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„Ich kenne jemand draußen in Tomelilla, der Verstärkung braucht. Du bist doch aus der Gegend, oder? Ist ’n feiner Kerl. Boris heißt er. Mit reichlich Knete. Er fragte, ob ich einen zuverlässigen Typen kenne, der ihn bei … allem Möglichen unterstützen könnte”. Mike, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, sagt zu. Und so beginnt auf Seite 11 der erste Faden der Story. Der zweite dreht sich um Mikes Sohn Robin: „Überall wohnen Jugos und Araber. Sie sind dabei, die Macht an sich zu reißen. Wir müssen ihnen richtig einheizen”. „Wir” sind eine Gruppe gewalttätiger schwedischer Jugendlicher aus der rechten Szene. Der dritte Faden spult sich von Amela aus ab, die nachts nicht schlafen kann und durch die Straßen des kleinen Ortes Tomelilla wandert. Sie war in Sebrenica Lehrerin und verlor im Bürgerkrieg ihren kleinen Sohn durch serbische Soldaten. Den, der ihn tötete, entdeckt sie jetzt wieder – nachts in der schwedischen Stadt: „Er, der ihr Leben zerstört hatte. Er, der ihr den Jungen weggenommen hatte.” Ein vierter Faden beginnt bei Rolle, Mikes Jugendfreund. Aus solchen Zutaten werden in Schweden gewöhnlich Krimis der sozialkritischen Art gebacken. Olle Lönnaeus legt mit diesem Buch seinen zweiten Krimi vor, der im Schwedischen einen sehr viel treffenderen Titel hat: „Mike Larssons rymliga hjärta”, Mike Larssons großes Herz. Denn das beweist der Protagonist immer mal wieder. Schon für seinen ersten Roman „Das fremde Kind” zeichnete die schwedische Krimi-Akademie Lönnaeus 2009 mit dem Preis für das beste Debüt aus. „Der Tod geht um in Tomelilla”, sein zweiter Roman, wurde nominiert für den besten schwedischen Kriminalroman des Jahres 2010. Lönnaeus, Jahrgang 1957, arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren beim „Sydsvenska Dagbladet” und hat für seine investigativen Reportagen einige Preise gewonnen. Er wuchs im südschwedischen Tomelilla auf und lebt heute in Lund. Lönnaeus’ Stil ist nicht der eines hartgesottenen Reporters. Dieser Autor erzählt gern, fast beiläufig. Und wir mögen seine Helden vom Rande der Gesellschaft, so etwa, wenn Mike sich etwas für sich und seinen Sohn wünscht: „Eine liebevolle Frau, die ihn mit heißer Schokolade erwartete, wenn er aus der Schule nach Hause kam. Die dem Jungen bei den Hausaufgaben half, dafür sorgte, dass sowohl Mike als auch Robin saubere Unterwäsche im Schrank hatten, und die schließlich sonntags die Verwandtschaft mit einem leckeren Rumpsteak in Sahnesoße und eingelegten Gurken bewirtete”. Eine überschaubare Zahl von Personen bevölkert diesen Krimi. Und jede hat ihr eigenes Schicksal, das der Verfasser nicht in aller Breite ausmalen muss, um uns zu fesseln. Knappe Rückblenden reichen. So kann man diesen Krimi auf mancherlei Weise lesen und durchaus mehrmals, als Schilderung eines Vater-Sohn-Konflikts etwa, als Beschreibung eines Kriegsverbrechens und seiner Folgen oder als Auseinandersetzung mit der Macht des Staates. Doch vermutlich wird es dem Leser beim ersten Mal so |
gehen wie dem Verfasser dieser Zeilen. Man beginnt mit dem üblichen Interesse zu lesen, dann mag man den plaudernden Ton, die Helden und ihre Vergangenheit und plötzlich kann man nicht mehr aufhören. „Der Tod geht um in Tomelilla” ist einer von den leisen Thrillern, ein erfreulich neuer Ton in der schwedischen Krimiliteratur. |
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Tja,
endlich wurde es wieder hell. Hein Mück
gehört zu denen, die früh aufwachen und früh aufstehen. Dabei ermuntert
ihn der early morning tea, ein kräftiger Schwarztee mit Sahne und Zucker.
