AUSGABE 4/2012
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Rosemarie Schmidt-Walther Der blinde Passagier 

Schwere Eisenketten donnerten über das metallene Schiffsdeck. Männer in schwarzen Overalls schleiften sie mit ölverschmierten Spanngurten hinter sich her, um dann die letzten beiden LKWs seefest zu vertäuen. Der Erste Offizier meldete zur Brücke, dass sie nun komplett seien. 

Sein Walkie-Talkie knisterte das kurze „Okay in den Wind. Nur einen Moment später hob sich, wie von unsichtbarer Hand gezogen, die riesige Heckklappe, die vorher noch das fast nahtlose Verbindungsglied zur Pier im Hafen von Hanko war. Sie verschloss nun die Frachtfähre als hohe Wand. Dahinter standen über zwei Decks dicht an dicht LKWs und führerhauslose Trailer, bis sie in Rostock wieder an Land rollen würden. Die Fahrer hatten sich längst in ihre Kabinen zurückgezogen, um jede Minute dieser Überfahrt in Ruhe zu genießen.

Die Heckschrauben quirlten das Wasser mit Getöse auf, und das Schiff löste sich schnell vom finnischen Ufer. Allmählich wurde das Maschinengeräusch leiser und gleichmäßiger. Die Fähre glitt durch die vorgelagerten Schären-Inseln zur offenen Ostsee.

Ein kleiner Spatz saß auf dem Handlauf der Reling am oberen Deck und beobachtete scheinbar interessiert die Abläufe. Zwischendurch flog er auf und wechselte seine Position, als würde er die beste Sicht suchen.

Nach einer Weile zog es ihn auf das gelbe Dach eines Trailers, der auf dem oberen offenen Deck stand. Er hüpfte über die Plane und pickte unsichtbare Körner auf. Zurück auf der Reling sah er mit seinen kleinen Knopfaugen zum schmalen Küstenstreifen. Die Silhouette von Hanko zeichnete sich ab. Die Kirche und der rote Wasserturm mit dem Fisch als Wetterfahne auf der Spitze stachen markant hervor und waren noch eine ganze Weile zu erkennen. Die Abendsonne glänzte auf seinem grau-braunen Gefieder und der laue Wind plusterte es vorsichtig auf.

Allmählich wunderte er sich über den größer werdenden Abstand zum vertrauten Land und die riesige Wasserfläche dazwischen. Er flog erneut auf und umrundete das Schiff. Der Fahrtwind brachte ihn fast von der Flugbahn ab. Er musste geschickt manövrieren, um seitlich wieder aufs Schiff zu gelangen. Erschöpft setzte er sich auf den schmalen Steg neben dem Schornstein. Wenigstens war es hier ruhig. Kein Mensch störte ihn.

Doch plötzlich ging eine Tür auf und ein dickbäuchiger Mann betrat die Freifläche davor. Er lehnte sich auf die Reling. In seiner Hand hielt er eine Büchse Bier, die er von Zeit zu Zeit an den Mund führte, um mit weit zurückgelehntem Kopf daraus zu trinken. Seine nackten Beine steckten in klobigen Clogs, die auf dem Stahldeck polterten, als er ging und die leere Büchse auf den Boden neben der Bank stellte. Ächzend ließ er sich dann darauf nieder.

Der Spatz war längst erschrocken aufgeflogen und hatte sich einen Sitzplatz ganz oben hinter der Brücke gesucht. Hier gab es eine riesige weiß gestrichene freie Fläche, über die der kleine Vogel verloren hüpfte. Er vermisste eine warme Sandmulde, in der er jetzt liebend gerne ein Bad genommen hätte. Und er vermisste seine Familie.

Es wird Zeit zurückzufliegen, ging es ihm durch den Kopf. Zuvor hüpfte er zu einer Wasserlache, die vom letzten Regen oder einer Decksreinigung übriggeblieben war, und gönnte sich ein paar Tropfen davon. Er hob ab und flatterte vom Schiff weg. Über ihm türmten sich graue Wolken, die zum Horizont hin dünner wurden und die bald untergehende Sonne in Nordwest sichtbar ließ.

Er wandte sich Richtung Küste und hielt mit sparsamen Flügelschlägen darauf zu. Hin und wieder blickte er hinter sich, um den Abstand zum Schiff zu erfassen. Er konnte es kaum glauben, aber die Küste wollte nicht näher kommen. Von der Fähre entfernte er sich aber immer schneller. Das Herzchen pochte aufgeregt in dem kleinen Vogelkörper, und kurzentschlossen kehrte er zum Schiff zurück.

