„Tja”, sagte Storm, „das war schon fast ein
Auftrag.” Der das auf Seite 124 des Taschenbuches äußert, heißt mit Vornamen
Theodor, lebt als Anwalt in einer grauen Stadt am Meer und ist in
Deutschland vor allem als Verfasser sehr schöner Gedichte und vieler
Novellen bekannt. Tilmann Spreckelsen, 1967 in Kronberg am Taunus geboren,
studierte Germanistik und Geschichte und ist heute Redakteur der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung. In seinem ersten Krimi „Das Nordseegrab” stellte er
2012 Storm als Kriminalisten vor, wurde 2014 prompt mit dem Theodor Storm
Preis der Stadt Husum ausgezeichnet und setzt nun im „Nordseespuk” den
Erfolg fort. Theodor Storm, seine Cousine Constanze und sein Schreiber Peter
Stör lösen das, was man auch den Fall der Antoinette de Bourignon in
Nordfriesland nennen könnte.
Die Dame lebte zwischen 1618 und 1680 unter anderem
in Husum, also lange vor Theodor Storm (1817 bis 1888). Bei Wikipedia und an
anderen Orten kann man einiges über sie und ihr unglückliches Schicksal
erfahren. Storm hat daraus keine Novelle gemacht, ihr Thema ist nur einmal
1927 von Walter Mehring in einem Polit-Thriller „Paris in Brand” behandelt
worden. Und jetzt von Tilmann Spreckelsen in einem Krimi, den der Verlag als
„Theodor-Storm-Krimi” vorstellt.
Einen Krimi in der Historie spielen zu lassen, ist
seit langem üblich und gelingt häufig auch ganz gut. Eine historische
Gestalt als Ermittler auftreten zu lassen, ist schon seltener. Den Verfasser
von herzbewegenden Gedichten und spannenden Geschichten, der im Hauptberuf
Anwalt war, als Kriminalisten einzusetzen, ist einzigartig. Doch der
Husumer, der mit Anhang und Umwelt porträtiert wird, kann natürlich nicht
als Detektiv arbeiten. Er braucht also einen Helfer, der – wie in manchen
Krimi TV-Serien üblich – die „Drecksarbeit” erledigt. Und just das tut der
Schreiber des Anwalts, Peter Söt, der mit einem speziellen Auftrag bereits
in Spreckelsens erstem Krimi auftauchte und inzwischen das Vertrauen des
Anwalts gewonnen hat.
Diesen Fall für zwei erzählt Peter Söt in Ich-Form,
historische Rückblicke sind in eigenen Kapiteln kursiv dargestellt, am Endes
des Romans werden die wichtigsten Figuren vorgestellt, am Anfang des Buches
steht eine Landkarte, am Ende ein Porträt der Antoinette de Bourignon. So
eingefangen kann der Leser dem Geschehen kaum entrinnen.
„Wir hatten bei Hans Blunck Branntwein getrunken,
bis Blunck den Krug vor mich hingestellt hatte und schlafen gegangen war,
weil ich schon lange der letzte Gast gewesen war.” Und so taumelt der
Erzähler im ersten Kapitel am Hafen von Husum vorbei, in dem gerade Ebbe
ist. „Ein goldener Kelch lag wie umgestürzt im Hafenbecken, die glatte
Trinkschale ruhte auf einem breiten Sockel. Ich war nicht betrunken genug,
mich für einen Kelch in den Hafen zu werfen. Im Schlick würde ich nicht weit
kommen, wusste ich, und seit ich mich im letzten Sommer mit Theodor Storm in
Moor verirrt hatte und beinahe untergegangen war, hütete ich mich vor
unsicherem Grund.”
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Soweit Peter Söt. Sein Erfinder, Tilman Spreckelsen, bewegt sich auf sehr
sicherem Grund, kennt seine Geschichte, die Örtlichkeiten, den Schreiber und
Anwalt, die Gepflogenheiten des Genres und er kann erzählen – sehr dicht,
ohne Hast, gradlinig und mit Liebe zu Details. Ein Buch ist da entstanden,
das zu lesen lohnt, nicht nur dort, wo der Nebel die Dächer schwer drückt
und es in der Stille rauscht, in der grauen Stadt am Meer.
