Bekannt wurde Arno Surminski mit zahlreichen Erzählungen und
Romanen, die meist von seiner ostpreußischen Heimat und dem Schicksal der
Vertriebenen und Flüchtlinge handeln.
Foto: Arno Surminski, Hamburg
Fragen an den Schriftsteller Arno Surminski
Am 27. Juni 2016 ist Arno Surminski eine hohe Ehre
zuteil geworden. Dem 1934 im ostpreußischen Jäglack geborenen Schriftsteller
ist vom Hamburger Senat der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland
überreicht worden. Anerkannt wird, dass der Schriftsteller, der heute mit
seiner Frau Traute in Hamburg lebt, mit seinen Werken („Jokehnen oder Wie
lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland”) einen wichtigen Beitrag
leistet, die Geschehnisse in Ostpreußen zum Ende des Krieges aufzuarbeiten
und gleichzeitig besonders engagiert die Verständigung zwischen den
damaligen und den heutigen Bewohnern fördert.
Für mich als Surminski-Fan ist die Ehrung ein
Anlass gewesen, mit dem Erfolgsautor über stilistische Tricks, Political
Correctness und die neuen „Surminskis” zu sprechen.
PSW: In Ihren Büchern spielt
Wasser immer wieder eine Rolle, seien es Ostsee, Masurische Seen oder die
Elbe. Welche persönliche Beziehung haben Sie zu diesem Element?
Arno Surminski: Eine besondere
persönliche Beziehung zum Wasser habe ich nicht. Da meine Bücher häufig mit
Reisen zu tun haben, führen sie zwangsläufig auch zu Flüssen, Seen, Meeren
und Brücken. Die schlimmsten Ereignisse des Kriegsendes spielten sich auf
dem Wasser und an den Stränden ab (GUSTLOFF, Frisches Haff, Neustädter
Bucht, „Die Frauen von Palmnicken”).
PSW: Werner Tolksdorf und Felix
Malottka, die Protagonisten in „Grunowen oder das vergangene Leben”, begeben
sich auf eine Reise in ihre gemeinsame Heimat Ostpreußen. Die beiden fahren
mit dem polnischen Fährschiff SILESIA von Travemünde nach Danzig. Nach Ihrer
kenntnisreichen Beschreibung müssen Sie das selber erlebt haben. Nicht
unbedingt eine „Traumschiff”-Atmosphäre. Offenbar hat eine Schiffsreise
dennoch etwas Faszinierendes für Sie?
Arno Surminski: Meine Polenreisen
unternahm ich oft per Schiff, weil ich die DDR meiden wollte, nach
Erscheinen meines Buches „Polninken” meiden musste.
PSW: A propos „Traumschiff” –
Haben Sie schon mal eine Kreuzfahrt unternommen?Immerhin gönnen sich so
etwas über zwei Millionen Deutsche jährlich. Falls ja: Wie waren Ihre
Erfahrungen? Falls nein: Könnten Sie sich so etwas vorstellen, mit oder ohne
Lesung an Bord?
Arno Surminski: Ich habe mit
meiner Frau zwei Kreuzfahrtreisen unternommen, einmal Ostsee, einmal
Spitzbergen/Island. Auf beiden habe ich gelesen. Meine Erfahrungen waren
gut, abgesehen von der ständigen Versuchung zu gutem Essen und Trinken.
PSW: Schicksalsträchtige
Wasser-Schauplätze bilden den Hintergrund zu Ihren Romanen „Kudenow oder an
fremden Wassern weinen”, „Grunowen”, „Polninken oder eine deutsche Liebe”,
„Winter Fünfundvierzig oder Die Frauen von Palmnicken”. Kann es sein, dass
Wasser in Ihren Werken auch eine Art von Metapher ist?
Arno Surminski: Wasser ist ja ein
bewegliches, auch gefährliches Element. So ist es immer ein gutes Umfeld für
alle Romane und Erzählungen.
PSW: Ihre Beschreibungen, die die
Leser-Fantasie emotional beflügeln, sind meisterlich, besonders von
Menschen, Stimmungen und Landschaften. Verraten Sie mir Ihren
sprachlich-stilistischen „Trick”, wie der Leser allein schon dadurch
gefesselt ist?
