BORDTAGEBUCH NORDPOLFLUG | AUSGABE 4/2012 | ||||||
Air Berlin Airbus AB-1111 mit der Kennung D-ALPI über Nordost-Grönland – auf dem Rückflug vom Nordpol. |
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Jeder „normale”
Fluggast in Berlin-Tegel hat sich an diesem denkwürdigen Morgen sicher zwei
Mal die Augen reiben und hinschauen müssen, was ihm da auf dem
Flugankündigungs-Monitor präsentiert wird: 5. Mai 2012, AB 1111 Nordpol,
8.00 Uhr, Gate C 81. – Ein Traum? Für 250 Fluggäste keineswegs. Die wollen sich
relativ preiswert einen Lebenstraum erfüllen. Nachdem der Airbus A 330-200
mit der Kennung D-ALPI überpünktlich abgehoben hat, begrüßen sie Manuel
Kliese und Dr. Sven Maertens, Geschäftsführer der veranstaltenden Deutschen
Polarflug, einer Vereinigung von Luftfahrt- und Arktis-Enthusiasten, zum
längsten „innerdeutschen Rundflug” von
Tegel nach Tegel. Nicht verwunderlich, dass seine Gästeschar total bunt ist.
Aus aller Welt sind die „Pol-Verrückten”
gekommen, um, wie es einer formuliert, „eine Reise mitzumachen, die so
selten ist wie Menschen am Nordpol”. Als
erster erfuhr das der norwegische Polarforscher Roald Amundsen, als er 1926
mit dem Luftschiff NORGE am Pol landete. Wenn man vor der Reise jemandem erzählte, man wolle
am Wochenende zum Nordpol, dann bekam man häufig zur Antwort: „Da waren wir
schon mit dem Wohnmobil”. Gemeint war
natürlich das Nordkap, weil niemand sich einen Tagesausflug zum Nordpol
vorstellen konnte.
Manuel Kliese setzt noch eins drauf, wenn er in
seiner Begrüßung sagt: „Sie nehmen heute an einer Reise teil, die mitten im
frühlingshaft milden Mitteleuropa beginnt und Sie zu Gebieten auf der
Nordhalbkugel bringt, die zum Atemberaubendsten gehören, was man auf unserem
Planeten überhaupt entdecken kann. Heute werden Sie zu einer winzigen Gruppe
von Menschen gehören, die solch abgelegene Seiten der Erde sehen wird, wie
sie fast allen Anderen verborgen bleiben. Das Nordpolarmeer und insbesondere
den geografischen Nordpol konnten bislang nur sehr wenige Menschen
erblicken. Ein Punkt, für dessen Erreichen vor gerade einmal 100 Jahren
berühmte Entdecker der Polargebiete nicht selten mit dem Leben bezahlten.
Ein Punkt, von dem selbst in unserer offenen Informationsgesellschaft nur
wenige Bilder aufzutreiben sind und an dem ‚Google
Earth’ noch immer ein schwarzes Loch
anzeigt. Heute wird dieser mystische Punkt, die nördlichste Position unseres
Planeten, für Sie zum Greifen nahe sein. Dieser fast spielerische Umgang mit
Entfernungen auf der Erde zeigt uns vor Allem aber, wie klein unser
Lebensraum eigentlich ist. Die Grenze zur Arktis ist nicht einmal vier
Flugstunden von Deutschland entfernt. An ein und demselben Tag erreichen wir
den Nordpol und umrunden den gesamten Nordatlantik. Jeder von uns wird die
Reise anders erleben und in unterschiedlichen Gedanken verarbeiten”.
Via Stralsund, Rügen, Kopenhagen, Göteborg, Oslo
steuern der erfahrene Polarpilot Flugkapitän Wilhelm Heinz und seine Erste
Offizierin Patricia Jörsch die norwegische Westküste an, die sich weitgehend
unter Wolken versteckt. Doch schon über den Lofoten klart es auf. Der
„Knaller” ist die Bäreninsel.
Normalerweise hüllt sich die raue Insel in der ebenso rauen Barentssee in
dicke Wolken ein, doch an diesem 5. Mai liegt sie auf dem Präsentierteller:
wie ein mit Puderzucker bestäubter Pfannkuchen im tiefblauen Meer. Nicht nur
die Fotografen jubeln und sind überwältigt. „Wir sind in der Arktis”,
beginnt Alexander Soucek von der Europäischen Weltraumbehörde ESA, einer der
mitreisenden Lektoren, seinen ersten Vortrag, „und das kommt vom
griechischen Wort arctos und heißt Bär. Je weiter nördlich man kommt, desto
höher steht das Sternbild des Kleinen Bären, am Pol dann im Zenit”.
Übrigens sei die Arktis ein „Kontinent im Wasser”,
das von zwei bis vier Meter dickem Eis bedeckt sei. Anders als die aus
festem Land bestehende Antarktis.
