Wie Scherenschnitte ragen die Berge, Tempel und
Pagoden in den wolkenschweren Abendhimmel. Nebelschleier zeichnen die
Konturen weich. Was ich beim Blick aus dem Hotelfenster sehe, gleicht einer
fernöstlichen Tuschezeichnung. Weder Mond noch Sonne sind zu sehen. Und doch
sind die beiden Himmelskörper hier, mitten in Taiwan, präsent. Der
malerische See, der vor uns liegt, trägt ihren Namen. „Seine Umrisse ähneln
nach chinesischem Verständnis den Formen von Sonne und Mond, genauer gesagt
deren Schriftzeichen”, erklärt uns Michelle Chiu, die uns bei dieser Reise
als Guide begleitet.
Doch das Bild ist alles andere als ein Stillleben.
Woher kommt nur dieser Krach? Aus dem dichten Blätterdach des Uferdschungels
dringen laute, an- und abschwellende Geräusche, die an eine alte Dieselpumpe
erinnern. Wer arbeitet da noch so spät? Der Weg zum Städtchen Yuchi, dessen
Zentrum gleich gegenüber liegt, führt scheinbar direkt an der Lärmquelle
vorbei. Und tatsächlich – das Brummen wird immer lauter.
Als wir schließlich unter den großen Bäumen stehen,
können wir das eigene Wort kaum verstehen. Zwei einheimische
Spaziergängerinnen amüsieren sich über unsere ratlosen Blicke und Fragen.
Lachend klären sie das Rätsel auf: „Es ist nicht ein Störenfried, es sind
unzählige Insekten – Zikadenmännchen, die ihren Damen imponieren wollen”. So
viel Tatendrang beeindruckt in der Tat. Den eigenen sparen wir uns noch
etwas auf für den Sun-Moon-Lake.
Mit jeder Menge Energie – und zwar mit elektrischer
– ist auch die Geschichte des Sees verbunden, der mit einer Gesamtfläche von
mehr als elf Quadratkilometern und einer Tiefe von bis zu 27 Meter nicht nur
das größte Binnengewässers und Süßwasserreservoir Taiwans darstellt, sondern
zugleich dessen wichtigste Energiequelle ist.
Früher gab es hier einen Mondsee und einen
Sonnensee. Durch Überstauung ihrer natürlichen Quellen, aber auch durch
künstliche Tunnel, die bis heute Wasser aus dem Choshui-Fluss zuleiten,
wurden beide in den 1930er-Jahren unter der japanischen Kolonialmacht (1895
bis 1945) vereinigt.
„Der Strom, den die Kraftwerke aus dem Wasser des
Sun-Moon-Lakes und seinen Flüssen gewinnen, lässt Leben durch unser Land
fließen wie Blut durch einen Körper. Dass wir den See ‚Herz von Taiwan’
nennen, hat also nicht nur mit seiner geografischen Lage zu tun”, berichtet
Tai Cheng mit leicht kurpfälzischem Akzent.
Der 24-Jährige, der im Besucherzentrum des
Sonne-Mond-Sees seinen einjährigen Zivildienst absolviert, hat in Heidelberg
Deutsch gelernt und Internationale Wirtschaft studiert. Um den See auf ganz
verschiedene Art zu erleben, empfiehlt er uns, am besten drei Verkehrsmittel
auszuprobieren: das Fahrrad, die Seilbahn und das Schiff.
Der Weiße Hirsch lebt auf einer Insel
Die Morgensonne hat Dunkelheit und Nebel dem See und
seine Schätze ringsherum entrissen. Umhüllt vom dichten Grün der Berge,
erstrahlen Tempel und Pagoden mit ihren roten Schmetterlingsdächern und
goldenen Drachengiebeln im frühen Tageslicht. Nach einem Schwenker über die
smaragden schimmernde Wasserfläche nimmt das kleine Schiff vom Hafen in
Shuishe Kurs auf das südwestliche Ufer der „Sonne”.