Arno Surminski: Wenn es ein Trick
wäre, könnte ich ihn erklären. Ich rätsele selbst über die emotionale
Wirkung meiner Texte. Es liegt wohl daran, dass ich die beschriebenen
Vorgänge immer deutlich vor Augen habe. Daraus entsteht dann der Eindruck
von „ganz nahe sein”.
PSW: Sie verstehen es immer
wieder, sei es in Romanen oder Erzählungen, eine Spannung aufzubauen, die
den Leser von Anfang an in seinen Bann zieht, fast wie bei einem Krimi
(„Kein schöner Land” ist ja quasi einer). Woran, glauben Sie, liegt das?
Arno Surminski: Spannung entsteht,
wenn man nicht alles sagt und erklärt, sondern vieles nur andeutet, was beim
Leser dann die Spannung erzeugt. Er möchte erfahren, wie es ausgeht.
PSW: Ich bin selber einige Male
auf den Gewässern Ostpreußens, insbesondere Masurens, unterwegs gewesen und
konnte mich dem Zauber, den Geheimnissen der historisch durchtränkten
Landschaft nicht entziehen. Ist es das, was auch Sie immer wieder animiert?
Arno Surminski: Ich kann nur
Bücher schreiben über Dinge, die ich kenne. Ostpreußen kenne ich besonders
gut, nicht nur von meiner Kinderzeit her, sondern auch von vielen Reisen
nach dem Krieg. Außerdem ist Ostpreußen mit dem einsamen Masuren – nicht
zuletzt durch das Wirken der Schriftsteller – ein Mythos geworden. Man lebt
und arbeitet gern in einem Mythos.
PSW: Ihr Werk spiegelt in
vielerlei Hinsicht Ihr persönliches Schicksal. Ich kann mir vorstellen, dass
viele Leser gern auch eine Biographie von Ihnen lesen würden. Halten Sie das
wegen der autobiographisch geprägten Inhalte Ihrer Bücher nicht mehr für
notwendig?
Arno Surminski: Eine wahrhaftige
Autobiographie könnte ich nicht mehr schreiben. Ich habe zu viel
Autobiographisches in meinen Romanen und Erzählungen verarbeitet und könnte
jetzt nicht mehr genau sagen, was Roman und was Realität war.
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PSW: Ein Schwerpunkt Ihres
Schaffens ist Ihre alte Heimat Ostpreußen. Sind Sie damit schon mal in das
„kritische Fadenkreuz” bestimmter politischer Kreise gekommen? Falls ja: Was
wurde moniert? Falls nein: Wie schaffen Sie den sprachlichen Spagat zwischen
„polical correctness” und Heimatverbundenheit? Oder quälte Sie auch der
Gedanke beim Schreiben, „die Wahrheit könnte vergessen werden” wie in Ihrer
Erzählung „Die Wellen”?
Arno Surminski: Es gab tatsächlich
eine Zeit, in der allein die Erwähnung des Namens Ostpreußen in einem Buch
Stirnrunzeln auslöste und mit dem Verdacht des Revanchismus belastet wurde.
Ich habe das nicht gewusst und meinen ersten Roman naiv „Jokehnen oder Wie
lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland” genannt. Die
der politischen correctness nahe stehende Hochliteratur hat ihn
logischerweise wenig beachtet. Die Leser haben mich gerettet, indem sie das
Buch, das so mutig den Namen Ostpreußen im Titel führte, in großer Zahl
kauften und lasen. Immerhin sind es einschließlich der Übersetzungen ins
Französische, Schwedische und Russische über eine Million Exemplare.
PSW: Ostpreußen ist ohne
Vertreibung und Flucht undenkbar. In Ihrer Erzählung „Im Wald von Czerwany
Dwor” sagt der Junge: „Es war doch klar, dass keiner zurückkommt”, woraufhin
der Vater antwortet: „Heute ist es klar. Damals war es unvorstellbar. Flucht
galt immer nur als vorübergehendes Verlassen, ein Ausweichen vor dem Krieg”.
Sehen Sie Unterschiede und Parallelen zur aktuellen Situation in
Deutschland?