„Wir beginnen jetzt mit dem Sinkflug von 10.000 bis
auf 2500 Meter”, meldet sich der Kapitän
aus dem Cockpit und nimmt Kurs auf Spitzbergen. Auch er ist polarbegeistert
und daher hochmotiviert, flexibel zu reagieren: auf wechselnde Wetter- und
Sichtverhältnisse. Spitzbergens Südküste, von Treibeis umgeben, kommt
in Sicht. Manuel Kliese von der Deutschen Polarflug – er lebt und arbeitet
in Norwegen und war für längere Zeit auf Spitzbergen – nimmt Kontakt auf zu
einer polnischen Forschungsstation im Hornsund. Während AB 1111 über sie
hinweg düst, hören die Nordpolfahrer seine Satellitentelefon-Unterhaltung
mit Dr. Adam Nawrot. Der weiß zu berichten, dass die Eisbären-Population in
diesem Jahr rapide abgenommen habe: von sonst 60 auf nur noch 27. „Ein
Ergebnis der Klima-Erwärmung”, erklärt er
seinen erstaunten Zuhörern im gemütlich warmen Flugzeug über ihm, „der
vergangene Winter war rund 7,5° wärmer als sonst, so dass
das Seeeis abgenommen hat und damit auch die Robbenzahl, Hauptnahrung der
Bären”. Ein weißes Plüschtier ziert
übrigens das Cockpitfenster, die Gäste klemmen ihre an die Sitze. Moderator Knut Breidenbach, im „wirklichen” Leben Kreuzfahrtdirektor und mit dem legendären Berliner Eisbären namensverwandt, geht auf Fragen ein, zum Beispiel die Klimaverträglichkeit des Fluges. Er bittet die Gäste, für die Aufforstung des Regenwaldes zu spenden, „dann ist der Flug innerhalb von zwei Jahren kompensiert”. Außerdem fliege man ja nur einmal pro Jahr.
„Die Zeit vergeht wie im Flug”, findet Sitznachbarin Karin Peisker-Wichert, „auch weil alles so schön ist!” Alle Seh-Leute sind angesichts der tief verschneiten Berglandschaft mit den charakteristischen Erosionsrinnen wie aus dem Häuschen, ständig in Bewegung und sehr kooperativ. Zum Beispiel werden ohne zu murren die Plätze gewechselt, damit jeder nach unten schauen, staunen, fotografieren oder filmen kann. Wie bestellt reißt die Wolkendecke immer mehr auf und gibt den Blick frei auf die fantastische Gipfelflur und ihre Täler. |
Über der Magdalenenbucht erinnert sich der Autor an
seine Kajakfahrt durchs Eis und die Begegnung mit seinem früheren
schleswig-holsteinischen Schulkameraden Arved Fuchs auf dem Segler
DAGMAR AAEN.
Beide waren schon am Nord- und Magnetpol und treffen sich nach vielen Jahren
erstmals im arktischen Eis wieder. „Du verrückter Hund!”,
begrüßt er den Kanuten lachend, der an der Bordwand auf und nieder
schaukelt. Seine Kajak-Expeditionen haben den „polarisierten”
Autor animiert, es ihm ein klein wenig nachzutun, auch schon an der
grönländischen Westküste.
11.55 Uhr. AB 1111 geht auf 80 Grad Nord wieder in
Steigflug über. Während am Boden -15 Grad herrschen, sind es außerhalb der
Kabine minus 50 Grad. Bei der Hinlopen-Straße geht das Eismeer ins
Nordpolarmeer über. Zeit für Alexander Soucek und seine spannenden
populärwissenschaftlichen Ausführungen: „Das Polarmeer ist sehr sensibel und
die Eisschicht nur zwischen zwei und vier Meter dick. Wenn das Süßwasser
taut, wirkt sich das gleich doppelt schlimm aus”.
Mit der Veränderung des Salzwassergehalts ändere sich auch die
Temperaturzirkulation in den Meeren. „Sollte also der Golfstrom kein warmes
Wasser mehr nach Europa transportieren, wird es richtig kalt bei uns – bis
zu minus 30 Grad”. Darüber hinaus
reflektiere die bisher riesige Eisfläche das Sonnenlicht zurück ins All.
„Aber getautes Wasser kann die Energie nicht so stark zurückgeben”.
Die Folge sei, dass das Meerwasser sich erwärme und ausdehne. „Dadurch
steigt der Meeresspiegel mit verheerenden Auswirkungen”. Seine Firma ESA filme täglich mit Satelliten den
Planeten, sammle Daten und dokumentiere Veränderungen. „Das Eisvolumen hat
im Vergleich zu den Vorjahren abgenommen”,
stellt er ernüchternd fest.
Nach einer Stunde Nachdenklichkeit wächst allerdings
die Spannung. Allround-Talent Manuel Kliese startet seinen lange erwarteten
Countdown aus dem Cockpit: „Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier,
drei, zwo, eins: 90 Grad Nord! Wir sind über dem Nordpol!”
