Der rote Punkt der Lampe wanderte nach dem
Abendessen im Salon über die Landkarte und zeigte die Strecke des
nächsten Tages. 35 Kilometer würde man radeln, wie üblich um neun
Uhr starten und am mittleren Nachmittag die GRETHA VAN HOLLAND
wieder besteigen. Regen war nicht angesagt, auch der Wind sollte
abflauen. „Aber den spüren wir morgen kaum”, sagte Reiseleiter
Dieter, „wir fahren viel durch Wald”.
Mecklenburg bietet manche Überraschung. Die
Müritz ist ein See, Deutschlands größter mit 112 Quadratkilometern.
Zwar hat der Bodensee mehr Fläche, aber er gehört drei Ländern, der
Schweiz, Österreich und Deutschland. Von tausend Seen spricht man in
Mecklenburg, und der Gast glaubt es gern. Viele sind durch
Wasserstraßen untereinander verbunden. Das gewaltige Revier kann man
ohne Führerschein befahren, denn Charterboote, die in großer Zahl
und mancherlei Gestalt angeboten werden, haben gedrosselte Motoren.
Wer sie führt, hat vor der Übernahme einen Schnellkurs von ein, zwei
Stunden absolviert und Theorie (Schifffahrtszeichen und
Schallsignale, Vorfahrtsregeln), die Praxis des An- und Ablegens und
des Verhaltens in Schleusen geübt. Anleger und Marinas sind
zahlreich, die Nutzungsgebühren annehmbar.
Dieter und seine Gäste
Dieter Pinnow ist schon elf Jahre dabei und
kennt die Strecken, durch die er mit den Gästen von
SE-Tours in
Bremerhaven auf der GRETHA fährt, wie seine Westentasche, alle Seen,
alle Hügel, alle Sandkuhlen, alle Pfützen und vermutlich auch jede
Kiefernwurzel, die die Fahrradwege kreuzt. Die Radtour durch die
Mecklenburgische Seenplatte ist zwischen 170 und 220 Kilometer lang,
die in sechs Tagen gestrampelt sein wollen. Dieter Pinnow, Jahrgang
1938, fährt sie in der Saison elf Mal. Er kennt die mecklenburgische
Geschichte, Ereignisse aus jedem Ort, liebt Geschichten und
gestaltet einen ganzen Abend mit „Läuschen un Rimels” – Gedichten
und Anekdoten nicht nur von seinem berühmten Landsmann Fritz Reuter.
Die Fahrpläne der Züge, die Gäste nach Waren bringen oder dort
abholen, kennt er selbstverständlich auch. Man ist gern in der
Gesellschaft eines solchen Mannes.
Auf dieser Tour im kältesten August seit
acht Jahren, waren die 21 Radelnden im Durchschnitt 62,8 Jahre alt,
der jüngste Herr 51, die älteste Dame 77. Einige hatten eigene Räder
mitgebracht, das Gros nutzte die 28 Zoll KTM-Unisex-Räder des
Veranstalters, nach Größen der Gäste ausgewählt und vom Reiseleiter
individuell eingestellt. Der Sattel von Selle Royal, die 7-Gang
Nabenschaltung von Shimano, dazu Gepäcktasche und Luftpumpe – leicht
laufende, gepflegte Räder. Mancher hätte sich allerdings einen
besser federnden Sattel und federnde Vorderradgabeln gewünscht, der
Waldpfade wegen.
Wer brach da morgens in langer Reihe auf,
angeführt von Dieter und mit Frank, einem fürsorglichen Gast, am
Ende? Schiffsreisende, die auch mal radelten? Oder Radler, die das
Schiff nur als Hotel nutzten, das ihnen folgte?
Captain
und Crew
Kapitän Ron führt die GRETHA und kennt
natürlich jeden Hafenmeister und Schleusenwärter und die Kollegen,
die sich beim Passieren ihrer Schiffe mit Handzeichen grüßen. Auf
dieser Reise half ihm Danuta, eine junge Polin aus Breslau, die im
nächsten Jahr ihr Steuermannspatent machen wird, beim Schleusen und
An- und Ablegen. Wenig sichtbar und bei seinem seltenen Erscheinen
immer mit viel Beifall bedacht, war Woitek aus der Slowakei, Meister
der Küche und gelegentlicher Helfer beim An- und Ablegen. Er war für
das Frühstücksbuffet, das Lunchpaket, für Kaffee und Kuchen am
Nachmittag und für das Drei-Gang-Abendessen verantwortlich.
