„Überleg mal, wenn weitere aus der Bande in diesem
Zustand auftauchen, dann haben wir hier in unserem friedlichen Oslo Zustände
wie in Chicago”, sagt am Ende von Kapitel 28 Mr. George, Chef und Ziehvater,
dem 21 Jahre alten Kriminalreporter Erik Erfjord, der seinen Job eigentlich
satt hat und lieber Chef der Sportseiten von Arbeiderbladet wäre, einer von
mehreren Osloer Tageszeitungen.
Doch dann erfährt er in einem Café am Lilletorg,
dem kleinen Platz am Rande des Stadtteils Vaterland, „der zugleich der Markt
der Hehler, Schnapsbrenner und Schwarzhändler ist”, dass sich ein besonders
wertvolles Gemälde in der Gegend befindet und ein Ausländer sämtliche
Pfandleiher der Stadt besucht. Als Erik Erfjord das Lokal verlässt, sieht
er, wie sein Jugendfreund Lennart Winther einen Mann im schwarzen Anzug,
groß und blond mit schmalem Kopf, weiblichen Hüften und Fingern wie
Spinnenbeine, in einen Chrysler steigen lässt und mit ihm in hohem Tempo
davon fährt. „Ich rieche Lunte” lautet die Überschrift des folgenden
Kapitels – und es kann losgehen mit einem Krimi aus der norwegischen
Hauptstadt in den frühen 1930er Jahren: „Der Spinnenmann”.
Die beiden Autoren, Terje Emberland und Bernt
Rougthveld, beide Jahrgang 1956, sind Historiker. Gemeinsam haben sie 2004
eine Biografie über den norwegischen Nationalsozialisten und Schriftsteller
Per Imerslund veröffentlicht und legen nun als gemeinsames Werk den
„Spinnenmann” vor, ihren ersten Kriminalroman, der offensichtlich viel von
dem nutzt, was die beiden wissenschaftlich recherchiert haben.
Zwei anerkannte Historiker erfinden also einen
Reporter, der seinen ersten Fall beschreibt, in Ich-Form, in 39 knappen
Kapiteln mit hilfreichen Überschriften, einem Prolog, einem Epilog, einem
Nachwort und einem Glossar. Tatort ist Oslo, ab und an geht’s mal aufs Land,
doch die Story ist alles andere als ein Regionalkrimi.
Hilfreich bei der Lektüre sind Kenntnisse der
damaligen NS-Szene in Deutschland. Das Land ist fest in der Hand der
Nationalsozialisten und lockt auch aus Norwegen Sympathisanten an, die ihr
Glück suchen. Der Krieg ist weit weg, das Reich hat noch viel Glanz und
blendet manchen auch ganz oben in Oslo. Norwegen rappelt sich mühsam aus der
wirtschaftlichen Misere der zwanziger Jahre hoch. Seine Hauptstadt ist
„streng genommen eine zu groß gewordene Kleinstadt und ihr Verbrechermilieu
klein und durchsichtig”.
So durchsichtig ist es dann doch nicht. Am 10.
Januar 1934 wird der Großhändler Rustad in seinem Wagen durch vier Schüsse
in den Kopf getötet, ein Mord aus einem Kreis, „zu dem Oslos Feld-, Wald-
und Wiesengauner keinen Zugang haben”.
Der junge Reporter wühlt sich durch. Sein
Jugendfreund Lennart Winther hilft ihm. Er hat in Deutschland als
Filmschauspieler in kleinen Rollen eine bescheidene Karriere gemacht und
begleitet jetzt den deutschen Regisseur von Manteuffel, der Knut Hamsuns
Roman „Hunger” verfilmen will.
Die stringent erzählte Geschichte aus einer einzigen
Perspektive lässt sich leicht lesen, die Gestalten sind glaubwürdig, die
Atmosphäre von Ort und Zeit stimmt. Auch das Verhältnis von Kripo und Presse
ist nachvollziehbar. Der Reporter lernt noch, sein Chef warnt ihn immer
wieder, als Reporter niemals die Arbeit eines Detektivs zu
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machen. Erfjord versucht’s und löst auf seinem Weg
den Fall. Wer sich zum Ende der Story hin fragt, ob denn der Spinnenmann in
Oslo nicht blühender Fantasie zweier Autoren entsprungen ist, bekommt auf
Seite 283 eine Antwort, wie es sich für Historiker gehört, mit exakten
Quellenangaben.
Was dem Buch fehlt, sei hier nachgeholt: auf
Norwegisch ist bereits ein zweiter Titel mit Erik Erfjord erschienen.
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Terje Emberland / Bernt Rougthvedt
DER SPINNENMANN
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und
Andreas Brunstermann. Erschienen als
Aufbau Taschenbuch
im Aufbau Verlag, Berlin.