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Tilmann Spreckelsen
DER NORDSEESPUK
Erschienen im
S. Fischer
Verlag, Frankfurt am Main,
ISBN 978-3-596-03441-3,
€ 9,99
Fischer/Nordseespuk
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Tja, wieder mal war Hein mit seiner Herzallerliebsten
unterwegs auf einer Reise von zehn Tagen. Ihre Kabine lag an Backbord, also
in Fahrtrichtung links. Auf der Fahrt nach Süden sahen sie links Land und
auf der Rückreise links See. Hein war damit zufrieden. Doch er erinnerte
sich an ein Wort, das er in England von Seereisenden gehört hatte. Man
reiste „posh” übers Meer. Posh?
Als Hein nachfragte, erfuhr er, dass es sich bei dem Wort um eine
Regel handelte, die sich aus den Anfangsbuchstaben eines Satzes ableitete:
port outward, starboard home: backbord wegfahrend, steuerbord heimwärts. Mit
diesem Satz im Kopf wählte man bei Reisen nach Indien zum Beispiel seine
Kabine. Spleenige Engländer? Warum nach Indien eine Kabine links im Schiff
buchen und zurück nach England eine rechts im Schiff? Als es noch keine
Klimaanlagen an Bord gab, hing die Temperatur drinnen von der Sonne ab. Wenn
ihre Strahlen die Bordwand erwärmten, war es drinnen warm und je weiter nach
Süden man kam, immer noch wärmer. Der beste Schutz vor der Hitze war also
die Lage der Kabine, im Sonnenlee, sozusagen. Darum bevorzugte man nach
Indien eine Backbordkabine, nach England eine an Steuerbord. Und um das
nicht zu vergessen, merkte man sich das Wort „posh”. Die Reisenden waren
also keine spleenigen Engländer, sondern praktisch eingestellte. Natürlich
gilt die Regel heute zu Zeiten vollklimatisierter Schiffe nicht mehr. Doch
das Wort hat sich im Englischen gehalten. Es bedeutet heute so viel wie
erstklassig, tiptop oder schick.
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Tja, Hein hört Wetterberichte gern, auch im
Fernsehen und mag Wetterkarten. Mit denen hat er als Schüler viel in
Erdkunde gelernt. Und als er vor Jahren mit dem Hochseesegeln begann, hat
er schnell begriffen, dass es ohne Wetterkarten nicht ging. Einer, der
sein Boot neben Heins liegen hatte, war Meteorologe und sprach gerne über
seinen Beruf. Wenn Hein mal einen längeren Törn vorhatte, konnte er bei
ihm die Großwetterlage erfahren. Manchmal verschob er mit diesem Wissen
eine Reise oder änderte Anläufe. Damals gab ihm der Freund stapelweise
Papier, das mit Karten bedruckt war. Die Papiere zeigten Tiefdruckgebiete,
Hochdruckgebiete, Wetterfronten über dem Nordatlantik – alle paar Stunden
gab es eine neue Karte. Damals wünschte der Freund sich Computer, die das
Papier überflüssig machten. Mittlerweile gibt es sie, die ungeheure Mengen
von Daten verarbeiten und speichern können. So vermag
Hein auf Bildschirmen zu erkennen, wo Regenfronten entlang ziehen, ob es
Nebel gibt und woher und wohin der Wind weht, nicht nur heute, sondern
auch für die nächsten drei Tage. Vom Freund weiß er, dass die Vorhersagen
Hochrechnungen sind. Neue Daten werden mit alten verglichen und was
geschehen ist, wird eingearbeitet in das, was gerade geschieht. Je mehr
Daten man hat, desto genauer die Vorhersage.
Und dann las Hein, dass man jetzt über eine ganze andere Datentechnik
nachdenkt, nicht mehr mit Bits und Bytes sondern mit Qubits rechnen will,
die so genannte Quantencomputer quantenparallel nutzen. Hein schwirrte der
Kopf, als er davon las. Neue Materialien will man mit dem neuen Wissen
entwickeln, Prozesse abkürzen und vermutlich auch Vorhersagen noch
präziser machen. Hein findet solche Entwicklungen ganz spannend. Aber ein
bisschen wehmütig ist ihm schon ums Herz, wenn bald die alten Wetterregeln
überflüssig werden könnten. Als er anfing half ihm noch so eine simple
Regel wie „linksrum ins Tief.” Es gab auf der Nordhalbkugel die
Windrichtung an.