Sehr viel sichtbarer war der gute Geist an
Bord, Domenica, ebenfalls aus der Slowakei stammend. Sie war
Kabinenstewardess, Kellnerin, Barkeeper, und Zimmermädchen in einem
und unermüdlich hilfsbereit. Auch wer an Bord blieb und die Reise
auf dem Wasser dem Radeln vorzog, wurde von ihr auf das beste
versorgt.
Klever die Einrichtung einer Barkarte mit
vielen blauen Rechtecken mit Zahlen, die zusammen 25 € ergaben. Für
diese Summe war die Karte zu haben und diente als Geld. Was
getrunken wurde, strich Domenica ab, die Flasche Silvaner für 15 €,
ein Glas Weißwein von Saale und Unstrut für 5 €. Lübzer Pils gab’s
frisch vom Fass, und der Kümmel aus Rostock dazu war gnadenlos kalt.
Die MS
GRETHA VAN HOLLAND
Die GRETHA VAN HOLLAND fährt unter
holländischer Flagge durch die mecklenburgischen Gewässer. 1969 in
den Niederlanden als Privatyacht gebaut, 2004 für die jetzige
Funktion umgebaut, kann das Schiff bis zu 24 Gäste in 12
Außenkabinen aufnehmen. Es ist 38,50 Meter lang, 5,00 Meter breit
mit einem Tiefgang von 1,30 Metern.
Salon und Restaurant sind eins – mit runden
Tischen, das Oberdeck hat Gartenstühle und Klapptische und eine
Reling. Vorm Passieren niedriger Brücken oder Schleusen werden
Reling und Mobiliar zusammengeklappt. Das für jedermann zugängliche
Steuerhaus wird eingefahren und zusammengefaltet, Ron steuert sein
Schiff dann – aus der Hocke – mit einem Joystick. Ein richtiges
Ruder wäre ihm, dem Mann mit Hochseepatenten, lieber, aber der
Eigner zieht die Elektronik vor.
Sieben Quadratmeter mit Dusche und WC sind
die Kabinen groß – wie sollten zwei Menschen damit klar kommen? Und
mit Betten, die nur zwei Meter lang und gefühlte 60 Zentimeter breit
waren?
Vor der Mitnahme von Hartschalenkoffern war
im Katalog von SE-Tours aus Platzgründen gewarnt worden. Doch zwei
Schränke, ein paar Haken, eine umlaufende Regalfläche reichten uns
aus. Unter dem erhöhten Bett an der Außenseite fanden leere Koffer,
Fahrradtaschen und Schuhe Platz. Unter dem zweiten, ebenerdigen,
rechtwinklig zum ersten Bett stehenden kann mit Warmluft geheizt
werden. Wir schliefen gut, man hörte nur manchmal die Nachbarn in
der Kabine nebenan.
Dusche und WC verblüfften uns, der Raum war
zwar klein, aber sehr praktisch eingerichtet. Zwischen Toilette und
Waschbeckentisch ließen sich Vorhänge um den Duschenden ziehen, die
ihm genügend Platz boten, sich heiß und kalt zu erfrischen. Das
gebrauchte Wasser floss unter dem Waschtisch ab, Wände und Tisch
blieben trocken. So viel Ingenuität auf so engem Raum findet man auf
holländischen Yachten häufig. Hier hatte man das Prinzip erfolgreich
auf ein großes Schiff übertragen.
Sind wir Radler ...
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Die Räder, eher gleich aussehend, waren nummeriert. Jeder fand
also sein Rad schnell wieder, wenn es morgens losging. Am
ersten Abend hatte man sich nur mit Vornamen und Wohnort
vorgestellt, das „Du” wurde unter den Gästen üblich. Und band sie
zusammen. Man fuhr als Gruppe. Dieter stellte die Reiseroute des
Tages am Vorabend vor und trug sie nach der Tour in die Fahrradkarte
ein, die jeder Teilnehmer bekommen hatte.
