ABENTEUER FERNOST | AUSGABE 4/2012 | ||||||
Bilderbuch-Vulkan auf den Kurilen. |
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„Och, Ochots – wie bitte?”
Ein Zungenbrecher, der selbst gestandene Seeleute ins Stottern bringt. Die
Quizfrage gilt dem Ochotskischen Meer. Irgendwo östlich vom Schwarzen Meer,
so tippen sie, soll es liegen – und hauen voll daneben. Wie es scheint,
immer noch ein „weißer Fleck”
im Bewusstsein vieler Menschen. Schlägt man im Atlas allerdings den Nordpazifik auf,
wird man seine geographischen Koordinaten finden: eingeschlossen von der
nordjapanischen Insel Hokkaido im Süden, den Kurilen im Südosten,
Kamtschatka im Nordosten, dem ostsibirischen Festland im Nordwesten und
Sachalin im Westen. Ein Exot unter den Meeren. Bis 1990 Terra incognita,
weil Sperrgebiet für Russen und Ausländer. „Das Ochotskische Meer”,
gestehen die weit gereisten Passagiere, „hat noch gefehlt in unserer
Sammlung”. So jedenfalls empfinden die
meisten, die sich auf der HANSEATIC für
den 3585-Seemeilen-Rundkurs eingeschifft haben: gleichgesinnte Enthusiasten
auf hohem Niveau, die auch der stolze Preis nicht schreckt. Die
Hobby-Entdecker begeistern sich für die kalten, klaren Weiten der
unberührten Landschaften nördlicher Breiten samt ihrer spezifischen Tier-
und Pflanzenwelt. Vom Hafen Otaru auf Hokkaido ging der 123 Meter lange
8376-Tonner im Juni 2012 unter Führung seines bewährten Kapitäns Thilo Natke
in See. Der Niedersachse kennt sich aus in den Extremgebieten dieser Erde
wie kein Zweiter. Immer wieder erschließt er seetouristisch Neues wie zum
Beispiel die Wrangel-Insel in Nordost-Sibirien, das nordpolare
Franz-Joseph-Land oder Neu-Kaledonien im Südpazifik.
„Meine Damen und Herren, Sie sind hier nicht zur Erholung”, stimmt die Expeditionsleiterin ihre Gäste auf die kommenden 17 Tage ein. Natürlich augenzwinkernd. Und sie legt nach: „Wir fahren auf einem Expeditionskreuzfahrtschiff, da werden wir Sie”, verspricht die junge Frau, „schon müde kriegen”. Wie, das erfahren die rund 80 Gäste aus aller Herren
Länder schon am nächsten Tag, der mit durchdringendem Seevogel-Geschrei
beginnt. Weckruf à la HANSEATIC. Zunächst
steht allerdings Sicherheit auf dem Lehrplan des Zweitem Offiziers:
Alarmsignale, Gebrauch der Rettungsweste, Einweisung in die Bootsstationen,
Verhalten an Bord, im Zodiac-Schlauchboot und an Land. Nach diesem Auftakt,
der den vielen Wiederholern schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, eine
deutsch-englische Lektoren-Einführung. Diplomgeologe Dr. Wolfgang B. doziert
im Hörsaal der Lounge über die Region: „Die 1200 Kilometer lange Inselkette
bildet die weltweit aktivste Vulkankette. Sie enstand vor 46 Millionen
Jahren zunächst untermeerisch, als sich zwei ozeanische Schollen aneinander
rieben und Magma an die Oberfläche quoll”.
Didaktisch eindrucksvoll demonstriert er 4,6 Milliarden Jahre Erdgeschichte
an einem 46 Meter langen Faden. Nur 20 Zentimeter davon repräsentieren
symbolisch die Entstehung der Kurilen. Geologisch ein Sekunden-Bruchteil.