Die erste Tasse wird noch im Bett getrunken, die zweite schon am Tisch.
Spätestens dann sollte es hell sein. Ab Dezember ist das leider nicht mehr
der Fall. Am schlimmsten ist es um Weihnachten mit stockdunklen langen
Nächten. Im Januar wird das Morgendunkel etwas heller, im Februar noch
etwas mehr und ab März ist
Hein Mücks Morgenwelt wieder in Ordnung. Bis zu dem Tag, an dem die Uhren
eine Stunde zurück gestellt werden. Auf einmal fehlt Hein Mück eine Stunde
und der Wecker reißt ihn wieder in totaler Dunkelheit aus dem Schlaf. Zwar
weiß er, dass er die Stunde im Herbst zurück bekommt, aber warum muss die
Uhr überhaupt vor gestellt werden? Um Strom zu sparen – hieß es einst.
Doch das soll nicht eingetreten sein. Also könnte man auf Sommer- und
Winterzeit eigentlich verzichten. Aber offenbar hat sich jedermann daran
gewöhnt und ganz Europa macht mit, Russland ausgenommen. Da wird Hein
Mücks Wunsch kaum Chancen auf Erfüllung haben: Lasst es bei einer Zeit,
das ganze Jahr über.
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Tja,
im Frühling wird’s
grün, zuerst ganz sutje und dann
ist’s
plötzlich überall. Hein Mück liebt besonders die ersten Anfänge.
Monatelang waren die Bäume kahl, Zweige und Äste bewegten sich nicht
einmal, wenn der Wind kräftig wehte. Vor
grauem Himmel standen dunkle Linien, die ganze eigene Muster und
Formen bildeten. Hein Mück erkannte natürlich seine Bäume wieder, Erlen,
Eichen, Pappeln, Birken, Linden – kein Muster glich dem anderen. Das Auge
hatte sich an die harten schwarzen Linien gewöhnt. Im März wurden sie
weicher. Die dünnen schwarzen Linien zeigten plötzlich so etwas wie grüne
Schatten. Die baumbewehrte Chaussee, die vom Deich nach Süden führte,
hatte kein dunkles Geflecht mehr. Ein deutlicher
Grünton hatte sich in das Schwarz der Kronen eingeschlichen. Hein
Mücks Herz hüpfte, der Frühling war nahe, die allerersten Anzeichen waren
nicht zu übersehen. Der Wind drehte nachts auf Südwest und als Hein Mück
am anderen Morgen die Chaussee wieder befuhr, war aus dem zarten grünen
Geflimmer ein festes Muster geworden. Die Bäume schlugen aus, Knospen,
Blätter, Kätzchen waren erkennbar. Ja, der Frühling war hoch im Norden
angekommen.
►►►
Tja,
Hein Mück ist Fußgänger, fährt Rad und Auto,
benutzt Busse, Straßenbahn und Eisenbahn, fliegt auch manchmal gern und
ist ein großer Seefahrer. Nur als Fußgänger und Radfahrer braucht er keine
fremde Energie, die man teuer einkaufen muss. Doch seine Spuren in Form
von CO2 hinterlässt er mit jeder Bewegungsart. Dass er als Fußgänger das
Klima mehr beeinflusst als als Autofahrer, hat er erst nach der Lektüre
des Buchs „Deutschland schafft das Auto ab”
erfahren. Der Autor, Wolf Wegener, schreibt, nur 1,2 Prozent der gesamten
CO2-Emissionen werden durch den Mensch verursacht, „die restlichen 98,8
Prozent stammen aus natürlichen Quellen, vor allem von Bodenbakterien.”