Wieder saß er auf dem Vordeck und tschilpte laut. Aber der Schiffsdiesel ließ sein Stimmchen untergehen. Die Maschinen dröhnten und der zitternde Metallboden ließ ihn ebenso vibrieren. Seine Füße taten ihm weh. Weicher Sand oder die griffige Rinde von Ästen waren ihm lieber. Hier gab es weder das eine noch das andere. Was sollte er nur tun? Warum gelang es ihm nicht, wieder an Land zu fliegen? Wäre seine Familie hier, könnte er eine Antwort auf seine Fragen bekommen, aber er war ganz allein.

Was würde ihm seine Mutter raten? Versuch es! Du kannst es! Das hatte sie ihm immer wieder gesagt, als er vor noch nicht allzu langer Zeit das Fliegen lernte. Und sie hatte recht behalten. Also, nicht aufgeben! Er ruhte noch eine Weile in einer windgeschützten Ecke. Hin- und Herfliegen wollte er jetzt lieber nicht. Schließlich musste er mit seinen Kräften haushalten.

Die Sonne näherte sich dem Horizont und ähnelte allmählich einer riesigen Orange. Eine glänzende Lichtbahn auf dem Meer verband das Schiff mit der Linie zwischen Himmel und Wasser. Dramatisch positionierten sich dunkle Wolkenstreifen um den Glutball. Der Spatz beschloss einen zweiten Versuch. Er flog zum Start auf die Reling und erschrak, als er in Richtung Küste blickte. Sie war weg! Er drehte sich hüpfend um 180° und sah sich suchend um. Das konnte nicht sein! Wo war das Land? Aufgeregt flatterte er über das Schiff, landete auf dem Brückenvordeck und hob wieder ab. Bis auf ein paar weitere Schiffe, die wie Spielzeug verteilt in weiter Ferne lagen, gab es nur Wasser um ihn herum.

Er brauchte eine Weile, um zu merken, dass es kein Zurück gab. Er war verzweifelt.  Unbändiges Heimweh packte ihn. Wieder und wieder sah er von der Reling aus zum Horizont und hoffte vergeblich auf den dunklen Streifen, der vom Land kündete. Er flog ein Deck tiefer auf die gelbe Plane vom Trailerdach. Das weiche Material tat seinen kleinen Krallen gut. Außerdem hatte er Hunger. Vorhin lagen dort ein paar Reste, die von den Bäumen herunter geweht waren, als der Trailer noch auf der Landstraße mit dem Sattelzug nach Hanko unterwegs war. Aber der Fahrtwind auf dem Wasser hatte alles saubergepustet. Nicht ein Körnchen oder Blättchen war zu finden.

Er zog sich wieder in die geschützte Ecke auf den Gang zum Vordeck zurück. Wie sollte es nur weitergehen? Musste er für immer hier bleiben? Konnte er jemals wieder an Land? Er fühlte sich gefangen, obwohl er noch nie so viel Freiheit hatte.  Resigniert zog er den Kopf ein Stück tiefer in sein Federkleid und entlastete seine Beinchen, indem er sich niederließ. Aber schon nach kurzer Zeit flatterte er wieder auf. Sein Hunger war einfach zu groß und ließ ihn nicht zu Ruhe kommen. Er zog ein paar Flugbahnen kreuz und quer über das Schiff und suchte nach Essbarem. Aus den Augenwinkeln sah er etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Er flog näher heran und entdeckte einige Zweige, die achtlos unter der Bank auf dem Vordeck lagen. In Reichweite ließ er sich nieder und  hüpfte ein Stück näher. Er musste vorsichtig sein. Hier saß vorhin der dicke Mann mit dem Bier. Jederzeit könnte er wiederkommen.

Endlich war er nahe genug und freute sich, als er zwischen den Zweigen eine Kornähre entdeckte. Schnell pickte er ein, zwei Körner heraus. Dann wurde er gestört. Durch die Tür vom Deckshaus schritt eine Frau, die mit einem weißen T-Shirt und einer karierten Hose bekleidet war. Es war Lilly, die Köchin. Sie lehnte sich über die Reling und zündete sich eine Zigarette an. Ihr Blick ging verträumt zum Horizont und dann zur Seite, nachdem sie einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette genommen hatte. Sie stieß den Rauch pfeilartig aus ihrem Mund und entdeckte dabei den Spatz.

„Was machst du denn hier, du blinder Passagier?, sagte sie laut. „Willst dir wohl mal Rostock ansehen?