ISBN 978-3-7466-2954-4,
€ 9,99.
Aufbau Verlag/Der Spinnenmann
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Tja, da kamen Einladungen an Hein Mück und seine
Herzallerliebste, zum gemeinsamen Feiern des Jahreswechsels, zu einem
Abendessen, zum Geburtstag und zu einem Vereinsfest mit Tanz. Da nun beide
gern mal ausgehen, taucht immer die gleiche Frage auf: Was zieht man an?
Dass Damen so etwas wissen wollen, ist klar. Früher stand auf Einladungen
etwa „Abendanzug” und man wusste, der Smoking war angesagt. Heute ist das
alles anders. So gehört Hein als männliches Wesen heute auch zu denen, die
Hilfe brauchen. Als Hein als junger Mann zum ersten Mal zu einem offiziellen
Geburtstag eingeladen wurde, war klar, dass man in Anzug und mit Schlips und
Kragen zu dem Fest ging. Der Dame des Hauses brachte man einen Blumenstrauß
mit. Das tut Hein heute immer noch, aber er hat von seiner Herzallerliebsten
gehört, dass man heute vorher nach dem „dress code” für das Ereignis fragt.
Es gibt immer mehr Herren, die ohne Krawatte auf Feste gehen, ein weißes
Hemd kann man auch offen tragen. Wenn Hein sich auf Konzerten oder im
Theater umsieht, dann findet diese Sitte immer mehr Anhänger. Die
Schlipsträger sind in der Minderheit – und werden immer seltener. Aber gilt
das auch in kleinem Kreis? Leider – muss Hein feststellen. Lässig und
ungezwungen präsentiert man sich unter Freunden und Bekannten auch bei
festlichen Ereignissen. Hein hielt dieses Verhalten einst typisch für die
68-er Generation und erinnert sich mit Grausen, dass der Hausherr zu seinem
80. Geburtstag einen Smoking mit weißem Jackett trug, seine erwachsenen
Söhne jackenlos in Jeans und mit offenem Hemd gratulierten. Junge Leute
haben andere Vorstellungen, muss Hein zugeben. Als er jetzt an Bord war, gab
es drei „Gala”-Veranstaltungen. Und wie üblich stand als Kleider-Empfehlung
auf dem Tagesprogramm „festlich elegant”. Hein zog seinen Smoking an, den er
sich für all solche Einladungen einst hatte schneidern lassen. Und was sahen
er und seine Herzallerliebste? „Festlich elegant” bedeutete für jeden etwas
anderes. Wer im Blaumann arbeitet, für den mochten schon ein weißes Hemd und
eine gebügelter Hose festlich sein. Für den nächsten stellte die
silberfarbene Krawatte höchste Eleganz dar und wer einen dunklen Anzug trug
und ein Einstecktuch, gehörte einer Minderheit an. Die Herren im Smoking
hätten gerade mal an einem Tisch Platz gefunden. Selbstverständlich
trugen alle Schiffsoffiziere weiße Galauniform. Tja, dachte Hein, so ändert
sich alles. Doch seinen Smoking wird er weiter auf Schiffsreisen mitnehmen,
je nach Weltgegend mit weißem oder schwarzem Jackett.
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Tja, der Lektor hatte am Nachmittag angesagt,
dass der Oslofjord, in den man morgens einlaufen würde, der schönste auf
dieser schönen Reise sei. Also hatte Hein den Wecker vorgestellt und war
mit dickem Pullover und Anorak und Mütze kurz vorm Hellwerden vorn auf dem
Sonnendeck erschienen, ein „Stockwerk” über der Brücke. Der Lotse war
längst an Bord, von unten wehte Kaffeeduft im kühlen Fahrtwind hoch, der
östliche Horizont hatte sich bereits rotweiß eingefärbt. Voraus zeigten
Lichter und Widerschein die Stadt an, der sie sich in langsamer Fahrt
näherten. Der Mond hing wie ein krummes Messer in einem Himmel, auf dem
die Sterne verblassten. Es war noch viel zu dunkel, um fotografieren zu
können. Also schob Hein seine Hände in die Taschen und wanderte hinter dem
Schanzkleid langsam auf und ab, zählte Tonnen aus und erinnerte sich an
die Zeiten, als er selber nach Lichtern seinen Kurs in den Hafen gefunden
hatte. Er sah Fähren kreuzen, ärgerte sich, dass er deren Lichterführung
nicht mehr erinnerte und freute sich über entgegenkommende Schiffe. „Rot
an Rot und Grün an Grün kann unbesorgt vorüber zieh’n” war der Spruch, den
er damals gelernt hatte. Dass es heute auf der Brücke ganz anders zu ging