Auf den 56 Inseln, so der Wissenschaftler, gibt es
rund 100 Vulkane, von denen noch ein Drittel aktiv ist. Viele von ihnen –
der höchste, Mount Alaid, ragt 2400 Meter auf – mit der charakteristischen
Kegelform. Ausbrüche, Erd- und Seebeben sind keine Seltenheit. Manche
Gebiete dürfen daher auch nicht betreten werden. Erste Station: die Zwillings-Inseln Chernye Bratya, Schwarze Brüder. Auf der jederzeit offenen Brücke drängeln sich die Seh-Leute, um nichts zu verpassen. Die Gipfel hüllen sich zwar geheimnisvoll in Wolken, sind aber ansonsten harmlos. Während „unser” Anlandungs-Eiland von freundlichem Grün überwuchert ist, gibt sich der schwarzfelsige Blutsverwandte abweisend schroff. Auf „braune Würste” am Klippenfuß, so Kapitän Natke, sollten wir während der Vorbeifahrt achten. Bis auf weiteres stellt er seine Lautsprecher-Durchsagen ein, um die Seelöwen nicht zu stören. In ihren Jagdgründen tummeln sich auch zahlreiche russische Fischdampfer. Allerdings weniger sensibel.
Auf Yankicha wird uns der Boden spürbar heiß unter den Füßen. Aus dem Einsturzkrater, einer Caldera, quellen dicke Dampfschwaden. Höllischer Schwefelgestank kriecht sogar bis in die Klimaanlage der ankernden HANSEATIC. Das Erkundungsteam prescht per Zodiac voraus. Alles klar! Kapitän Natke nach der täglichen Wetter- und Positionsmeldung über den Bordlautsprecher: „Bitte stellen Sie sich auf eine nasse Landung ein!” Also – wie eigentlich immer – Gummistiefel anziehen. Der erste Anlauf am Vormittag ist ausgefallen: Wasserstand zu niedrig, eine Felsbarre zu hoch. Je nach Situation disponieren Natke und sein Team immer wieder um. „Gerade das”, meint ein Passagier, „macht ja das Besondere an dieser Expeditionsreise aus”. Niemand ist unzufrieden, im Gegenteil. Wenn Plan A nicht klappt, dann kommt eben B zum Zug oder auch C. Für den Ersten Offizier, bisher auf Containerfrachtern befahren, ist das eine Herausforderung: „Langeweile oder Wiederholungen kenne ich hier nicht”. Glück gehabt: Sonne satt und spiegelglatte See. In
diesem ansonsten eher unruhigen Meer nicht gerade eine
Selbstverständlichkeit. Wie sich noch zeigen wird. Leider auch verbunden mit
ausgefallenen Landgängen. Stattdessen nicht minder prickelnde Ausweichziele. Heißes Wasser sprudelt überall aus den Erdlöchern
von Yankicha. Einige Mutige wälzen sich genüsslich in dem Naturbad. Zum
Abkühlen tauchen sie unter in dem nur fünf Grad kalten Salzwasser-Kratersee.
Andere erklimmen die Flanken mit fantastischer Aussicht über die
atemberaubende, zerklüftete Vulkanlandschaft. Dichte, hohe Grasmatten dienen
als Hosenbodenrutsche. In kindlicher Freude rauschen sie zu Tal. Ein paar
zutrauliche schwarze Polarfüchse am Strand kümmert das wenig. Menschen sind
ihnen unbekannt. Die Pelztiere, auf die Dutzende von Kameras gerichtet sind,
räkeln sich vor ihrem Bau in der Sonne und genießen es sichtlich, im
Mittelpunkt zu stehen.