Mitten im See, da, wo sich „Sonne” und „Mond”
berühren, liegt unser erstes Ziel. Die kleine Insel, die „Perle”,
„Perlenhügel”, in der japanischen Kolonialzeit „Jade Island” und später
„Guanghua” (Ruhmreiches China) hieß, trägt heute wieder ihren alten Namen
„Lulu”. „So nennen die Thao, die hier wie 13 andere einst aus Austronesien
eingewanderte taiwanische Urvölker leben, fischen und jagen, die Geister
ihrer Ahnen. In ihrem Glauben ist das winzige Eiland Wohnort des Weißen
Hirsches, der ihre Vorfahren in das gelobte Land am See führte”, erzählt uns
Michelle.
Ein touristisches Kulturzentrum der Thao, das
Formosan Aboriginal Cultural Village, befindet sich unweit von Yuchi und ist
mit einer modernen Seilbahn zu erreichen. In dem nach Art eines
Vergnügungparks angelegten Komplex gibt es neben Jahrmarktsattraktionen ein
Freilichtmuseum mit nachgebauten Wohnhäusern verschiedener Ureinwohner
Taiwans sowie Musik-, Tanz- und Handwerks-Vorführungen sowie einen
Europäischen Garten.
Das von schwimmenden Stegen und Feldern umgebene
Lalu Island ist für die Thao immer noch eine Kultstätte. Ein Opferschrein,
die Skulptur eines weißen Hirsches und heilige Rote Zedernbäume zeugen
davon.
Zu Besuch in Kopf und Maul des Drachen
Den besten Blick auf die kleine Insel haben wir vom
Xuanguang Tempel, zu dessen Stufen unser Ausflugsschiff inzwischen angelegt
hat. Der schöne Platz mit der tollen Aussicht ist im Moment ziemlich belebt.
Doch viele Touristen wollen nur ein schnelles Foto. Bald kehrt wieder Ruhe
ein, und der Ort gehört den Meditierenden und dem Geist des Heiligen
Xuanzang (603 bis 664), dessen Reliquien hier verehrt werden.
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Der berühmte Pilgermönch war von 629 bis 645 auf der
Seidenstraße von China nach Indien gereist, hatte von dort zahlreiche
Schriften und Reliquien mitgebracht und damit die Verbreitung des Buddhismus
in China maßgeblich beeinflusst. Der ihm gewidmete Xuanzang Tempel – einen
idyllischen, nur wenige hundert Meter langen Waldspaziergang entfernt – ist
ein fast immer stiller Ort mit großartiger Szenerie. Eingebettet in die
gewundene Bergkette auf der Südseite des Sees, die den Sonnen- vom Mondteil
des Sees trennt und im Volksglauben ein schlafender Drachen ist,
repräsentieren die beiden Tempel Kopf und Maul dieses Drachens.
Die Augen können sich nicht sattsehen. Doch das
Highlight in puncto schöne Aussicht steht noch bevor. Nach einer Wanderung
zum 954 Meter hohen Gipfel des Berges Erlong (auch Shabalan) erreichen wir
die Pagode Ci-En („Mutterliebe und Güte”), die Taiwans ehemaliger Präsident
Chiang Kai-Shek 1971 zum Andenken an seine Mutter errichten ließ.
Tempelglocken für Glück und Liebe
Die Spitze des 46 Meter hohen, neungeschossigen
Turms ragt genau 1.000 Meter über dem Meeresspiegel in den Himmel. Da oben
zu stehen und den Blick über das atemberaubende Panorama schweifen zu
lassen, ist mehr als ein reines Aussichtserlebnis. Die ganze erhabene
Schönheit des Sees mit seinen unzähligen Buchten, die von einem grünen
Teppich bedeckten Berge des Zentralmassivs liegen zu unseren Füßen.
