Das Reich der
Schwarzen Pharaonen, das Land des Nils, der Nubischen und der Lybischen
Wüste … Der Sudan ist voller Geheimnisse und unentdeckter Schätze, denn er
steht noch ganz am Anfang seiner touristischen Karriere. Wem Echtheit und
Ursprünglichkeit wichtiger sind als Luxus und urbaner Komfort, dem bietet
das große Land im Nordosten Afrikas mit seinen landschaftlichen und
kulturellen Reichtümern, seinen afrikanischen, arabischen, muslimischen und
christlichen Traditionen und nicht zuletzt mit seinen wunderbaren,
gastfreundlichen Menschen jede Menge Stoff und Raum für einzigartige
Reiseerlebnisse.
Der Boden unter
meinen Füßen ist trocken, hart und rissig. Unerbittlich hat die Sonne auch
den letzten Tropfen Flüssigkeit aus ihm herausgezogen. Von den Wassermassen
und dem Schlamm, die den ganzen Herbst lang hier noch alles bedeckten, ist
nur das graue Mosaik des aufgeplatzten Lehmbodens übriggeblieben. Die Zeit
von Regen und Hochwasser ist vorbei. Es ist Ende Dezember, und ich stehe in
Ghabat al-Sunut, einem „Wald” im Überschwemmungsgebiet zwischen Blauem und
Weißem Nil, die sich wenige hundert Meter von hier entfernt vereinigen.
Eine Schafherde
taucht aus dem Nichts auf, eilt blökend vorbei und verschwindet auf der
anderen Seite des Horizonts. Stünden da nicht die futuristischen Türme des
neuen, im Bau befindlichen Wohn- und Geschäftsviertels Al-Mogran, könnte man
meinen, irgendwo fern jeder Zivilisation zu sein. Doch schon kurz darauf bin
ich wieder mitten drin in der Riesenmetropole Khartoum. Mit fast sechs
Millionen Einwohnern ist ihr Ballungsraum der viertgrößte in ganz Afrika.
Neben der Sammlung
des Nationalmuseums und einer Reihe anderer historischer Sehenswürdigkeiten
bietet die schnell in alle Richtungen wachsende Hauptstadt des Sudan ihren
Besuchern auch immer mehr Annehmlichkeiten einer modernen Super-City. Neue
Hotels, Restaurants und Cafés etwa entstehen derzeit mit dem
Städtebauprojekt „Al-Mogran” (Zusammenfluss) genau dort, wo sich die zwei
Nilflüsse begegnen. In naher Zukunft wird der in wenigen Jahren aus dem
Boden gestampfte Down-Town-Destrict mit Doppelflussblick Arbeitsplatz von
rund 60.000 und Wohnort von rund 45.000 Menschen sein.
Weihnachten mit den Derwischen tanzen
Schon jetzt ist die
„Nile Street” eine beliebte Flaniermeile. Gesäumt von einigen historischen
Gebäuden wie dem Präsidentenpalast oder dem Ende des 19. Jahrhunderts
gebauten Grand-Hotels Holiday Villa & Suites Khartoum, in dem schon
Berühmtheiten wie Queen Victoria oder Winston Churchill nächtigten, bietet
die Promenade auch die besten Aussichten auf die beiden Nile und ihre
Brücken, auf Schiffe und Boote sowie die Flussinsel Tuti.
Neben einer Baustelle am Ufer beobachte ich, wie die
hell- und dunkelgrauen Wassermassen der beiden Ströme in majestätischer Ruhe
ineinanderfließen: Von Osten, aus dem äthiopischen Hochland kommend, trifft
der wasserreiche Blaue Nil auf seinen „großen Bruder”. Der Weiße, trotz
seiner geringen Wassermengen als „eigentlicher” Nil betrachtet, stammt aus
dem Süden. Er entspringt in Ruanda und Tansania aus den Quellflüssen des
Kagera, dem größten Zufluss des Victoriasees. Von dort bis zur Mündung sind
es 6.852 Kilometer. Kein fließendes Gewässer der Erde legt einen längeren
Weg zurück.
Wo sich die zwei
Flüsse treffen, um ihre Reise gemeinsam als „Nil” rund 5.960 Kilometer durch
den nördlichen Sudan und ganz Ägypten bis zum Mittelmeer fortzusetzen, ist
heute der Mittelpunkt von Groß-Khartoum. Dazu gehört neben der Hauptstadt
Khartoum-City und Al-Khartoum-Bahri auch Omdurman, das religiöse Zentrum des
Landes. Repräsentiert wird dieser Status nicht nur durch die Islamische
Universität Omdurman und zahlreiche Moscheen, sondern auch durch die
Aktivitäten verschiedener Sufi-Bruderschaften – sogenannter Tariqas.
An jedem Freitag
treffen sie sich auf einem Platz vor der Hamed-al-Nil-Moschee zu rituellen
Tänzen. Das von einem Friedhof umgebene islamische Gotteshaus beherbergt das
Grabmal von Scheich Hamed al-Nil. Er lebte im 19. Jahrhundert und war ein
bedeutender Führer der Qadiriyya, eines der ältesten islamischen mystischen
Sufi-Orden.