Wie auch wenig später die braunen Speck-Kolosse der
Stellerschen Seelöwen und Nördlichen Seebären von Ostrov Srednego. Per
Zodiac umkreisen wir die kargen Felseilande. Dabei verheddert sich in den
Schrauben ständig zäher Kelp, von dem sie die Bootsführer immer wieder
befreien müssen. Die bis zu 200 Meter langen Riesenalgen, sie gelten als
längste Lebewesen der Welt, bilden an der Oberfläche dichte Teppiche, die im
Wasser wie Wälder anmuten. Eine Kostprobe schmeckt nach salzigem
Sauerampfer. „Sieht aus, als könnte man auch drüber laufen”,
meint jemand. Doch die neugierig neben uns auftauchenden und scheinbar mit
ihren Flossen winkenden Tiere beweisen das Gegenteil. Von ihren erhöhten
Sonnenlogen weht beißender Gestank herüber. Über allem thronen massig die
großen Stars: in tiefem Bass röhrende Clan-Chefs. Ihre rosa Rachen sind mit
scharfen Zähnen gespickt. Auch auf Ostrov Broutona sind Stars heimisch, allerdings viel kleinere: Scharen von Hornlunden. Einen hat der Ornithologie-Lektor später sogar eingefangen zum Foto-shooting aus nächster Nähe. Die lustig-bunten Vögel gelten als pazifische Verwandte der europäischen Papageientaucher. In riesigen Kolonien nisten sie auf schroffen Felsvorsprüngen einträchtig mit schwarz-weißen, auch als „Mini-Pinguine” bekannten Lummen, Sturmtauchern, Eissturmvögeln, Alken, Meeresscharben, Kormoranen und Teisten, um nur einige zu nennen. Über ein Sechstel der gesamten Kurilen-Population ist hier heimisch. Ohrenbetäubend ihr tierisches Krächz-Konzert. Dazu ein Bombardement von ätzenden Kot-Geschossen aus der Luft, in der ein Flug-Chaos zu herrschen scheint. Die beiden Ornithologen beantworten schon im Zodiac
geduldig Fragen. Bei Rückblick und Vorschau am Abend, kurz Recap genannt,
bringen sie dann Klarheit in die Köpfe der Passagiere, die schon etwas müde
geworden sind. Bereits früh am Morgen nämlich hat sie die
Expeditionsleiterin mit ihrem Weckruf aus süßem Schlummer gerissen. Das
lohnt sich immer, finden alle, denn jeder Tag bringt Unbekanntes, Neues und
Überraschungen.
Von hoher Brückenwarte beobachtet Naturfan Thilo
Natke unablässig die See. Wenn sich
etwas bewegt, greift er spontan zum Mikrofon: „Meine Damen und Herren,
schauen Sie mal nach Backbord, etwa in Richtung elf Uhr, da blasen zwei
Pottwale”. Prompt ändert er den Kurs des
Schiffes und folgt dem Weg der Tiere, bis sie in Fotoreichweite kommen. Dazu
liefert er Informationen wie ihre erstaunlichen Tauchzeiten von 90 Minuten
und -tiefen bis 1200 Meter. Auch Finn-, Grönland- , Grauwale und Orcas
werden gesichtet und sind eine Attraktion. Sie suchen in dem
nahrungsreichen, kalten Auftriebswasser nach Nahrung. Die Relingsgäste
greifen zu ihren Ferngläsern und geraten beim Whale-watching – vor Sachalin
kommem wir per Zodiac in Greifnähe an die Riesen heran – jedes Mal in
Verzückung. So auch später bei drei Kamtschatka-Bären. Natke, dem das
sichtlich Spaß macht, dreht dann spontan auf Sichtweite heran. Eins von vielen weiteren Highlights: als zur
Pool-Deck-Glühweinparty possierliche Seeotter vor und neben dem Schiff
auftauchen. In bequemer Rückenlage knacken sie mit ihren Pfoten-Händen
Muscheln, die hier reichlich vorkommen. Die Szenerie ist eingerahmt von
schneegefleckten Bergflanken. Zum Abendessen kontrastiert ein klassisch
schöner Schichtvulkan schwarz gegen den rot glühenden
Sonnenuntergangs-Himmel. Kurze Zeit später wird das reale Traumbild von
dichtem Nebel verschluckt.
