein, ja
geradezu winzig. Deshalb kann es in jeder Bucht der Antarktis vor Anker
gehen, wo Anlandungen überhaupt erlaubt sind. Oft sind wir sogar in Buchten,
in denen nur ein einziges Schiff pro Tag ankern darf und nicht mehr als
hundert Passagiere an Land gehen dürfen (Gott sei Dank ist das hier unten
alles strengstens geregelt). Das ist mit grossen Kreuzfahrtschiffen nicht
möglich.
Klar: Die Leute auf den grossen Schiffen sehen auch Pinguine – von weit weg
auf dem Aussichtsdeck ... Sie sind sicherlich auch begeistert. Aber das ist
nichts im Vergleich zu uns, die wir der Natur auf Augenhöhe begegnen
dürfen. Dafür zahlt man dann auch gerne ein bisschen mehr, weil die Kosten
für ein kleines Schiff im Vergleich zu einem grossen natürlich viel höher
sind. Unsere Crew besteht aus 49 Männern und Frauen: Die Schiffsmannschaft
inklusive Kapitän ist russisch, die Zimmer- und Service-Crew ist
philippinisch und das Tourguide-Team ist international zusammengesetzt.
Zum Liebling aller Helfer mausert sich übrigens Viktor, ein gutmütiger,
stiller Bär von einem Russen, der sein Leben lang auf See verbracht hat
und den ganzen Tag irgend etwas am Schiff schraubt, schrubbt, schweisst
und schmiert. Wenn wir an der Gangway die wackelige Treppe hinuntersteigen
und in die in den Wellen wogenden Zodiaks einsteigen, hilft Viktor dabei
jedem einzelnen und gibt so den Unsicheren Sicherheit. Ihm schenke ich
ebenfalls Schweizer Schokolade. Selbstverständlich kriegt auch
„mein” Zimmermädchen Nina viel
Schoggi ...
Apropos Zodiak: Einer aus der Gruppe, ich habe noch nie mit ihm gesprochen
und weiss nicht, woher er kommt, trägt immer dicke Fäustlinge mit
Pelzaufsatz: Wenn wir im Zodiak vom Land zurück zum Schiff fahren, sieht es
aus, als hätte er zwei junge Pelzrobben mitgenommen. Wo man doch von den
Landgängen überhaupt nichts mitnehmen darf, nicht mal einen Stein, von denen
es hier wahrlich genügend gibt. Man darf auch absolut nichts auf die Insel
mitbringen, nicht mal was zu essen, der Chef-Guide Troels hat die Männer
speziell darauf aufmerksam gemacht, dass man auch das Pinkeln an Land zu
unterlassen habe. Selbstverständlich dürfen Raucher an Land nicht
rauchen.

Immerhin ein Trost für Qualmer: Weil wir Süchtigen uns öfter draussen an
Deck aufhalten, kommen wir nachts bei wolkenfreiem Himmel in den Genuss des
Sternenhimmels, der sich hier in seiner überwältigenden Helligkeit und
Unendlichkeit zeigt. Während einer Mitternachts-Zigarette zeigt mir
Tourguide Mario (er ist Italiener und lebt in Tromsø, herrje!) das Sternbild
Kreuz des Südens, das Gegenstück zu unserem Nordstern. Das ist schlicht
ergreifend, weil es beweist, wie weit weg wir von zu Hause sind. Auch mein
Freund Igor, Nichtraucher, schaut lange in den Himmel:
„Tu sais, c’est ça: la nature”.
 Inmitten dieser Wildnis besuchen wir auch
Zivilisation: Grytviken ist eine ehemalige Walfangstation auf South
Georgia, wo in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts industriell Wale
abgeschlachtet und verkocht wurden. Es ist grauenhaft anzusehen, noch heute.
Immerhin: Auch das Grab des Polarpioniers Ernest Shackleton befindet in
Grytviken: Wie es die Tradition erfordert, trinken wir an seinem Grab einen
Wodka zu dessen Ehre.