Arno Surminski: Ein
vorübergehendes Ausweichen vor dem Krieg ist es bei den heutigen
Flüchtlingsströmen sicher nicht. Die meisten wollen bleiben in diesem
besseren wirtschaftlichen Umfeld. Es müsste schon im Nahen Osten sehr
friedlich und wirtschaftlich blühend zugehen – oder bei uns sehr schlecht
werden –, damit viele nach der Flucht zurückkehren.
PSW: Worauf führen Sie die
Begeisterung Ihrer großen Leserschaft an Ihren Büchern zurück? Steht die
möglicherweise im Kontext zu einer Botschaft, die Sie den Menschen
vermitteln möchten?
Arno Surminski: Die Leser haben
das Gefühl, der Autor will sie nicht in eine bestimmte Richtung drängen,
sondern beschreibt die Verhältnisse so, wie sie waren und wie sie sie selbst
in Erinnerung haben. Sie kommen in meinen Büchern zurück zu ihren eigenen
Kindheitserlebnissen.
PSW: Wo und wie entspannen Sie vom
Schreiben?
Arno Surminski: Entspannung habe ich in
körperlicher Arbeit. Wir haben ein Wochenendhaus am See und zweieinhalb
Hektar Wald, den ich vor 25 Jahren angepflanzt habe. Da ist immer viel zu
tun. Auch erinnert mich das an Ostpreußen.
PSW: Haben Sie einen weiteren
„Surminski” in Arbeit? Mit welcher Thematik?
Arno Surminski: Ich bin jetzt 81
Jahre alt und will noch mindestens fünf Bücher veröffentlichen. Einige sind
in Arbeit, andere schon fertig oder nur angedacht. Über die Themen möchte
ich nichts sagen. Es muss ja auch etwas Spannung bleiben (siehe Frage 6).
PSW: Vielen Dank für die
Beantwortung der Fragen.
Sie stellte Dr. Peer Schmidt-Walther (PSW) im
Juni 2016.
Biographie
Geboren wurde Arno Surminski 1934 als Sohn eines
Schneidermeisters im ostpreußischen Jäglack/Jeglawki fünf Kilometer westlich
von Drengfurth/Srokowo. Dort verbrachte er auch seine Kindheit. Nach
Kriegsende wurden seine Eltern in die Sowjetunion deportiert, er blieb
allein zurück. Und kam in verschiedene Lager. 1947 gelangte er ins
schleswig-holsteinische Trittau und wurde von einer sechsköpfigen Familie
aufgenommen. Nach der Volksschule machte er von 1950 bis 1953 eine Lehre in
einem Anwaltsbüro. 1957 bis 1960 lebte er als Holzfäller in Kanada, zog dann
aber wieder zurück nach Deutschland. 1962 bis 1972 arbeitete er als
Angestellter in der Rechtsabteilung einer Hamburger
Versicherungsgesellschaft.
Seit 1972 ist er neben der schriftstellerischen
Arbeit als freier Wirtschafts- und Versicherungsfachjournalist tätig.
Bekannt wurde Surminski mit zahlreichen Erzählungen und
Romanen, die meist von seiner ostpreußischen Heimat und dem Schicksal der
Vertriebenen und Flüchtlinge handeln. Es geht Surminski dabei nicht um
Rache, sondern darum, die Erinnerung an jenes Land seiner glücklichen
Kindertage zu erhalten. „Es war mir ein besonderes Anliegen, die beiden
Generationen zu versöhnen, sie dahin zu bringen, dass sie sich besser
verstehen”, so Surminski zum Ostpreußenblatt (30. Oktober 1999).
Arno Surminski ist Mitglied der Freien Akademie der
Künste Hamburg.
Von 2001 bis 2007 war Surminski Ombudsmann des
Verbandes der Privaten Krankenversicherungen. Er lebt mit seiner Frau Traute
in Hamburg und hat drei erwachsene Kinder.