Ums blanke Überleben ging es einst auch auf der
nächsten Insel Onekotan. Eine windschiefe Hütte mit allerlei gut erhaltenen
Einrichtungsgegenständen, als wären sie gerade noch benutzt worden, zeugt
davon. Die ehemalige Funkstation soll im letzten Weltkrieg hart umkämpft
gewesen sein, wie wir von unserem Lektor erfahren. Er führt eine
Wandergruppe durch den reißenden Fluss über einen Steilküstenpfad auf die
weite Hochfläche. Die üppig blühende Tundra ist übersät mit Grasbuckeln.
„Vom Bodenfrost aufgeworfen”, erklärt er,
denn das Klima sei hier im langen Winter sehr hart, trotz der niedrigen
Breitenlage. Zurückzuführen auf den küstenparallel verlaufenden kalten
Kurilen-Strom aus der Arktis. Teppiche von süßen Krähenbeeren verlocken
ständig zu „Vitamin-Pausen”. Einige
pflücken sie händeweise für ihr Frühstücks-Müsli an Bord. Dr. Reiner K. ist
nicht zu bremsen beim Anblick von leuchtenden Steinpilzkappen. In der
Kombüse wird daraus ein köstliches Zwischengericht gezaubert.
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inklusive. Wie man sieht, lauter
Bedingungen, die auch heute noch das Überleben sichern würden. Kreisrunde
Wälle am Treibholz übersäten Flussufer indes verraten eine aufgelassene
Siedlung. Offenbar ist es doch nicht so weit her mit dem sorglosen Ausharren
in diesem scheinbaren Naturparadies. Zurück schweben wir förmlich über Baumkronen von Erlen, Weiden und Kiefern – zäher subarktischer Krüppelwuchs zwischen zehn Zentimetern und Brusthöhe. Ein wahrhaft „riesiges” Gefühl. Weniger das in den Knochen. Muskelkater und Kniegelenkschmerzen – körperliche Erinnerung an das anstrengende Auf und Ab der Buckelwiesen – zwingen erst mal auf die Koje. Bis zum Abendessen. Dann nämlich sorgen der Küchenchef und seine Mannen für Kalorien-Nachschub. Die Tundra-Wanderer spüren, was sie getan haben. Und die Expeditionsleiterin hat Recht behalten: Wir sind hier nicht (nur) zur Erholung ...
Kamtschatka Steuerbord voraus! Mit dieser 1200 Kilometer langen und bis zu 450 Kilometer breiten Halbinsel, so groß wie Deutschland, streckt das russische Riesenreich seinen Arm tief in den Nordpazifik aus, informiert das Reise-Begleitheft. Und: „Da es mit seinen 29 aktiven Vulkanen, heißen Quellen und Geysiren einzigartige Schönheiten birgt, sind Teile Kamtschatkas als Weltnaturerbe anerkannt”. Neben der Oblykovina-Flussmündung setzen wir unseren
Fuß erstmals auf russisch-fernöstliches Festland. Hinter dem Strandwall
glauben die Ankömmlinge im seichten Wasser neben springenden Lachsen einen
langen grauen Felsrücken zu sichten – oder doch nicht? Der Lektor und
Diplom-Biologe klärt auf: „Gestein steht hier nicht an. Das ist ein
gestrandeter Grönland-Wal.“ Allgemeines Staunen. Auch beim Anblick der
anscheinend noch bewohnten, aber völlig verkommenen Container-Hütte. Ringsum
ein Chaos aus Tonnen, Leinen, Plastik-Müll, ausgenommenen Fischkadavern und
Netzen. Plötzlich steht ein junger Mann im Eingang: „Privjet! Hallo!”
Etwas verlegen lächelnd ob unseres „Überfalls”,
bittet er – „pajalsta!” – in die
Unterkunft. Zerwühlte, schmutzige Betten, Kleidung, wacklige Stühle und ein
klappriges Tischchen bilden das „Ambiente”.