Es wird getrommelt,
gesungen und getanzt. In einem großen Kreis ringsum stehen die Zuschauer und
werden animiert, mitzumachen.
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Die
temperamentvolle, rhythmische Musik
und die ausgelassene, fröhliche Atmosphäre lässt keinen kalt. Am Ende tanzen
alle und haben sichtlich Spaß. „Merry Christmas” sagt ein Mann zu mir. Für
einen Moment hatte ich vergessen, dass zu Hause in Europa gerade Weihnachten
gefeiert wird.
Zum Picknick an den Nilstausee
„Willst du uns am 1.
Januar zu einem Picknick am Nil begleiten?”, hatte Hameed gefragt. „Es ist
unser Nationalfeiertag. Die Kollegen meiner Schwester haben einen Bus
organisiert. Du bist eingeladen. Es wird bestimmt lustig”.
Und ob es das wurde.
Mein Gastgeber hatte nicht zuviel versprochen. Was ich allerdings nicht im
Traume gedacht hätte, als ich meinen Rucksack für den Ausflug packte: Ich
würde dieses für mich bis dahin sonderbarste Neujahrserlebnis mit tausenden
Menschen teilen …
Dass wir bei diesem
„Picknick” mehr als vier oder fünf sein würden, war mir spätestens klar, als
uns kein Sechs- oder Achtsitzer, sondern tatsächlich ein Bus abholte, mit
rund 40 gutgelaunten Leuten besetzt. Dass alle so fit waren an diesem Morgen
des 1. Januar, lag unter anderem daran, dass es im Sudan keinen Alkohol
gibt. Der gestrige Silvestertag begann mit der Opferschlachtung eines
Schafes.
Das nachfolgende
Barbecue und reichlich andere köstliche Mahlzeiten, begleitet von
traditionellen Trommelklängen und Gesängen, dauerten bis zum Abend, der –
angenehm und heiter – bei Tanzmusik und Cola in einem äthiopischen
Restaurant schnell vorbei ging. Und keiner musste hinterher irgendeinen
Rausch ausschlafen.
Aus Omdurman hinaus
geht die Fahrt, vorbei an kargen Sandlandschaften, dünn besiedelt, kaum
bewachsen. Irgendwann wird der Verkehr wieder dichter und kommt schließlich
ins Stocken. Erst jetzt sehe ich, dass unser Bus hinter vielen anderen
Fahrzeugen und auf einem befestigten Damm steht. Die Wasserfläche rechts
verschwimmt im nebelgrauen Himmel. Es ist der Weiße Nil, der hier, etwa 45
Kilometer südlich von Khartoum gestaut wird.
Harmonie regiert
das Chaos
Jebel-Aulia-Damm
heißt das von den Briten errichtete, bis zu 22 Meter hohe Bauwerk. Mit einer
Länge von fünf Kilometer war es in seiner Entstehungszeit zwischen 1933 und
1937 der längste Staudamm der Welt. Seit 2003 wird das gesammelte Nilwasser
zur Energiegewinnung genutzt. Der rund 500 Kilometer lange und maximal
sieben Kilometer breite Stausee ist heute das zweitgrößte Wasserreservoir im
Sudan.
Der Bus kommt nicht
voran. Für mich könnte ein Stau nicht spannender sein. Alles, was sich
irgendwie vorbeidrängeln kann, tut es: Kleine Autos, Mopeds und Tuk Tuks,
abenteuerlich einfallsreich beladen mit Menschen, Tieren, Dingen. Auffallend
viele Schafe sind dabei. Bei Temperaturen von über 30 Grad wird das
Grillfleisch statt in der Kühltasche lebend transportiert – und, wie ich
gleich sehen werde, auch an Ort und Stelle verarbeitet und zubereitet.
Als die Straße auf
dem Damm endgültig verstopft ist, wird sie spontan zum Parkplatz
umfunktioniert. Alle steigen aus und gehen die letzten paar hundert Meter zu
Fuß. Wie man später die Fahrzeuge gewendet bekommt, wird sich zeigen. Jetzt
sind erst mal Spaß und Picknick angesagt. Picknick … mit einigen zigtausend
anderen.
Der karge Wald am
Stausee wimmelt förmlich vor Menschen. Da werden Decken ausgebreitet und mit
Speisen und Getränken vollgestellt. Während die einen schon essen, sind die
anderen noch damit beschäftigt, ihr mitgebrachtes Schaf ins Jenseits und
dann auf den Grill zu befördern. Der eine hat ein Instrument dabei, der
andere einen Dieselgenerator, um Stereoanlage, PC und Bildschirm zu
betreiben.
Ein wilder Mix aus Stimmen, Tönen, Trommelklang und
Techno liegt über Jebel Aulia. Und dennoch: Die Menschen selbst sind ruhig,
freundlich, respektieren sich. Trotz allen Trubels herrscht Harmonie, ja ein
Gefühl von Frieden. Bei einer Bootsfahrt über den Stausee wünsch ich mir,
ich könnte die Stimmung dieses Ortes konservieren und in der nächsten
Vorweihnachtszeit auf deutsche Innenstädte übertragen …
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