als einst, war klar. Demnächst würden auch Segelyachten mit einer eigenen
Kennung auf dem Radarschirm erscheinen, die Berufsschifffahrt fuhr mit
solchen Kennzeichen schon lange. Die ETA, die geschätzte Ankunftszeit,
musste niemand mehr ausrechnen, das geschah heute alles elektronisch – in
beide Richtungen. Man gab an, wann man wo sein wollte und bekam eine
Empfehlung für die Speed. Oder man fuhr die Geschwindigkeit hoch oder
runter und las ab, wann man entsprechend ankommen würde. Die alten Zeiten
auf der Brücke waren vergangen, doch geblieben war das Einlaufen in einen
Hafen – immer ein Erlebnis, besonders in Norwegen mit seinen atemberaubend
schönen Fjorden. Tja, freute sich Hein, dass das sich wohl nie ändern
würde. Und dann hörte er Schritte. Er sah sich um, dick eingemummelt war
eine Gestalt erschienen und gesellte sich zu ihm. Dem Gruß und einem
knappen Kommentar entnahm er, dass sich eine Frau zu ihm gesellt hatte,
die schon öfter nach Oslo gefahren war. Aus den beiden wurden vier, als
Oslo erkennbar war und beim Festmachen vor der Festung klickten dann die
Kameras von einem guten Dutzend Fotografen. Beim Frühstück blickte Hein in
viele fröhliche Gesichter. Man war angekommen und freute sich auf die
Stadt. Das Einlaufen oder gar das Seemännische daran interessierte nur
wenige. Das muss dann wohl so sein, dachte Hein. Das Schiff ist eben ein
mitfahrendes Hotel.
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Tja, wie soll man
lernen, was einem niemand mehr beibringt, fragte sich Hein neulich nach
einer Autofahrt in die Stadt. Hein hatte nach Duschen und Frühstück zu
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den Morgennachrichten sein Fitness Studio
besucht und eine Stunde lang geübt, was sein sollte, zu Musik, die ständig
lief. Unterwegs hatte der örtliche Sender leise Musik gespielt und war
lauter geworden, als die Verkehrsmeldungen durchkamen. Kaum vorbei, ging
die Musik weiter. Weniger hörbar war dann die Musik im Kaufhaus, und eher
leise auch die im Restaurant. In der Fußgängerzone waren ihm viele junge
Leute aufgefallen, die mit einem Stöpsel in einem Ohr nicht unfreundlich
dreinblickend, in Gruppen oder allein von Fenster zu Fenster zogen und
manchmal laut auflachten, obwohl sich im Fenster nichts tat. Heins Fazit:
Ohne geht es offenbar nicht mehr, Musik muss überall sein und ständig
laufen. Stille ist selten geworden. Das war nicht immer der Fall. Früher
war Stille das Normale, Lärm die Ausnahme. Wenn Musik erklang, hörte man
genau hin. Auf diese Weise hatte Hein Zuhören gelernt. Wenn heute ständig
etwas ins Ohr dringt, fragte sich Hein, wie kann man da
das Hören üben? Will das überhaupt noch jemand? Hein war kürzlich auf
einem Jahrmarkt in einem Zelt gewesen, um ein Bier zu trinken. Genauso
lange hielt er es dort aus. Der Lärm blies den Bierschaum vom Glas, mit
seinen Begleitern konnte Hein sich nur noch mit Zeichensprache
verständigen. Doch ringsum sah Hein nur fröhliche Menschen, die jubelnd
auf Bänke und Tisch stiegen. Ob das wohl die Folge von Musik ist, die
ständig spielt und immer lauter wird, fragte sich Hein? Und war froh, als
auf dem Nachhauseweg das lauteste Geräusch nur das vorbei fahrender Autos
war.
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Tja,
da hat Hein neulich von einem jungen Mann einen Spruch gehört, über
den er immer noch nachdenkt: „Wer arbeitet, hat keine Zeit, Geld zu
verdienen.” Wenn das ein Politiker hört oder ein Gewerkschaftler, dachte
Hein. Die sagen doch immer, dass ein Mensch von seiner Arbeit leben können
muss. Das sei eins der politischen Ziele aller Parteien. Und bisher war
Hein auch davon überzeugt. Natürlich verdiente einer mehr, der andere
weniger, der eine hatte mehr gelernt oder studiert oder mehr Glück gehabt,
der andere nicht. Es war also richtig, dass man unterschiedlich viel
verdiente. Doch von dem Verdienst sollte man wenigstens leben können.