Arnold Schwarzenegger zeigt auf einem Poster seine „Terminator”-Muskeln.
In einer Waschschüssel goldgelbe beerengroße Lachseier. Dazu Brot und Tee.
Ein köstliches Gastmahl. „Besser als Stör-Kaviar”,
findet ein Mitfahrer genüsslich kauend. Mancher klemmt einen Dollar-Schein
unter seinen Trinkbecher.
Alex, Ende Zwanzig, haust hier mit vier Kollegen.
Sibirische Überlebenskünstler. Sie kommen aus der einige hundert Kilometer
entfernten Halbinsel-Hauptstadt Petropawlowsk-Kamtschatski. Einziges
weibliches Wesen: Kätzchen Anja, das vergnügt zwischen dem Müll herumtollt.
Von Juni bis September, übersetzt Mari, fischen sie Lachse.
„Produktionsergebnis” der kurzen Saison:
20 Tonnen Kaviar, das Kilo zu 20 Rubel. Ein schöner Batzen für die freien
Unternehmer, mit dem sie und ihre Familien gut über den langen Winter
kommen. Anders der etwa fünfzigjährige Einsiedler Igor in der
Erineiska-Bucht auf dem sibirischen Festland. Nur hat er andere Motive:
Harte Schicksalsschläge vertrieben ihn in die Wildnis – für immer. Einzige
Lebensgrundlage ist das, was die Natur so bietet: Fische, Tiere, Pilze,
Beeren, Kräuter. Jemand bringt ihm einen abgelegten Pullover mit. Der Mann
bedankt sich überschwänglich. Die beiden wettergegerbten Wildhüter, denen wir
später auf der Fedora-Insel begegnen, leben schon seit zwölf Jahren in ihrer
Station, drei Tagesmärsche von der nächsten Ansiedlung entfernt. Ein junger
Betriebswirt aus Wladiwostok verbringt einen Natur-Urlaub bei ihnen – Zubrot
für die Männer, deren selbstgewählte Isolation die wenigsten nachvollziehen
können. Wolodjas Taiga-Lieder zur Gitarre klingen schwermütig. Auch nach dem
„Ankerplatz der Hölle”. So nannte der
russische Ex-Sträfling und Schriftsteller Warlam Schalamow die Stalin’schen
Straflager des Archipel GULAG, in denen zwischen 1932 und 1954 zwölf bis
fünfzehn Millionen Menschen umkamen. Der einstige Verwaltungssitz Magadan
des „Schwarzen Planeten” wird zwangsweise
an Steuerbord liegen gelassen. Die Stadt mit der finsteren Vergangenheit
ist, wie Klaus Bednarz in seinem Buch „Östlich der Sonne”
beschreibt, nach wie vor „Grenzgebiet, Sperrzone, nur mit besonderer
Genehmigung zu betreten”. Außerdem gelte
die Hafenstadt als besonders kriminelles Pflaster. Wir tuckern nachdenklich
auf unsere Luxus-Insel zurück. Alex und seine Aussteiger-Kumpels auf Zeit hingegen
sind weltverbunden. Alle paar Tage fährt ein Sil-Gelände-LKW vor und holt
die begehrte Ware ab. Im Gegenzug karrt er frisches Brot und andere
Lebensmittel aus dem 40 Kilometer entfernten Dorf heran. Lektor Tim J.
ergänzt die Lieferung außerplanmäßig durch eine Stange Zigaretten und
Streichhölzer. Alex revanchiert sich mit einem Sack voll frisch gefangener
Lachse. Als ein Entenschwarm schnatternd über die Hütte sirrt, erwacht
sofort sein Jagdinstinkt. Wir wollen so ein Geschenk nicht und winken
eiligst ab. Er lässt enttäuscht
die Flinte sinken.
An Backbord das zerklüftete Kap Juschneu –
Herausforderung für Wassersportler, die Gegend auf eigene Faust zu erkunden.