Auf dem Display sieht man das kleine Flugzeug auf dem Gipfel der Welt,
darunter „Nordpol”. 13.15 Uhr: Ein
Jubelruf geht durch die Reihen, die zuvor von den freundlichen
Flugbegleitern gereichten Champagnerflaschen fliegen auf und man prostet
sich zu. „Das ist ja wie zu Silvester”,
freut sich jemand Die Maschine legt sich in die Kurve, Gläser rutschen
zu Boden. Zwei Mal links- und zweimal rechts herum lässt Kapitän Wilhelm
Heinz seine D-ALPI um die Erde kreisen: in nur acht Minuten und in nur 1500
Meter Höhe. Dabei wird auch vier Mal die Datumsgrenze überquert, alle
Zeitzonen sowie alle 360 Längengrade. Bei strahlendem Sonnenschein und -25
Grad. Die Eisfläche ist von Spalten und Rissen durchzogen, aber offenes
Wasser ist nirgends auszumachen. „Nördlicher geht’s
von hier nicht, nur nach Süden”, lacht
Manuel Kliese und freut sich, dass seine Gäste hochzufrieden sind. Auch mit
dem danach gereichten Polar-dinner Elchsteak, Lachs und Saibling. „Wie spät ist es jetzt hier eigentlich?”,
möchte ein Gast von Knut Breidenbach wissen. „Das können Sie sich aussuchen”,
antwortet er, während der Airbus die Zeitzonen in Minutenschnelle schneidet.
„Solche grandiosen Erlebnisse sind bisher sicher nur wenigen Menschen
vergönnt gewesen”, meint die weitgereiste
Karin Peisker-Wichert euphorisch und schlürft genüsslich ihren
Nordpol-Champagner.
Eine Stunde Flugzeit vom Pol: das Nordostkap an der
Ostküste Grönlands voraus. Bei Sonne pur präsentiert sich die größte Insel
der Welt in ihrer ganzen eisigen Schönheit. Aus 1500 bis 2000 Metern genießt
man atemberaubende Ausblicke: vereiste Fjorde, endlose Gletscher, bis zu
1700 Meter hohe Berge, gewaltige Eisberge in der Grönlandsee vor der Küste.
Über Island und den Vulkan Eyjafjallajökull, die sattgrünen Shetland-Inseln, Deutsche Bucht mit Sylt, Föhr und Helgoland und Schleswig-Holstein – der 97 Kilometer lange Nord-Ostsee-Kanal mit dahin kriechenden Frachtern ist in ganzer Länge zu sehen – führte der Expeditions-Sonderflug wieder zurück in die Spree-Metropole. AB 1111 wird mit Regen empfangen, was keinen auch
nur im geringsten stört, denn man kann gleich drei Superlative verbuchen:
die ungewöhnlichste Reisemöglichkeit in der Geschichte des Tourismus, den
kuriosesten Tagesausflug sowie die kürzeste Expeditionsreise überhaupt. Knut
Breidenbach hält das Schlusswort: „Schlüpfen Sie in die Rolle von
Botschaftern, um von dem einmaligen Erlebnis zu berichten. Zeigen Sie Ihre
Fotos, lassen Sie auch andere an dem Naturwunder teilhaben!”
Das letzte stabile und zugleich hochsensible Ökosystem der Erde verdient es! Nach rund 10.000 Kilometern, zwölf Stunden Non-Stopp-Flug und knapp 70 Tonnen Kerosinverbrauch setzt die Maschine pünktlich um 20.00 Uhr wieder in Berlin-Tegel, kurz TXL genannt, auf. Alle sind irgendwie stolz, auch noch „die kürzeste Weltumrundung der Fluggeschichte” erlebt zu haben, wie das Polarflug-Zertifikat, das jeder bekommt, schwarz auf weiß bestätigt.
Airbus A 330-200; Länge: 59.00 m, Höhe: 18,23 m,
Spannweite: 60,42 m, Abflugmasse (maximal): 233.000 kg, Reichweite
(maximal): 12.300 km, Reiseflughöhe (maximal): 12.500 m, Standschub
(maximal): 2 x 68.000 lbs, Reisegeschwindigkeit: 890 km/h,
Treibstoffverbrauch 3,3 l/100 PKM, Fluggesellschaft: Air Berlin; Fluglänge
entspricht der Strecke Berlin-Bangkok.
Sonderflug zum Nordpol von PILOTSEYE.tv, das Beste aus 12 Flugstunden Richtung Nordpol; Bestellung bei www.amazon.de/nordpol-sonderflug |
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Die Bäreninsel zwischen Nordkap und Spitzbergen wolkenfrei – eine absolut seltene Aufnahme. |
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Direkt über dem Nordpol in 1500 Meter Höhe – 90 Grad Nord ist erreicht. |
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Die Crew des Air Berlin-Airbus A 330-200 mit der Kennung D-ALPI. |
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