Und dann zitiert er einen englischen Journalisten, dass durch Gehen auf
kurzen Strecken mehr CO2 Emissionen in die Atmosphäre gelangen als bei
einer Fahrt mit dem Auto über die gleiche Strecke. Warum? Weil die
Kalorien ersetzt werden müssen, die man beim Gehen verbrennt. Und dieser
Ersatz setzt mehr Schadstoff frei als die Autofahrt. Hein Mück denkt immer
noch darüber nach, wie er sich verhalten soll? Bewegen muss er sich, um
seine Bedürfnisse zu befriedigen. Tja, und das wird er denn nun wohl
weiterhin so machen wie bisher.
►►► Tja, einwintern kannte Hein Mück aus Jugendjahren auf dem Land, wenn zum Beispiel Kartoffeln in Mieten, einen halben Meter tief in der Erde und mit Stroh und einer Erdschicht abgedeckt, der Winterkälte trotzten und die Menschen auf dem Hof ernährten. Das Wort „einwintern” hörte er neulich wieder, als es um das Umhängen der eigenen Garderobe ging. Die dicke, vliesgefütterte Jacke, die bis auf die Oberschenkel reicht, wurde zu Beginn des Frühlings eingewintert, und die Winterschuhe, die in Jugendjahren „hohe Schuhe” genannt wurden, wanderten auch in ihre verdiente Ruhe. Die Jacke wurde gründlich ausgebürstet, die Schuhe gründlich gesäubert und eingecremt, doch nicht poliert. Lange Unterwäsche verschwand hinten im Schrank, die dicken Socken wanderten in die unterste Schublade. Und als dann die Sommerkleider |
wieder vorn hingen, fiel das Wort vom Einwintern. Eigentlich ist das ja das falsche Wort, für das, was geschehen war. Die dicken Klamotten und die festen Schuhe wurden doch eigentlich eingesommert. Aber wer würde das Wort verstehen?
►►►
Tja,
Hein Mück und seine Herzallerliebste haben ihre
Seereisepläne fürs Jahr unter Dach und Fach. Wenn man schon ein bisschen
herumgekommen ist, lässt sich nicht vermeiden, manche Häfen zweimal zu
besuchen. Schon in den Broschüren werden manchmal Ausflüge vorgestellt und
häufig sind das dieselben, die schon beim ersten Besuch auf dem Programm
standen. Damals hatten sie sich für den schönsten entschieden, fünf Stunden
über Land mit zwei oder drei Stopps. Die anderen Ausflüge reizten damals
nicht und diesmal auch nicht. Also enttäuscht sein? Im Gegenteil. Hein Mück
kann mit seiner Herzallerliebsten nun fünf Stunden durch eine Stadt bummeln,
wie etwa Dover oder Cork. Hein Mück hat in seinem Notizbuch eine Seite
reserviert, in dem er notiert, was es in England und Irland leicht, bei uns
aber schwerer zu kaufen gibt. Er wird dafür Platz in seinem Koffer lassen.
Schon jetzt stehen auf der Liste ein Brotaufstrich aus Bierhefe, bitter
eingelegte Walnüsse, eine Regimentskrawatte, ein Schal einer Universität.
Und dann freut Hein sich auf eine Pause im Pub, in der das Bier aus dem Fass
gepumpt, nicht mit Kohlensäure gefördert wird. Es wird mit einer ganz
flachen Schaumkrone in einem Glaskrug serviert, bis zum Rand gefüllt.
„Shopping und having a drink”
stehen auf keinem Ausflugsprogramm, genussvoll sind sie allemal.