HANSEATIC hält dafür Einer- und
Zweier-Kajaks bereit. Kapitän Natke gibt angesichts der ruhigen, nur von
Schwell bewegten See sein Go. Wir genießen die motorlose Stille und gleiten
zwischen den schäumenden Lava-Klippen hindurch. Unterwasserfelsen bremsen
manchmal abrupt knirschend die rasante Surftour. Hoch über uns steil
aufragend und fast schon bedrohlich das Kap, westlichster Punkt
Kamtschatkas. Wir landen an wie Entdecker und stiefeln in haushohe
Brandungshöhlen, die von stürmischeren Zeiten künden.
Bei der Rückfahrt gegen die Wellen schwappt schon mal ein Schwall
kalten Wassers in die offenen Sitzluken der tanzenden Boote. Ein Abenteuer
der besonderen Art. Wie die anschließende Bären-„Jagd”
per Schiff, Fernglas und Zodiac am Kap Utkholoksky, einer Mischung aus
Helgolands „Langer Anna”, Zuckerhut und
skandinavischen Schären. HANSEATIC dreht
nach Nordwesten ab. Allmählich schrumpfen die Bären zu braunen Punkten.
Abenddunst legt zarte Schleier über die bizarre schwarze Felskulisse, an der
die Wellen weiß aufschäumen. Es sind die gleichen Brecher und doch immer
wieder neue: wie das Leben – ständig in Bewegung, philosophiert ein
Mitpassagier.
Von Existenzproblemen berichtet Ian S. in seinem
Einführungs-Vortrag über Sachalin. Bezeichnender Titel: „Alle möchten gerne
von hier flüchten”. Lange Zeit übte die
abgeschiedene 948 Kilometer lange Insel mit den imposanten Bergketten eine
besondere Anziehungskraft auf Entdecker aus. Ab 1869 nutzte Russland sie als
Verbannungsort für Kriminelle und Revolutionäre, später Stalin für
politische Gefangene. Nur die Japaner kamen freiwillig. Sie kämpften um die
Öl- und Kohlevorkommen. Von 1925 bis 1946, so Iange sicherte ihnen die
Sowjetunion Förderrechte zu. Heute bohren vor der Küste
russisch-amerikanische Joint-Venture-Firmen gemeinsam nach dem schwarzen
Gold. Keine Chance für die meisten Russen. Sie möchten weg aus dieser
isolierten, kaum erschlossenen Grenzregion. Doch ein Umzug ins russische
„Mutterland” ist für die Vergessenen
unerschwinglich, denn mit der Wende kam die Arbeitslosigkeit. Staatliche
Fürsorge von einst wich erbarmungslos der „neuen Ökonomie”. Was wissen die fröhlich tanzenden Oroken-Schulkinder
schon davon, die uns in der Nobilski-Bucht empfangen? Ihre bunten
einheimischen Trachten wollen weder zum grauen regenverhangenen Himmel noch
zur Situation in ihrer Heimat passen, erst recht nicht die reich gedeckten
Tische. „Früher”, kratzt sich Wladimir,
ein krummbeiniger, scheinbar altersloser Gnom, seinen struppigen, von
Machorka-Qualm gegilbten Bart, „war alles kostenlos. Damals hatten wir es
nicht nötig zu arbeiten”. Er nimmt einen
kräftigen Schluck aus der Wodka-Flasche der Marke „Ochotskisches Meer”
und schimpft: „Heute dagegen müssen wir für alles bezahlen”.
Da verstehe einer noch diese Welt! Das alte Denken ist, so zeigt sein
Beispiel, nicht totzukriegen.. Befragt, wie sie sich als Vertreterin der jungen
Generation ihre Zukunft vorstelle, antwortet Gymnasiastin Tanja spontan:
„Bloß weit weg von hier und in Sankt Petersburg Raumfahrttechnik studieren”.