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Tja, Hein hatte in einem Aufsatz etwas gelesen, was ihn nachdenklich
machte. Einer jungen Wissenschaftlerin war es gelungen, aus dem Gen eines
Lebewesens etwas rauszunehmen und es in ein anderes Gen einzusetzen. Was
da noch sehr abstrakt klang, wurde an Viren und Bakterien erläutert. Wenn
ein Virus eine Bakterie angreift, kann die sich nicht wehren. Entnimmt man
aber dem Virus ein Teil seines Gens und pflanzt es in die Bakterie, kann
die sich gegen den angreifenden Virus sehr wohl verteidigen.
Ein fantastisches Forschungsergebnis, fand Hein. Wenn man dieses Verfahren
auch in anderen Lebewesen und kostengünstig einsetzen kann, wird unsere
Welt bald anders aussehen. Krankheiten, die heute noch als unbesiegbar
gelten, könnten beherrscht werden. Pflanzen könnten mehr oder größere
Früchte tragen, Tiere mehr Fleisch entwickeln. Niemand müsste mehr
hungern. Andererseits könnte man mit dieser Technik auch am Menschen
rumhantieren und etwa Kinder nach dem Katalog auf die Welt bringen.
Hein schaudert manchmal, wenn er über diese Konsequenzen nachdenkt. Hat
nicht alles, was man so entdeckt oder erfindet, seine zwei Seiten? Hein
liebt seit Kindesbeinen Messer, er braucht sie beim Segeln oder in der
Küche. Doch wie viele Millionen Menschen sind durch Messer umgekommen,
durch Schwerter, Dolche, Seitengewehre, Bajonette und Lanzen?
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Tja,
im Programm stand als Kleidungsvorschlag für diesen Abend in
der Mitte einer Kreuzfahrt „leichte Eleganz”. Tja; fragte sich Hein, was
heißt das denn nun? Er machte sich schick und sah sich unter den Gästen
um, als er mit seiner Herzallerliebsten das Restaurant betrat und an
seinem Tisch Platz nahm. Unter leichter Eleganz verstand offensichtlich
jeder etwas Anderes. Hein sah Herren in Anzügen, dunklen wie hellen, den
einen oder anderen Blazer, das eine oder andere Tweedsakko, viele leichte,
leuchtende Pullover und immer wieder auch nur frisch gebügelte Oberhemden
zu sommerlichen Hosen. Und ganz selten war auch wieder die Strickjacke zu
sehen – wie an jedem anderen Abend auch. Beim ersten Glas Wein fragte Hein
seine Herzallerliebste, ob sie mit der Art, wie die Herren sich
präsentierten, zufrieden sei. Sie dachte kurz nach und dann begann ein
längeres Gespräch über alle Essenspausen hinweg. Beim Kaffee waren sich
die beiden einig. Eleganz bedeutet Wissen um Was und Wie. Was trägt man
abends überhaupt, sollte man schon wissen. Vom Frack bis zu Blue Jeans war
alles möglich, solange es etwas anderes war, als das, was man den ganzen
Tag getragen hatte. Doch was war unter dieser Maßgabe möglich? Etwas
anderes als das tagsüber sonst getragene, hieß für den einen dies, für den
anderen das. Entscheidend für die „leichte” Eleganz war wohl die Distanz
zwischen Tagesdress und Abenddress. Wie weit konnte man sich vom Gewohnten
entfernen, ohne zu übertreiben? Für den Mann im blauen Arbeitskittel war
ein frisches weißes Hemd zu einer weißen Hose sicher schon mehr als
„leichte” Eleganz. Aber was sollte der nehmen, der tagesüber einen grauen
Anzug trug? Ein Smoking wäre übertrieben! Hein hatte Freunde, die
behaupteten, noch nie einen Schlips getragen zu haben. Eleganz als Wissen
um Was und Wie, meinte die Herzallerliebste zum Schluss, sei zwar ein
kluger Satz, mit dem man aber nicht wirklich viel anfangen könne. Hein
musste dem zustimmen und lobte Einladungen, die sehr viel präziser waren.
„Abendanzug”, zum Beispiel hieß für ihn in Deutschland „Smoking”. In
England stand auf Einladungen manchmal auch „white tie” – und damit war
der Frack gemeint. In Dänemark hatte er „Anzug Schwarz weiß” gelesen und
das hatte alles bedeutet, Gehrock, Frack und Smoking.