Was die Gruppe trennte, war das
unterschiedliche Tempo des Radelns. Erfahrene Radler legten 20
Stundenkilometer vor, weniger geübte waren langsamer. So dehnte sich
die Gruppe aus, man fuhr hintereinander hinter Dieter her, eher
schnell als langsam. Frank, der gute Hirte am Ende, sorgte geduldig
dafür, dass niemand zurückblieb. An Abzweigungen und Kreuzungen oder
auf Anhöhen wurde gewartet, bis alle da waren. Ein guter
Gruppengeist also, den Dieter zu pflegen wusste. Zum Beispiel durch
schnelle, unauffällige Eingriffe, wenn mal eine Kette oder ein
Schutzblech klapperten. Mit seinem Kasten auf dem Gepäckträger war
Dieter auch für größere Pannen gerüstet, die nie eintraten.
Widersacher jedes Radlers wurden im
Tagesverlauf zu Feinden. Kalten Wind, ganz oder schräg von vorn,
konnte man nur verfluchen. Und ein Hügel, der über zwei, drei
Kilometer sanft ansteigt, machte manche Radler wütend. Hügel und
Wind vereint konnten die Lust am Leben vermiesen – bei ungeübten
Radlern. Geübte überkamen Wind und Hügel, schwitzten nicht und
warteten lächelnd oben am Ende der Steigung.
Wer hatte sich Mecklenburg so hügelreich
vorgestellt? Wälder an Seen hatte man erwartet, aber solche
Steigungen? „Auf guten Radwegen, verkehrsarmen Nebenstraßen und
Waldwegen, durch die ebene bis leicht hügelige Landschaft der
Mecklenburgischen Seenplatte” charakterisierte der Prospekt die
Tour. Wie wohl unter Radlern üblich, war das Ziel wichtiger als die
Strecke. Wer reine Landschaft genießen und sie gar im Bild
festhalten wollte, blieb zum Fotografieren zurück. Freundlich
erwarteten die Radler die Nachzügler am nächsten Haltepunkt.
Von einem Wisentgehege bis zu den Überresten
der Versuchsanstalt der ehemaligen Wehrmacht, von Kirchen und
Schlössern bis zu Fischerhütten führte Dieter seine Schützlinge. Auf
der abendlichen Tour zu Fuß durch Waren machte der Reiseleiter mit
seinen Erzählungen die Stadt lebendiger als alle Prospekte.
Einkehr unterwegs bei den Touren hielt man
in schönen Gaststätten, die den Verzehr der eigenen Lunchpakete
erlaubten. Die hatte man an Bord selber zusammengestellt aus einem
reichhaltigen Frühstückbüffet. Die Flasche Wasser für unterwegs
gab’s dazu. Wer sich lieber ans Angebot der Gaststätten hielt,
konnte zum Beispiel gebratenen Heringsrogen genießen oder Räucheraal
mit den Fingern essen.
... oder Schiffsreisende?
Am sechsten Tag brauchte der schreibende
Seefahrer eine Pause vom Radeln und meldete sich bei Dieter ab,
blieb an Bord und genoss Land, Seen und Wasserstraße vom Steuerhaus
aus.
Die langsame Fahrt der GRETHA enthüllte die
Landschaft auf ganz andere Weise als das schnelle Radeln. Weiter
Blick, große Flächen, feste Waldstreifen und über Kiefern mit ihren
roten Stämmen ein alles bestimmender Himmel, wolkenreich, aber nicht
mit Regen drohend. Am späten Vormittag wurde unter der Sonne das
Land gelblich und der Wald zeigte Grüntöne in verschwenderischer
Vielfalt.
Eine Ente paddelte im Kanal schräg voraus
vor uns her. Der Bugschwall der GRETHA hob sie, der Sog am Ende zog
sie zu uns heran. Wildes Paddeln half ihr nicht, sie hob den Kopf
und startete kraftvoll aus dem Wasser, flog knatternd davon.