Romane und Erzählungen
Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach
Deutschland? (1974, wurde
1987 als TV Dreiteiler verfilmt)
Aus dem Nest gefallen – Geschichten aus Kalischken
(1976)
Kudenow oder An fremden Wassern weinen (1978, wurde
1981 verfilmt)
Fremdes Land oder Als die Freiheit noch zu haben war
(1980, wurde verfilmt)
Wie Königsberg im Winter (1981)
Polninken oder Eine deutsche Liebe (1984)
Gewitter im Januar. Erzählungen (1986)
Malojawind. Eine Liebesgeschichte (1988)
Am dunklen Ende des Regenbogens (1988)
Grunowen oder Das vergangene Leben (1986)
Die Reise nach Nikolaiken (1993)
Damals in Poggenwalde (1983, Kinderbuch)
Kein schöner Land (1993)
Besuch aus Stralsund. Erzählungen (1995)
Eine gewisse Karriere. Erzählungen aus der Wirtschaft
(1996)
Sommer 44 oder Wie lange fährt man von Deutschland nach
Ostpreußen? (1997)
Die masurischen Könige. Weihnachtsgeschichten (1999)
Die Kinder von Moorhusen (2001, Kinderbuch)
Der Winter der Tiere (2002)
Vaterland ohne Väter (2004)
Gruschelke und Engelmannke. Geschichten auf
Ostpreußisch und Hochdeutsch (2006)
Die Vogelwelt von Auschwitz (2008)
Amanda oder Ein amerikanischer Frühling (2009)
Die masurische Eisenbahnreise und andere heitere
Geschichten, Erzählungen (2010)
Winter Fünfundvierzig oder Die Frauen von Palmnicken
(2010)
Tod eines Richters. Roman über ein ungewolltes Kind
(2012)
Im Garten des Schönen. Heitere und besinnliche
Geschichten aus dem Norden (2013) Jokehnen oder Die Stimmen der Anderen
(2013)
Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach
Deutschland? Sonderausgabe (2014)
Sommer Vierundvierzig oder Wie lange fährt man von
Deutschland nach Ostpreußen? Sonderausgabe (2014)
Vaterland ohne Väter. Sonderausgabe (2014)
The bird world of Auschwitz. A novella; weitere
Übersetzungen in Französisch, Spanisch, Polnisch (2015)
Als der Krieg zu Ende ging, Erzählungen (2015)
Auszeichnungen
1978: Andreas-Gryphius-Preis
1982: Kulturpreis der Landsmannschaft Ostpreußen für
Literatur
1993: Hamburger Bürgerpreis der CDU Hamburg
2001: Lessing-Ring zusammen mit dem Kulturpreis der
deutschen Freimaurer
2004: Friedrich-Schiedel-Literaturpreis der Stadt Bad
Wurzach
2004: Biermann-Ratjen-Medaille der Freien und
Hansestadt Hamburg
2008: Hannelore-Greve-Literaturpreis
2009: Andreas-Gryphius-Preis
2015: Elbschwanenorden
2016: Bundesverdienstorden
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Kriminalromane kommen in vielen Gestalten daher,
von Hardcore bis Comic. Das Grundmuster ist immer das gleiche: Ein
Verbrechen ist geschehen. Wer hat es verübt, wie und warum, sind die Fragen,
die der Held zu beantworten hat. Und der Leser fiebert mit.
Bei Ane Riels Krimi „Blutwurst und Zimtschnecken”
tut er das auch. Das Taschenbuch ist 344 Seiten dick. Und beginnt geradezu
klassisch mit diesem ersten Satz: „Judith Abild Behring überlegte, den
Postboten zu töten.” Doch der entscheidende Mord geschieht erst im
drittletzten Kapitel.
Judith Abild Behring bewohnt mit ihrem Hund in
Liselje, einer Sommerfrische auf Seeland im ländlichen Dänemark, in der nur
wenige Menschen das ganze Jahr über leben, ein Haus mit gepflegtem Garten.
Den Postboten mag sie nicht, auch deswegen, weil er ihre Post so spät
ausliefert. Nach Anläufen gelingt es ihr, den Mann in ihre Küche einzuladen
und ihm eine Zimtschnecke und eine Tasse Kaffee anzubieten: „Jetzt hatte sie
ihn”, heißt es auf Seite 21.
Und dann springt das Bild um. Wir lernen ab Seite
22 drei versoffene Zeitgenossen in Liselje kennen, Hans, Christian und
Andersen, mit denen Judith sich anfreundet und sie – ohne dass es jemand
merken darf – zu sich zu einem Essen einlädt, in dem viel getrunken wird.
Dieser Teil endet auf Seite 85.