Und in der Poststation, die sich im kleinen Museum neben der
Forschungsstation befindet, schickt Laura alle ihre Karten ab. Laura ist
eine wunderbare, weltoffene, kluge Frau: Sie wohnt in Rom (mit Blick auf das
Kolosseum), arbeitete lange als Flugbegleiterin und besass ein Haus in
Ruanda, bevor dort der Krieg ausbrach. Zu Hause in Rom hat sie mit Pinsel
und Farbe prächtige Pinguine in A5 gemalt, die Karten in die Antarktis
mitgenommen und schickt sie nun mit Grüssen beschrieben und mit Briefmarken
versehen wieder zurück nach Italien. Eine wunderschöne Idee.

Erst ein gutes Dutzend Namen und ein paar Spitznamen habe ich mir inzwischen
gemerkt, schon geht die Reise ihrem Ende entgegen. Jasmine und Terry, die
zwei Amerikanerinnen, schiessen schon Tage vor dem Ende des Abenteuers Fotos
von allen neu gewonnenen Freunden und sind den Abschiedstränen nahe
(Amerikaner haben diesen Hang zum Überschwänglichen). Igor denkt jetzt schon
über seinen nächsten Trip in die Natur nach. Karl, inzwischen 50 Jahre und
ein paar Tage alt und um sehr viele Erfahrungen reicher, kämpft sich in der
zweitägigen Überfahrt von der Antarktischen Halbinsel zurück nach Ushuaia
mit bewundernswerter Ausdauer immer noch durch das 1636-seitige Buch
„Unendlicher Spass” von David
Foster Wallace. Fay und Rob lesen ebenfalls, sie trinken dazu Tee. Fritz
ordnet seine Fotos. Er ist mehr als zufrieden mit seiner Ausbeute. Er
schreibt schon an einem detaillierten Bericht über unsere Reise: Er ist
unter
www.webfritz.ch/reisen/antarktis.html nachzulesen.
Und Alastair ist sichtlich froh, dass das Wetter wieder etwas wärmer wird:
Meist sah man ihn in Flip Flops, T-Shirt und kurzen Hosen (!!!) in der
Lounge sitzen, was ihn zum absoluten „Paradiesvogel”
unter all den Leuten in ihren dicken Pullovern machte. Der Grund für diese
sonderbare Kleidung: Alastair kommt aus London, trampt ein halbes Jahr durch
Südamerika und stieg in Ushuaia als Last-Minute-Passagier zu. Von der Zusage
der Reederei bis zum Einschiffen blieben ihm nur noch 20 Minuten Zeit, sich
warme Kleider zu kaufen ...
Bevor die große Familie in Ushuaia wieder in alle Winde zerstreut wird
(Alastair geht mit einem Surfboard an Land), starte ich eine kleine Umfrage
in der Crew. Der Doktor: (Poul Eric Pedersen, Däne, Kettenraucher)
„Ich hatte wenig zu tun: Ein Deutscher wurde von einer Pelzrobbe
gebissen, ein Schweizer kriegte einen Karabinerhaken auf den Schädel,
mehr als die Hälfte der Passagiere hat Medikamente gegen Seekrankheit
eingenommen, obwohl sie gar nicht wussten, ob sie überhaupt seekrank werden”.
Der Chef-Guide: (Troels Jacobsen, Däne, immer locker)
„Wir hatten enormes Wetterglück: Sieben Anlandungen alleine auf South
Georgia. Das war ein toller Trip mit unkomplizierten Gästen”.
Der Kapitän: (Juri Gorodnik, Russe und eigentlich ganz redselig, wenn man
ihn anspricht) Er liess sich weder bei der Begrüssung noch bei der
Verabschiedung blicken, hat aber, so versichert sein Stellvertreter, als
Kapitän einen guten Job gemacht.
Zu rückgelegte Kilometer: 6500. Jasmine: „War
es ein Fehler, so früh zu heiraten?” (Wie
gesagt: der Hang zum Überschwang.) Viktor: „I
go home to Russia. Thank you”. Igor:
„Tu sais, c’est ça: la russie”.
Zu Hause angekommen (vom letzten Ankerlichten bis zur Haustür: 3 Tage, 21
Stunden und 50 Minuten), dauert es Wochen, bis ich mich in den Alltag
eingelebt habe. Und ja: Es ist auch schön, wieder zu Hause zu sein.
PolarNEWS
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