Gelassener das Schwanenpaar, das sich im
Gleichtakt in unserer Welle wog und gelassen dem Ufer zustrebte.
Weite Wasserflächen des Sees, die sich unter Wolken und Wind ständig
änderten in Farbe, Glanz und Muster. Nichts tun, nur sehen. Der Wind
wurde unter Wolken kräftiger.
An der großen Schleuse grüßten die Radler
der GRETHA Ron und Danuta im Steuerhaus und winkten auch dem
einsamen Gast zu. Am Abend saßen alle wieder an den runden Tischen
im Salon zusammen und lobten Licht und Land, Wege und Erlebnisse,
Schiff und Mannschaft.
Waren war
Anfang und Ende der Reise
Waren (Müritz) hieß die sehr lebendige
Stadt, in der alles begann. Die GRETHA VAN HOLLAND lag knapp einen
Kilometer vom Bahnhof entfernt am See und hier stieg man am 1.
Radeltag, dem offiziellen Tag 2 der Reise, in die Pedale. Der Weg
schmiegte sich an die Binnen-Müritz bis zum Damerower Werder, der in
Gänze ein Reservat für Deutschlands einzige Wisentherde bot, die
gerade gefüttert wurde.
Weiter ging’s um den Jabelschen See nach
Nossentin am Fleesensee. Der Weg am Ufer war wegen kürzlichen Regens
nicht benutzbar, also fuhr man Kilometer lang bergan auf der
Teterower Chaussee nach Malchow, wo gegenüber in
Kloster Malchow die GRETHA wartete und die Radelnden, Erschöpfte wie
Jubelnde, empfing und sie mit in den Plauer See nahm und an der
Silbermühle südlich von Seelust für die Nacht festmachte.
Als wolle er die Wasserferne des ersten
Tages wieder gut machen, führte Dieter seine Gruppe am Radeltag 2 um
den nördlichen Teil des Plauer Sees herum und verließ nur kurz das
Ufer. In Kloster Malchow wartete wieder die GRETHA und fuhr zurück
nach Waren. Dieter führte Unermüdliche nach dem Abendessen durch
seine schöne Stadt.
An Tag 3 ging’s dicht am westlichen Seeufer
entlang gut 35 Kilometer nach Röbel an der Müritz, auf’s Schiff und
auf ihm an Mirow vorbei bis zur Diemitzer Schleuse, wo an einem
Anleger in der freien Natur für die Nacht festgemacht wurde.
Erstes Ziel des 4. Radeltages, des
offiziellen 5. der Reise, war Schloss Rheinsberg, das einst
Friedrich der Große und nach ihm sein Bruder Prinz Heinrich
bewohnten und ausgebaut hatten. Kurt Tucholsky machte es mit seiner
Liebesgeschichte in ganz Deutschland bekannt. Weiter nach
Kleinzerlang, vor allem über gut gepflegte Waldwege, die Hügel
liebten.
Radeltag 5: Aufbruch der Radler schon vor 9
Uhr morgens. Wer an Bord blieb, erlebte nach einander den Canower
See, den Labussee und hinter der Diemitzer Schleuse Vilzsee, Mössen
See, Zotzer See und fuhr dann durch die Müritz-Havel-Wasserstraße
nach Rechlin. Wiedersehen mit den Radlern, die die schöne Strecke
lobten, die sie an diesem Tag erlebt hatten. Der letzte Radeltag
führte von Rechlin durch den Müritz Nationalpark zurück nach Waren.
Captains Dinner, Adressentausch.
Am nächsten Morgen stand nur „Abschied” auf
dem Programm. Berlin lag weit im Süden, Rostock näher im Norden.
Regionalzüge stellten die Verbindungen her.
An Bord begann das Putzen und
Rein-Schiff-Machen, Lebensmittel und Getränke mussten gebunkert
werden. Dieter prüfte seine Räder. Ab 16 Uhr kamen die neuen Gäste
für die nächste Reise an Bord – auf gleichem Kurs und gleichen
Pfaden.
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