Radikaler Szenenwechsel. Ab Seite 86 lernen wir
Jørgen kennen, der am 19. Februar 1948 in Fredriksberg in einer
Privatwohnung zur Welt kam. „Im Aufgang nebenan wurde währenddessen ein
Ehepaar erschlagen.” Die Tat hat für die Handlung keinerlei Bedeutung, macht
nur klar, wo wir sind – in einer Welt, in der getötet wird.
Jørgen folgen wir nun von der Taufe bis zu
Berufserfolgen durch ein Leben, das man so niemandem wünscht. Auf Seite 215
erfährt man eher beiläufig eine entscheidende Veränderung in seiner Vita –
und fortan geht es rund. Auf Seite 313 muss schließlich jemand sterben. Über
den ermittelnden Polizisten, der erst auf den letzten Seiten auftaucht,
heißt es ganz zum Schluss: „Das Herz des Polizeibeamten gefror zu Eis.” Das
des Lesers auch, der Mord ist gelöst.
Ane Riel, Jahrgang 1971, hat in Dänemark
Kinderbücher veröffentlicht. Dies ist ihr erster Kriminalroman, der sofort
nach Erscheinen „Bester Dänischer Krimi des Jahres” wurde.
Man weiß nicht ganz genau, wie man mit diesem Buch
umgehen soll. Sprachwitz und idyllische Beschreibungen am Anfang, groteske
Elemente immer wieder eingestreut, straffe Charakterbilder und eine
verfolgbare Handlung, durchaus spannend – die Story verändert sich im
Verlauf, von sommerlich heiter zu brutal. Man kann in ihr auch eine
Erklärung für das Böse in der Welt sehen. Bleibender Eindruck: Eine
ungewohnte Art, einen Krimi zu schreiben. Manches an ihm erinnert an Finn
Soeberg,
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Ane Riels Landsmann, der mit seinem „Und so was lebt” 1951 einen Bestseller
schrieb – in einer Mischung aus präziser
Beobachtung, humoristischer Interpretation und treffender Kritik. Vielleicht
wird aus „Blutwurst und Zimtschnecken” ein ähnlicher Erfolg. Der Rezensent
hat die Lektüre sehr genossen.
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Ane Riels
BLUTWURST und ZIMTSCHNECKEN
Aus dem Dänischen übersetzt von Julia
Gschwilm. Erschienen im
Btb Verlag / Random House.
ISBN 978-3-442-71408-7
9,99 €
BLUTWURSTund ZIMTSCHNECKEN
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►►►
Tja, nun macht Hein das genauso wie alle anderen. Als er
vor vielen, vielen Jahren seine erste Kreuzfahrt auf See machte und als
Neuling an einem großen
runden Tisch saß, war er von lauter Angebern
umgeben. Man hatte sich vorgestellt, aber keinen Namen wirklich verstanden
und war ins Gespräch gekommen – ohne Hein. Die drei Ehepaare sahen sich auch
zum ersten Mal und fingen an, die vor ihnen liegende Reiseroute zu loben.
Sie führte in den Norden bis zum Nordkap und gliederte sich in viele schöne
Strecken, wie Hein aus dem Atlas wusste. Die Einfahrt in den Geirangerfjord,
sagte ein Herr, erinnere ihn an einen Besuch Chiles. Da gäbe es im Süden
einen ganz ähnlichen Fjord. Kennen Sie ihn? Jemand antwortete und verwies
auf Alaska, wo es Vergleichbares gäbe. Und nun begann eine laute Rühmerei,
in der jeder von seinen Reisen berichtete, die möglichst noch schöner als
die seines Vorredners gewesen waren. Man überbot sich – fand Hein und hielt
sich mit eigenen Erfahrungen sehr zurück. Ihm gefiel das Ganze nicht, das er
als Angeberei einstufte. Er war froh, als sich die Tischrunde auflöste und
so nie wieder zusammenkam. Heins Kreuzfahrerkarriere hatte begonnen. Und nun
genießen er und seine Herzallerliebste die schönsten Gegenden der Welt auf
immer anderen Schiffen. Und treffen natürlich auf viele Mitreisende – an
festen Tischplätzen oder bei freier Sitzwahl. Man kommt meistens leicht ins
Gespräch, das immer nach dem gleichen Muster abläuft. Man nennt den Namen,
sagt woher man kommt und irgendetwas Nettes über den Beginn dieser Reise.