Wie mag die weithin hörbare Tempelglocke von hier
oben klingen? Vor allem, wenn man direkt daneben steht? Erst zögernd, dann
beherzt greife ich den schweren, dicken, etwa einen Meter langen
Außenklöppel (der wie eine Schlagramme funktioniert), ziehe ihn so weit
wie’s geht nach hinten und lasse ihn gegen den großen, massiven Bronzekörper
sausen. Der erste Versuch geht schief: Ich hätte den an einer Aufhängung
befestigten Klöppel nach dem Aufschlag festhalten müssen. So schwingt er
zurück und hämmert noch ein paar Mal auf die Glocke. Bevor sich der Klang
entfalten kann, wird er erstickt. Beim zweiten Mal klappt’s um so besser:
Ein donnergleicher, dumpfer Gong zerreißt die Stille, durchdringt die Luft,
den Turm, die Mauern, unsere Körper – gefolgt von einem tiefen, tiefen,
langen Ton, der rund um den ganzen See zu hören sein wird. Gänsehaut und
Magenkribbeln. Schweigend wünscht sich jeder was.
Das Grinsen wird uns noch den ganzen Tag begleiten –
am nordöstlichen Ufer des Sees im farbenprächtigen Wenwu-Tempel, der zur
einen Hälfte Konfuzius, zur anderen dem Kriegsgott Guangong geweiht ist, wie
auch in dem kleinen Langfong-Tempel, dessen Schutzheiliger sich auf Liebe
und Partnerschaft spezialisiert zu haben scheint. Verliebte beten hier für
ihr gemeinsames Glück, die noch einsamen Herzen für die Frau oder den Mann
ihrer Träume.
Gerösteter Tee, Tee-Eier und eine Kirche aus
Papier
Auch wenn das Baden in dem vom frischen Flusswasser
stets recht kühlen Sun-Moon-Lake bis auf eine Ausnahme nicht gestattet ist
(seit 1983 gibt es jedes Jahr im September eine traditionelle
Seedurchquerung, an der inzwischen mehr als 10.000 Schwimmer teilnehmen),
bietet der Sun-Moon-Lake endlos viele Möglichkeiten für aktive Erholung.
Fast komplett von Wanderpfaden und teils auch
Radwegen umgeben, können Urlauber die waldigen Ufer des Sees zu Fuß oder per
Drahtesel erkunden und mit Ausflügen zu vielfältigen interessanten Zielen in
der Umgebung verbinden. Da gibt es die Papierkirche von Taomi Village,
Lampenmanufakturen, Töpfereien und Schmetterlingsgärten sowie das Yoshan Tea
Culture House in Zhushan Township, wo der berühmte Oolong und andere
Spitzenteesorten hergestellt werden und verkostet werden können.
Die größte kulinarische Überraschung beschert uns
der Sun-Moon-Lake nicht etwa in einem Fischrestaurant, sondern in der
kleinen Imbissbude bei der Schiffsanlegestelle am Südufer. „Hier werden
täglich bis zu 20.000 Tee-Eier verkauft. Die in ganz Taiwan, China und
anderen asiatischen Ländern beliebte Spezialität schmecken bei ‚Omas
Tee-Eier’ ganz besonders lecker” , erklärt Michelle. Der spezielle Geschmack
entstehe, indem die vorgekochten Eier mit aufgebrochener Schale in einem
heißen Sud aus schwarzem Tee, Pilzen, Kräutern, Soja-Soße und Gewürzen
gebadet werden.
Trotz Anstrengungen und erschwerender Umstände wird
für uns die 32 Kilometer lange Fahrradtour um den Sun-Moon-Lake zum
Höhepunkt der Reise. Etliche Steigerungen, die zuweilen nur zu Fuß bewältigt
werden können, riskante Abschnitte auf dem verkehrsreichen Provincial
Highway 21 und ein Wolkenbruch, der in Dauerregen übergeht – das klingt
eigentlich nicht nach Spaß. Doch der See und seine Berge ermuntern dazu, uns
dieses Abenteuer zu verdienen. Und wir genießen es in vollen Zügen.
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