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Die KÖNIGSTEIN der Red Star Line legt in Antwerpen ab. |
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Günter Schenk Red Star Line: Mit dem Schiff nach Amerika In Antwerpen erzählt ein neues Museum Emigrationsgeschichte |
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Mit den Schiffen der Red Star Line reisten gut zwei Millionen Menschen von Antwerpen nach Amerika. Auswanderer meist, die jenseits des Atlantiks eine neue Heimat suchten. Unter ihnen Hunderttausende von Juden, die vor ihren Verfolgern in Russland oder Nazi-Deutschland flüchteten. Frauen und Männer wie der Erfinder der Relativitätstheorie, Albert Einstein, der weltberühmte Komponist Irving Berlin oder Golda Meir, Israels bislang einzige Ministerpräsidentin. Ihre oft abenteuerlichen Reisen dokumentiert ein neues Museum in Antwerpen. Passagierlisten, Videos, Modellschiffe, Briefe, Karten, Plakate und andere stumme Zeitzeugen geben Einblicke in die Herzen der Menschen, die vor und nach 1900 Europa verlassen mussten. Wegen wirtschaftlicher Not verließen die Menschen vor 1900 Europa mit dem Schiff, nach 1900 vor allem, weil sie politisch verfolgt wurden. Red Star Line prangt
in großen Buchstaben über dem alten Backsteingebäude im Norden Antwerpens.
Nur einen Steinwurf von der Schelde, dem breiten Zubringer-Fluss zur
Nordsee, ist in die einst abbruchreifen Mauern neues Leben eingezogen. Rund
hunderttausend Besucher werden jährlich im neuen Museum erwartet, das nur
ein paar Schritte hinter dem Museum Aan de Stroom (MAS) die zweite große
Besucherattraktion im Szeneviertel „Eilandje” werden soll. „Wir haben”, freute sich Antwerpens Kulturchef
Philip Heylen bei der Eröffnung der gut 18 Millionen € teuren
Ausstellungsstätte, „kein neues Museum gebaut, sondern einen alten Bau neu
belebt”. Denn für viele Hunderttausend Menschen war der schmucklose Zweckbau
das Tor zur Neuen Welt. Für Neil Diamonds Vorfahren ebenso wie für den Vater
des Stepptanz-Königs Fred Astaire. Doch die Pforte der
Hoffnung stand nicht jedem offen. Jeder zehnte Passagier, so schätzt man,
wurde von Antwerpen aus wieder zurückgeschickt. Schließlich durften nur
Gesunde an Bord der Passagierdampfer, die zeitweise bis zu 4.000
Hoffnungssuchende wöchentlich Richtung Amerika beförderten. Alte
Schwarz-Weiß-Filme zeigen Männer in weißen Kitteln, welche die Haare der
Reisenden nach Flöhen durchkämmen und ihre Augen auf Trachom inspizieren,
eine damals weit verbreitete Krankheit, die zur Erblindung führen konnte.
Passagiere der Dritten Klasse wurden vor der Einschiffung eine Stunde lang
geduscht, ihr Gepäck samt Kleidern gründlichst desinfiziert. Denn die Angst
war groß, Typhus, Cholera und andere Krankheiten einzuschleppen. Schließlich
dauerten die ersten Atlantiküberquerungen mehrere Wochen ‒ später immer noch
acht bis zehn Tage. Passagierlisten, Tickets und Werbeplakate
dokumentieren die Arbeit der Red Star Line. Die belgisch-amerikanische
Schifffahrtslinie, die anfangs nach Philadelphia, später dann aber
vorwiegend nach New York oder Kanada fuhr, hatte 23 Schiffe in ihren
Diensten. Ozeandampfer wie die BELGENLAND, die auf der gleichen Werft wie
die TITANIC in Irland vom Stapel lief, eines der größten Schiffe der
damaligen Zeit. Einen roten Stern zeigt die Flagge der 1872 gegründeten
Reederei, die sich deshalb Red Star Line nannte.
Von den Ozeanriesen der Linie blieb
keiner übrig. Geblieben aber sind die Modelle der schönsten Dampfer, die
heue im Museum stehen. Nachbildungen wie die der VADERLAND,
dem ersten Schiff der Reederei. Die
Red-Star-Line-Passagiere kamen aus ganz Europa. Vor allem aus
Österreich-Ungarn und Russland, von wo sie mit dem Zug über Krakau, Breslau,
Leipzig und Düsseldorf nach Antwerpen reisten.