Die Sechzehnjährige hat wahrlich hochfahrende Pläne. Ob sie damit Glück
haben wird? Plötzlich auftauchende Grenzsoldaten, die nicht fotografiert
werden wollen, repräsentieren nach wie vor eine alles beherrschende und
bremsende Staatsgewalt.
Beim übernächsten Landgang in Korsakov spüren wir
die hautnah. Penible Pass- und Gesichtskontrollen, untermalt von zackigen
Marsch-Rhythmen einer Armee-Kapelle, ziehen sich hin. Schnell noch Brot und
Salz zur Begrüßung, dann endlich dürfen die Busse in die 35 Kilometer
entfernte Sachalin-Hauptstadt Yushno Sakhalinsk starten. Ein monumentaler
Lenin steht dort, von Hochzeitsgesellschaften umschwärmt, unverändert an
seinem Platz. Unsere erstaunte Frage nach dem Warum beantwortet Reiseleiter
Nicolai dialektisch: „Warum nicht? Das ist Geschichte”.
Vor 15 Jahren kam er von der Wolga in den Fernen Osten: „In der Hoffnung,
hier mehr zu verdienen und besser zu leben, aber sehen Sie selbst”.
Fazit des Kultur-Ausflugs mit Stadtrundfahrt, Museums- und Kirchenbesuch,
Spezialitäten-Essen, folkloristischer Gesangsvorführung und Shopping:
Russland extrem – zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Luxus und Armut. Die 15.000 Nördlichen Seebären samt 400 Steller’sche
Seelöwen indes kümmert das alles nicht im geringsten. Sie bleiben ihrer
Tjuleni-Insel, einem nur 700 Meter langen Felsen-Eiland, das wir anlaufen,
nach langen pazifischen Wanderungen treu. Wegen der Jungenaufzucht. An Land
und im Wasser wimmelt es von kleinen und großen braunen Körpern, die sich
räkeln, spielerisch aus den Fluten katapultieren oder mit den Flossen
winken. Beraterin Olga fühlt sich in der inzwischen
heruntergekommenen Forschungsstation fast wie zu Hause. Dreizehn Jahre
verbrachte sie hier als Biologin. „Rabota – ich hatte Arbeit”,
lautet die schlichte Erklärung der rothaarigen Russin. Wie sie das
ohrenbetäubende Gebrüll und den beißenden Gestank ausgehalten habe, wollen
wir wissen. „Alles Gewohnheit”, winkt sie
lächelnd ab. „Das war”, prustet der triefnasse Zoologie-Lektor begeistert, „das tierischste Highlight!”. Ein überkommender Brecher hat ihn im rückkehrenden Zodiac voll erwischt. Mit jeder Seemeile Kurs Zielhafen Petropawlowsk auf Kamtschatka versinkt Sachalin achteraus im „Meer der Verdammten”. Hapag-Lloyd Kreuzfahrten/HAN1211 |
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Die HANSEATIC liegt vor Anker, ihre Passagiere werden mit Zodiacs ausgebootet. |
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Einfahrt mit dem Zodiac in einen Kurilen-Krater ... |
... und Anlandung der Passagiere in der Krater-Bucht. |
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Ein Vulkan spiegelt sich im Meer. |
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Ein Lachs kämpft gegen den Strom. |
Nicht schön, aber praktisch, weil Mücken nicht sehr beliebt sind. |
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Brandung an der Küste Kamtschatkas. |
Vulkan-Küste auf den Kurilen. |
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Eine Einsiedlerhütte in Ostsibirien ... |
... mit einfachster Einrichtung, wie dieser Schlafplatz ... |
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... aber Lachs-Kaviar satt. |
Der ostsibirischer Wildhüter Wolodja spielt Taiga-Lieder. |
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HANSEATIC-Kapitän Thilo Nadke auf der Brücke. |
Die Routenkarte dieser Reise vom 12. bis 30. Juni 2012. |
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Die HANSEATIC hinter einem Strandwall. |
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