Die anderen am Tisch tun das Gleiche – Ende der ersten Runde. Und dann
beginnt die zweite, mit immer anderen Sätzen, doch stets gleichem Inhalt,
den Hein damals als Rühmerei und Angeberei bemäkelte. Man gibt zu erkennen,
was einem sehr gefallen hat, was weniger. Natürlich nennt man dabei Orte und
Gegenden, die man gesehen hat und hält sich auch mit Erlebnissen nicht
zurück. Das machen Hein und seine Herzallerliebste inzwischen mit einiger
Gewandtheit. Eigentlich, denkt Hein, ist das doch reine Angeberei. Als er
das neulich laut sagte, stimmte sie ihm zu. Aber Angeberei, sagte die
Herzallerliebste, ist an sich nichts Schlimmes. Man protzt ja nicht und
macht sich wichtig, sondern man gibt dem anderen an, wer man ist oder wie
man gern gesehen werden möchte. Recht hat die Herzallerliebste, denkt Hein,
aber wie so oft, macht auch hier der Ton die Musik.
►►►
Tja, Hein hat sich angewöhnt, zu bestimmten
Zeiten ins Bett zu gehen. Und das ist meistens nach den Spätnachrichten im
Fernsehen. Neuerdings fragt er sich allerdings, ob er nicht ein bisschen
früher in die Buntkarierten verschwindet, vor Beginn der Nachrichten.
Warum vorher? Hein nimmt ernst, was er da so hört und
sieht. Und das beschäftigt ihn und seine Herzallerliebste natürlich. Sie
sprechen darüber, denken sich ihren Teil, urteilen. Doch manchmal ist es
damit nicht getan. Wenn irgendwas Schlimmes passiert ist, beschäftigt das
Hein bis zum Einschlafen und verschiebt es manchmal. Das Schlimme muss
nicht gleich der Massenmord von Muslimen an Wartenden auf einem Flughafen
sein, manchmal reicht auch eine Meldung über Bäche, die die Regenmengen
nicht mehr aufnehmen konnten und Häuser und Keller zerstörten. Immer
wieder ist in solchen Meldungen zu hören, wer was versäumt hat oder
versagte. Und über den oder die ärgerte Hein sich immer öfter. Dieses
Denken entwickelte sich wie eine Sucht. Über wen haben wir uns heute
geärgert, fragte er sich immer häufiger nach den Nachrichten. Mit solcher
Fragerei muss Schluss sein, sagte Hein sich und beschloss, früher ins Bett
zu gehen – vor der Sendung. Die Herzallerliebste machte natürlich mit. Und
Hein beobachtete nun, ob er wirklich besser schläft. Das tut er. Er fragt
sich beim Zubettgehen anders als früher: Über wen haben wir uns heute
gefreut?
►►►
Tja, was wird sich wohl ändern, fragt Hein sich. Die Briten sind
raus aus der
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EU, obwohl große Landesteile wie Schottland und Nordirland gern dabei
geblieben wären und entsprechend abgestimmt haben. Aber gegen eine
Mehrheitsentscheidung kann man nicht an, also sieht Hein sich wieder da,
wo er
1955 schon einmal war, als er zum ersten Mal nach England reiste – per
Bahn und mit der Fähre von Ostende nach Dover. Da wurde der Pass noch
gestempelt, und Zollbeamte kontrollierten und kennzeichneten mit einem
farbigen Kreidestrich Koffer. Es roch so anders, in den Zügen gab es nur
kleine Abteile mit je zwei Türen, Männer rauchten Pfeife und man konnte
den ganzen Tag im Lion’s Corner House ein englisches Frühstück bekommen:
Spiegelei mit Speck oder Schinken, mit Würstchen, Baked Beans, einer
gegrillten Tomate und einer Scheibe Toast mit Orangenmarmelade. Dazu Tee
mit Milch in Mengen, alles für Twoandsix, zwei Schillinge und sechs
Pennies. Abends in der Kneipe war die Stimmung herzlich und das Bier warm.
Seit jenem ersten Besuch hat sich alles geändert. Das Bier ist jetzt so
kalt wie auf dem Kontinent, Lion’s Corner House gibt es nicht mehr.