Darum war Hein u.a. auch für einen Mindestlohn, der dem Arbeitenden ein
Auskommen sicherte. Und dann kam dieser Schnack. Er sagte schlichtweg,
dass man mit Arbeit kein Geld verdienen kann, weil man dafür keine Zeit
hat. Na ja, Hein hatte das in seinem Leben anders kennen gelernt. Doch
dieser Satz ließ ihn nicht los. Denn er sagte auch, wenn einer Geld
verdienen will, braucht er dafür Zeit. Zeit kann man nur einmal nutzen,
dann ist sie weg. Wenn man sie mit Arbeit füllt, kann man mit der Zeit
nichts anderes machen. Darum, so die Politiker und Gewerkschafter und auch
Hein, muss Arbeit dem Arbeitenden ein Auskommen ermöglichen. Doch dann kam
Hein noch auf eine dritte Auslegung: Wenn du Geld verdienen willst,
brauchst du Zeit zum Nachdenken oder Vordenken oder Planen. Mit Arbeit
bleibst du zwar auskömmlich am Leben, aber weit kommst du nicht damit.
Wenn also Verdienst für dich sehr wichtig ist, nimm dir Zeit, füll sie
nicht mit Arbeit. Der Spruch stimmt, denkt Hein, aber irgendwie ist er mit
ihm noch nicht ganz fertig.
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Tja, über den Streik der Lokführer hat Hein, überzeugter Demokrat, sich
mit seinen Freunden gestritten. Er ist – wie sie – der
Meinung, auf das demokratische Grundrecht zu streiken, dürfen wir nie
verzichten. Hein meinte, dass man sich mit denen streiten darf, mit denen
man einen Tarifvertrag abschließen will. Und wenn die Arbeitgeber nicht
wollen, muss man sie eben dazu bewegen, meinten seine Freunde. Wieder
nickte Hein. Doch dann schieden sich die Geister. Also ist ein Streik
gerechtfertigt, sagten die Freunde. Ja, stimmte Hein zu, aber nur, wenn er
die trifft, die auch gemeint sind. Du bist das nicht und keiner von uns,
denn wir machen die Verträge nicht. Darum sollten wir unter einem Streik
auch nicht leiden. Höh, höh, protestierten die Freunde. Hein blieb
beharrlich. Hundertausende kommen zu spät oder gar nicht an und können
nichts an dem Zustand ändern. Aber wie willst du die allein treffen, die
den Tarifvertrag als Arbeitgeber abschließen, wollten die Freunde wissen?
Das sind doch nur der Vorstand und vielleicht noch der Aufsichtsrat, also
ein paar Dutzend Leute höchstens. Richtig sagte Hein, aber nur weil man
keine Mittel hat, die allein zu treffen, kann man doch nicht
hunderttausende sozusagen bestrafen. Fällt dir was Besseres ein, wollt man
von Hein wissen? Nein, musste Hein zugeben, er habe sich auch erst seit
dem Lokführerstreik mit der Frage beschäftigt, also ganze zwei Wochen.
Aber die Gewerkschaften hätten mehr als 150 Jahre Zeit gehabt, sich was
auszudenken. Aber dass die Streikenden den Herrn meinen und den Hund
prügeln – das geht nicht.
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„Tja, am Ende ist alles
gut, und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.” Als Hein
den Satz in einem Film das erste Mal hörte, war er ganz angetan. Der Satz
hatte Witz und war sehr ernst gemeint. Er liebte ihn so sehr, dass er ihn
gern zitierte, auf Reisen und anderswo. Überall wurde dazu genickt. Und
dann fiel Hein eines Herbsttages, als der Regen alles im Garten in Trauer
verwandelte, dazu dieser Satz ein: „Am Ende ist alles schlecht, und wenn
es nicht schlecht ist, dann ist es noch nicht das Ende.” Auch dieser Satz
stimmte irgendwie, aber er gefiel Hein nicht so recht. Lag es daran, dass
man eher weiß, wenn „alles gut” ist, als wenn „alles schlecht” ist? „Es
könnte schlimmer kommen”, sagen Heins Freunde, die er in Irland gewonnen
hat, meist mit einem Zwinkern in den Augen. Dass es auch besser kommen
könnte, hat Hein nie von ihnen gehört. Sind die irischen Freunde also
Menschen, die leicht oder mit allem zufrieden sind? Hein kann diese Frage
nicht beantworten. Er meint aber, nach einigem Nachdenken, dass diese
Aussage aus der gleichen Ecke stammt, wie die von dem Glas, das zu fünfzig
Prozent gefüllt ist. „Halb voll” nennen es die einen, „halb leer” die
anderen. Es kommt wohl auf den Beschauer an, denkt Hein sich. So wie
Schönheit im Auge des Betrachters entsteht, entsteht der Blick auf die
Welt dort auch, dieser und eben auch jener.
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