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Tja, alle
sprachen Englisch – ihre Muttersprache. Hein hörte gern zu und konnte
manchen der mitreisenden Herren an seinem Dialekt orten, Engländer,
Schotten, Australier, Amerikaner, Kanadier. Bei Damen fiel ihm das nicht
ganz so leicht. Die große Gesellschaft an Bord bestand also aus vielen
kleineren Gruppen. Früher, erinnerte Hein sich, konnte er Mitreisenden
auch an ihrer Kleidung noch einordnen, an Krawatten, Anzügen, Schuhen.
Doch seit Jeans und T-Shirts die ganze Welt erobert haben, fällt Hein das
Einordnen immer schwerer. Auf der letzten Reise entdeckten Hein und seine
Herzallerliebste eine neue Art, Mitreisende zu erkennen, jedenfalls zwei
Gruppen sehr deutlich. Sie unterschieden sich an der Art, wie sie mit
Messer und Gabel hantierten. Da gab es die Gruppe, die die Gabel in der
linken Faust wie einen Schlegel hielt und in der Rechten mit dem Messer
das Fleisch in kleine Bissen zerteilte. Sobald daraus ein kleiner Haufen
Fleischstücke entstanden war, legte der Schneidende sein Messer auf den
Tisch, nahm die Gabel in die rechte Hand und legte die Linke unter der
Tischplatte auf den Oberschenkel. So – leicht nach links gebeugt – piekte
der Essende mit der Gabel Fleisch, Kartoffeln und Gemüse auf und
transportierte alles bissenweise in den Mund. War das Fleisch
verschwunden, wanderte die Gabel in die Linke, die Rechte griff nach dem
Messer und das Gesehene wiederholte sich. An solchem Essen waren
Amerikaner auszumachen. Ihre englischen Vettern waren Meister darin, die
Gabel in der linken Hand nicht konkav, sondern konvex zu halten. Erbsen
wurden so auf einem Hügel statt im Tal in den Mund befördert, was nur
gelang, indem die Zinken der Gabel ein Stück Fleisch aufgespießt hatten,
das als Wegrutschbremse wirkte. Wer „ganz normal” aß, war
Kontinentaleuropäer. Hein fragte sich, warum die Engländer diesen
Balanceakt verinnerlicht hatten, vermutlich, um langsam und vornehm zu
essen. Doch was hatte die Amerikaner zu dieser Essensgymnastik gebracht?
Frühe Pionierzeiten, in der das Messer vor allem Waffe war? Vielleicht kam
daher auch die amerikanische Sitte, jedem Gast, sobald er am Tisch saß,
erst einmal ein großes Glas Wasser zu servieren. Denn schließlich war
jeder, der kam, durch die schattenlose Prärie geritten. Und solch ein Weg
machte nicht nur Pferde durstig.
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Tja, und noch was fiel Hein und seiner Herzallerliebsten auf, wenn
sie im Büffetrestaurant an Bord aßen: der Mut, Essen in die Hand zu
nehmen, das höher war als der offene Mund. Hamburger quetschte man mit
beiden Händen flach, doch die meisten blieben so hoch, dass der Essende
nicht abbeißen, sondern nur abknabbern konnte und darauf achten musste,
dass nichts aus dem Brötchen zur Seite wegrutschte. Hein konnte dem nicht
viel abgewinnen, wollte Hamburger aber in dem Land, in dem sie entwickelt
worden waren, wenigstens mal probieren. Er bat um Messer und Gabel und
zerteilte, was auf dem Teller lag, in Schichten. Rechts lag schließlich in
drei Scheiben das Brötchen, durchsuppt und weich und rechts daneben der
große Klops, unter ihm ein Salatblatt, auf ihm eine Scheibe geschmolzenen
Käse und weiche Zwiebelringe. Rote und gelbe Soßenspuren hatte Hein zu
Seite geschoben. Und so genoss er, was einst kunstfertig gestapelt worden
war. Auf den Käse verzichtete er beim zweiten Bissen. Das reine
Rindfleisch war ein Hochgenuss. Eigentlich, dachte Hein, als er sich
schließlich die Lippen mit einer Papierserviette abwischte, könnte man das
Gehackte ja ohne alles anbieten, einfach so. Und vielleicht ein Glas Wein
dazu.
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