Wer raucht heute noch Pfeife? Die Züge sind modern und so
unpünktlich wie überall. Die Gehirnakrobatik mit Rechnen im Zwölfer- und
Zwanzigersystem ist nicht mehr nötig. Den besten Tee trinkt Hein jetzt in
Nordwestdeutschland. Nur das Frühstück ist geblieben, was es war – solide
Grundlage für einen ganzen Tag, die man mit einem „light luncheon” um die
Mittagszeit auffrischen konnte. Werden die Briten nun wieder ihre alten
Standards einführen? Man kann nie wissen! Als Hein sich
die Wartezeit auf das Abstimmungsergebnis verkürzen wollte, und sich im
Internet die Geburtstagsparade des Militärs zum 90. Geburtstag der Königin
ansah und die Eröffnung des Parlaments aus dem Vorjahr, da war ihm schon
klar, dass jenseits des Kanals immer noch anders gedacht und gefühlt wird.
Die Krone, die die Königin während der Rede trägt, geht auch durch die
Hände eines Mannes mit uralter Uniform, der in seinem Amt nur für das
Wohlergehen der Schwäne auf der Insel zuständig ist. Nun denn, auf gute
Nachbarschaft! Wir haben noch viel zu lernen.
►►►
Tja, als die
Demokratie in der Neuzeit geboren wurde und Länder sich für
Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative entschieden,
übernahm auch die Presse neue Aufgaben: sie berichtete, was geschah und
kommentierte, urteilte also. Diese Rolle wurde so wichtig, dass man von
der Presse als der vierten Macht sprach. Respektvoll oder respektlos
schrieb sie über alles und, wenn man so will, mischte sie sich in alles
ein. Das fand Hein richtig und gut, auch wenn er manchmal über die
Methoden oder den Stil meckerte. Nun hat sich zwar die Nachrichtenszene
gründlich geändert, nicht der Rundfunk ist das schnellste Medium, sondern
„das Handy”. Immer noch ist Hein froh, dass „die Presse” sich einmischt,
recherchiert, prüft, berichtet und urteilt. Doch mittlerweile ist die
Presse eine riesige Industrie geworden, zig Fernsehsender und
Rundfunksender kann Hein empfangen 24 Stunden am Tag und das das ganze
Jahr über, eine Industrie, die sehr viel Macht besitzt. Und plötzlich
fragt Hein sich, wer denn über diese Industrie berichtet, wer verfolgt sie
mit kritischen Fragen, mischt sich ein, recherchiert, prüft, berichtet und
urteilt? Und wer macht daraus ein Blatt oder eine Sendung auf eine Weise,
die bei Millionen Lesern, Hörern oder Zuschauern ankommt, die alle diese
Medien konsumieren?
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Tja, und noch was fiel Hein und seiner Herzallerliebsten auf, wenn
sie im Büffetrestaurant an Bord aßen: der Mut, Essen in die Hand zu
nehmen, das höher war als der offene Mund. Hamburger quetschte man mit
beiden Händen flach, doch die meisten blieben so hoch, dass der Essende
nicht abbeißen, sondern nur abknabbern konnte und darauf achten musste,
dass nichts aus dem Brötchen zur Seite wegrutschte. Hein konnte dem nicht
viel abgewinnen, wollte Hamburger aber in dem Land, in dem sie entwickelt
worden waren, wenigstens mal probieren. Er bat um Messer und Gabel und
zerteilte, was auf dem Teller lag, in Schichten. Rechts lag schließlich in
drei Scheiben das Brötchen, durchsuppt und weich und rechts daneben der
große Klops, unter ihm ein Salatblatt, auf ihm eine Scheibe geschmolzenen
Käse und weiche Zwiebelringe. Rote und gelbe Soßenspuren hatte Hein zu
Seite geschoben. Und so genoss er, was einst kunstfertig gestapelt worden
war. Auf den Käse verzichtete er beim zweiten Bissen. Das reine
Rindfleisch war ein Hochgenuss. Eigentlich, dachte Hein, als er sich
schließlich die Lippen mit einer Papierserviette abwischte, könnte man das
Gehackte ja ohne alles anbieten, einfach so. Und vielleicht ein Glas Wein
dazu.
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