1905 bauten die Belgier deshalb einen neuen Bahnhof, der heute als
einer der schönsten der Welt gilt. Schnell umrandeten ihn einige Hotels, in
denen die Reisenden vor ihrer Einschiffung Unterkunft fanden. |
Rund 1.750 Quadratmeter ist die Ausstellungsfläche des Museums groß, in deren Mauern einst die Passagiere der Dritten Klasse abgefertigt wurden, streng getrennt nach Geschlechtern. Die Aufmöbelung des alten Gemäuers lag in den Händen eines amerikanischen Architekturbüros, das zuvor schon das Museum auf Ellis Island in New York auf Vordermann gebracht hatte: das amerikanische Gegenstück zu Antwerpen sozusagen. Denn auf Ellis Island wurden die Einreisenden noch einmal kontrolliert, zwei von Hundert im Durchschnitt wieder zurückgeschickt – so wie Ita, das jüngste Kind der Familie Chaja Moel, dem die Ärzte wegen eines Augenleidens die Einreise verweigerten. Mutterseelenallein musste die Neunjährige nach Europa zurückkehren, wo sich eine jüdische Hilfsorganisation um das Mädchen kümmerte. Ein Jahr später
erklärten sie die Belgier für gesund, fuhr das Kind mit der Red Star Line
zur Familie nach New York. Doch wieder schickten sie die Amerikaner zurück.
Erst vier Jahre später durfte sie endlich zu Vater, Mutter und ihren
Geschwistern. Es sind Schicksale wie dieses, das die Qualität des Museums
ausmacht. Eine von vielen Geschichten, welche die Organisatoren der
Ausstellung in jahrelanger Recherche zusammengetragen haben. Detailliert
haben Augenzeugen den Geschichtsforschern per Tonband oder Videokamera immer
wieder zu Protokoll gegeben, wie es an Bord einst zuging. In
24-Betten-Räumen waren die Passagiere der Dritten Klasse auf Strohsäcken
zusammengepfercht. Wie Vieh, haben sie ihren Tagebüchern anvertraut, fühlten
sich viele behandelt. „Menschen im
Aufbruch” (People on the move) heißt das Museumsmotto, das sich fast durch
die ganze Schau zieht. So beleuchtet eine Bildertafel die Geschichte der
Emigration – vom australischen Mungo Man, den es vor vielen Zehntausend
Jahren von Afrika nach Australien verschlagen hatte, bis zu einem
Kongolesen, der vor dem Bürgerkrieg mit über 100.000 Leidensgenossen ins
Nachbarland fliehen musste. 40 Millionen Menschen, schätzt man bei den
Vereinten Nationen, sind gegenwärtig „on the run”, also auf der Suche nach
einer besseren Welt weit abseits ihrer Heimat. Hoffnung könnte ihnen das Klavier machen, das fast am Ende der Ausstellung in Antwerpen steht. Eine Leihgabe der Nachfahren Irving Berlins, der unter seinem Namen Israel Isidore Baline Anfang der 1890er Jahre als Fünfjähriger mit seiner Familie aus Weißrussland nach New York auswanderte. Ein Jude, der als singender Kellner sein erstes Geld verdiente und mit dem Schlager „Alexander’s Ragtime Band” schließlich erstmals zu Weltruhm gelangte. Obwohl er weder Noten lesen, noch richtig Klavier spielen konnte, schrieb er Musikgeschichte. Lieder wie „White Christmas” oder „There’s no business like showbusiness” entstammten seiner Feder. Vor allem aber schrieb er Amerikas inoffizielle Nationalhymne „God Bless America”. Der Bestseller eines Auswandererkindes, der auf jenem Klavier erstmals ertönt sein soll, das jetzt in Antwerpen steht. Irvings Kopf zierte übrigens lebenslang eine Narbe. Sie stammte von einem Taschenmesser, das ein Passagier vom Promenadendeck der Red Star Line auf den kleinen Isidore in der dritten Schiffsklasse fallen ließ. Information:
Red Star Line Museum,
Montevideostraat 3, B-2000 Antwerpen, Telefon +3232320103,
www.redstarline.be
· Öffnungszeiten:
Dienstag-Freitag 10-17, Samstag-Sonntag 10-18 Uhr, Eintritt 8,00 € (ab 65
Jahre 6,00 €), Kinder unter 12 Jahren gratis. Führungen nach Anmeldung auch
auf Deutsch. |
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Nur einen Steinwurf von der Schelde, dem breiten Zubringer-Fluss zur Nordsee, ist in die einst abbruchreifen Mauern neues Leben eingezogen. |
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So sah ein amerikanischer Karikaturist Uncle Sam und die Einwanderer. |
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