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Tja,
Hein Mück hört nur einmal am Tag richtig
Radio – morgens im Bad. Er und seine Herzallerliebste mögen das Erste
Programm ihres Senders und erfahren so schon in aller Frühe das Wichtigste
aus aller Welt, eingebettet in viel Musik. Ganz besonders mag Hein Mück die
Art und Weise, wie das Wetter für den Tag vorhergesagt wird. Ganz offenbar
hat der Sender einen Meteorologen
unter Vertrag, mit dem sich der Mann am Mikrofon locker unterhält. Hein
erinnert sich an seine Schulzeit und seine Segeljahre, als Wetterkunde ein
Buch mit sieben Siegeln war. Da war von Okklusionen die Rede, von Fronten,
Hektopascal, Kumuluswolken und Zyklonen. Heute geht das im Funk ganz anders
her. Da plaudert der Fachmann von Hochnebel, Wolkenbändern und gebraucht
weder Beaufort noch Meter pro Sekunde, wenn er vom Wind spricht. Der
Moderator fragt, der Fachmann redet verständlich – kurzum, jedermann weiß,
wie’s
Wetter werden wird. Doch auch freundliches Plaudern lässt Irrtümer zu.
Manche Vorhersage tritt nicht ein oder nicht zum angesagten Zeitpunkt. Wenn
man zum Beispiel die Radtour auf den Nachmittag verschiebt, weil dann die
Wolken verschwunden sein werden und die Sonne lacht, ist Hein Mück sauer,
wenn der Himmel bis abends bedeckt bleibt und die Radtour ausfällt. Nun
kennt Hein Mück aus seinem Berufsleben das so genannte „De-Briefing”,
die gemeinsame kritische Diskussion über den Ablauf einer geplanten Sache.
So etwas täte den Meteorologen und Moderatoren auch gut. Man könnte sich ja
darüber unterhalten, wie und warum das tatsächliche Wetter von dem
vorhergesagten abwich. Denn dass das der Fall ist, erlebt Hein Mück an
seiner Sandküste immer wieder. Es wäre doch schön zu hören, warum das
geschah.
►►► Tja, Hein Mück liebt Karten, Seekarten und Landkarten. Bei ihm gibt’s keine Reise ohne Karten. Wer sich fremden Küsten näherte, brauchte exakte Unterlagen für die Navigation. An der heimischen Küste, an der bekanntlich die Sände wandern, waren Seekarten schnell überholt. Fahrwasser änderten ihren Lauf, Tonnen wurden verlegt, Kennungen wechselten. Er brauchte also immer wieder mal neue Karten. Im Lauf vieler Segeljahre kam Hein Mück so zu einer ganzen Sammlung von Seekarten, die ausgemustert worden waren, weil Entscheidendes nicht mehr stimmte. Was macht man mit alten Seekarten? Hein Mück benutzte sie als Schreibtischunterlage, manche bedeckten die ganze Arbeitsfläche. So konnte er in Gedanken und Erinnerungen immer noch mal die Reise machen, für die er diese Karte gekauft hatte. Er schmeckte wieder Salz auf den Lippen, hörte den Wind pfeifen und spürte manchmal sogar, wie der Sessel am Schreibtisch im Rhythmus der Seen schaukelte. Hein arbeitete so lange auf einer Karte, bis Flecken von Tee, Kaffee, Tinte und manchmal auch Rotwein sie unansehnlich gemacht hatten. Die schmuddelige wurde ausgewechselt, eine neue wurde auf den Schreibtisch gezogen. Und nun konnte eine neue Reise der Erinnerung beginnen – unter der englischen Küste oder zwischen den norwegischen Schären. Und als neulich Hein Mücks Schwester sich seinen Arbeitsplatz mal ansah, gestand sie, Karten auch zu lieben. In ihrem Fall waren es Landkarten und Atlanten. Und genau wie Hein Mück auf seinen Seekarten fährt seine Schwester Wegen und Straßen nach und erzählte lebhaft, wie sie einst durch Pakistan nach China gereist war und just an dieser markanten Stelle der Hochstraße einen faszinierenden Blick zurück in ein Tal werfen konnte, über dem die untergehende Sonne Pagodenspitzen zum Glühen brachte. Offenbar liegen also Reiselust und Erinnerung dicht nebeneinander auf den Genen der Familie Mück. |
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