Laut geht es hier zu, und nass. Das Donnergrollen
des niederstürzenden Wassers hört sich bedrohlich an. Mehrmals schon wehte
die Gischt des tosenden Wassers bis auf unser Plätze ins Schiff hinein. Die
kalten Wassertropfen im Gesicht wirken nicht erfrischend, sondern
unheilsschwanger. Das abströmende Wasser unter uns ist aufgewühlt.
Unaufhörlich dröhnt vor uns das weiße Wasser, das über die Felsen in die
Tiefe fällt. Nur unseren Steuermann stört das anscheinend nicht. Als sähe er
die Gefahr nicht, steuert er routiniert das Schiffchen in die Richtung des
herabstürzenden Wassers.
Unten wirkt alles bedrohlich, aber auf dem Felsen
oberhalb dieses Getöses weht stolz die schweizer Flagge. Beinahe
triumphierend sieht es aus, wie das Tuch mit weißen Kreuz auf rotem Grund
fröhlich über dieser Urgewalt weht. 150 Meter breit ist der Wasserfall, 23
Meter beträgt seine Fallhöhe. Es gibt höhere Wasserfälle in Europa, aber
keinen, über den ein so gewaltiger Fluss in die Tiefe stürzt. Dieses
Gesamtkunstwerk aus tosenden Wassermassen, trutzigen Felsen und alten
Schlössern an beiden Ufern ist ein Stück schweizer Identität.
Im Schutz des Mittelfelsens legt unser Schiffchen
direkt neben dem aufgewühlten Wasser an. Wir erklimmen die hohen Stufen
einer steilen Treppe und stehen bald auf einer Felsnadel oberhalb des
herabstürzenden Wassers. Von oben sieht es erst recht gefährlich aus, wie
sich die kleinen Schiffchen ihren Weg durch das aufgewühlte Wasser bahnen.
Unfälle mit Ausflugsschiffen habe es dennoch hier noch nie gegeben. Wenn
jemand in den Wassermassen begraben wird, dann sind es meist
Selbstmordkandidaten. Oder solche Leute, denen offenbar kein Risiko hoch
genug ist. Schon mehrfach bezwangen Extremkajakfahrer den Wasserfall.
Allerdings ist die Befahrung des Katarakts grundsätzlich verboten – egal
durch wen und egal in welchem Wasserfahrzeug. Die erfolgreichen Bezwinger
des Rheinfalls im Wildwasserkajak werden folglich anschließend von der
Schaffhausener Polizei abgeführt. Nützen tut dies offensichtlich nichts.
Paddelnde Adrenalinjunkies, die vor Europas heftigstem Wasserfall keine
Angst haben, werden wohl auch die eidgenössische Polizei nicht fürchten. Die
Geldstrafe ist für sie wohl nur der einkalkulierte Abschluss ihres
lebensgefährlichen Projektes.
Nach der Bootsfahrt kommen wir
wieder auf der Neuhausener Seite an, am in Fließrichtung gesehen rechten
Ufer. Auf der Neuhausener Seite steht das Schlösschen Wörth. Das Gebäude war
mehr Zollstation als Wohnhaus eines Adligen, denn hier wurden einst Waren
umgeladen. Der Rheinfall ist bekanntlich ein immenses Hindernis für den
Güterverkehr zwischen der Bodensee-Region und dem Rhein. In der
Vergangenheit gab es schon mehrere Pläne, den Wasserfall zu umgehen und den
Hochrhein mittels mehreren Staustufen durchgehend schiffbar zu
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machen. Konstanz sollte so ein
„Amsterdam des Südens” werden: Von der
Nordsee sollten Schiffe bis nach Bregenz fahren können. Realisiert wurde
keiner dieser Pläne. Zwar enorm aufwändig, aber durchaus technisch machbar
wäre ein solcher Bau gewesen. In anderen Regionen wurden schon Kanäle
gebaut, die größere Höhenunterschiede überwinden. Zweifellos wäre ein
solches Schleusensystem ein gewaltiger Eingriff in die Natur geworden.
Gravierender ist aber wohl ein anderes Problem: Den
Rheinfall zu bezwingen wäre vor allem ein Eingriff in die schweizer Seele.
Ganz nebenbei bemerkt hat man in Schaffhausen Jahrhunderte lang gutes Geld
verdient mit dem Umladen und dem Transport der Waren mittels Fuhrwerke auf
dem Landweg. Was für die Binnenschiffer ein ärgerliches Hindernis war, war
für viele Schaffhausener Bürger Grundlage ihres Wohlstandes. Am Schlösschen
Wörth – heute Schiffsanlegestelle und Restaurant – wurden die Waren wieder
auf Binnenschiffe verladen. Derlei wirtschaftliche Gründe im Transportwesen
spielen heute keine Rolle mehr. Doch der Rheinfall ist nach wie vor ein
Mythos und bleibt unantastbar. Er ist und bleibt ein nationales Heiligtum
der Schweizer. Sein tosendes Wasser antasten zu wollen ist ein Tabubruch.
Auf das Matterhorn baut man schließlich auch keine Seilbahn.
Auf der Neuhausener Seite ist schon seit
Jahrhunderten ein kleines Wasserkraftwerk in Betrieb. 25 Kubikmeter Wasser
pro Sekunde fließen durch die Turbinen – wahrlich nicht viel angesichts der
500 Kubikmeter pro Sekunde, die durchschnittlich über die Felsen
hinabdonnern. Da auch die Schweiz ihre Energieerzeugung aus regenerativen
Rohstoffen erhöhen muss, gibt es Überlegungen, auch den Rheinfall stärker
als bislang für die Energiegewinnung zu nutzen. Kaum waren die Pläne
veröffentlicht, regte sich der Protest. Jeder Versuch, die Urgewalt des
Wassers zu zähmen, löst heftigen Widerstand in der Alpenrepublik aus.
Tatsächlich war nur geplant, in den Nachtstunden mehr Wasser als bislang
durch die Turbinen zu leiten. Doch der Rheinfall dürfe „nicht für die
Stromproduktion geopfert werden”, so hieß
es unter den Eidgenossen – auch wenn in den Planungen nur an 20 Prozent der
Wassermenge gedacht war.
Zwei Millionen Besucher kommen jedes Jahr an den
Rheinfall. An beiden Ufern geht es daher lebhaft zu. Übervoll ist es dennoch
nicht, denn die meisten Touristen bleiben nur eine knappe Stunde hier.
Eigentlich schade, denn dieses Naturschauspiel sollte man sowohl vom Wasser
aus als auch vom Land ausgiebig genießen. Über die Eisenbahnbrücke oberhalb
des Wasserfalls gelangt man zu Fuß in etwa einer halben Stunde vom einen zum
anderen Ufer. Von Schaffhausen aus kann man übrigens im Sommer durchaus
stilvoll mit einem „Zügle” – dem „City
Train” – bis zum Rheinfall fahren.
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