Der kleine Vogel verstand nichts und flog ein Deck höher. Aber aus sicherer Entfernung beobachtete er die Köchin. Wollte sie ihm das Futter streitig machen? Er hatte es zuerst entdeckt! Aufgeregt hüpfte er ein Stück näher. Da! Plötzlich bückte sich Lilly und zog den verwelkten Strauß unter der Bank hervor.

„Was ist das denn? Sie schüttelte verwundert den Kopf. „Da wollte wohl jemand unseren Salon verschönern? Sie betrachtete die Feldblumen und machte Anstalten, das Bündel über Bord gehen zu lassen. Dann lächelte sie aber und zog zwei Getreidehalme aus dem Gesteck und warf es in Richtung des Vogels. Der flog erschrocken auf und brachte sich in Deckung.

„Hab doch keine Angst, kleiner Piepmatz! Lass es dir schmecken! Sie drückte ihre Zigarette im Wandaschenbecher aus und ging zurück ins Deckshaus.

Der Spatz wartete noch einen Moment, bis er sich traute, näher an die Zweige zu kommen. Hastig pickte er ein paar Körner heraus. Hm! Tat das gut! Er konnte gar nicht schnell genug schlucken. Jedes zweite Korn fiel daneben. Aber das machte nichts. Erst einmal stopfte er sich den Magen so gut es ging voll. Die restlichen Körner würde er später ihn Sicherheit bringen.

Die Tür zum Deckshaus wurde wieder geöffnet. Es war der dicke Mann. Schwungvoll ließ er sie mit lautem Knall zurück ins Schloss fallen, nachdem er sie durchschritten hatte. In der Hand hielt er wieder eine Büchse Bier. Ängstlich flog der Spatz auf das Trailerdach und sah mit schrägem Kopf nach oben zu dem dicken Mann.

 

Der zögerte, setzte sich auf die Bank, stand dann aber wieder auf, um sich auf die Reling zu lehnen. Der gefiederte Passagier flog nach oben, um seine Körner, die noch auf dem Boden lagen, im Auge zu behalten. Just in dem Moment drehte sich der Mann um. Er ging zurück und zertrat dabei mit seinen klobigen Clogs das restliche Mahl. Der kleine Spatz hätte am liebsten „Nein! gebrüllt, wenn das zu seiner Sprache gehört hätte. So blieb ihm nur ein zorniges „Tschilp, tschilp!

Der dicke Mann hatte es nicht wahrgenommen, ihn nicht einmal gesehen. Als er wieder im Deckshaus verschwunden war, wagte sich der Vogel an seinen Futterplatz. Enttäuscht sah er auf die zertretenen Körner. Nur ein paar leere Spelze lagen daneben. Vergeblich versuchte er das sättigende Mark vom Boden zu picken. Es klebte auf der Stahlfläche fest. Sein Schnabel konnte es nicht aufnehmen. Ein Korn lag unversehrt ein Stück entfernt. Schnell schnappte er sich den letzten Leckerbissen.

Inzwischen war es fast dunkel geworden. Auf dem Schiff gingen Lampen an. Scheinwerfer beleuchteten die Gänge und die Decks. Der Spatz drehte noch ein paar Runden, um Ausschau nach weiterem Futter zu halten. Vergeblich. Erst als sich die Himmelskuppel dunkel über die Ostsee wölbte, setzte er sich in seine geschützte Ecke. Auf dem Vordeck standen jetzt mehrere Männer und rauchten. Sie unterhielten sich laut und lachten. Die Lüftungsgebläse entließen einen verheißungsvollen Duft aus den Küchenräumen, der über die Decks wehte. Der Spatz ahnte, dass es dort auch für ihn Futter geben müsste. Er konnte sich gut erinnern, als er mit seiner Familie vor einem Imbiss in Hanko auf heruntergefallene Krümel wartete. Reichlich gab es davon. Es gab sogar Menschen, die Freude daran hatten, ihnen etwas zuzuwerfen. Aber hier roch es nur wie bei dem Imbiss. Krümel konnte er nicht entdecken. Doch die Köchin war nett. Vielleicht brachte sie später ein paar mit nach draußen.

Zusammengesunken sah er mit schrägem Kopf zum Himmel hinauf. Unzählige Sterne blinkten wie reife gelbe  Weizenkörner. Der kleine Vogel nahm diesen Anblick mit in seinen Traum.

Es war schon fast hell, als er von lautem Möwengeschrei wach wurde. Möwen mochte er nicht. Er fürchtete sich vor ihnen. Sie waren so viel größer und lauter und hatten einen gefährlichen Schnabel. Vorsichtig flog er auf die untere Etage der Reling. Die Möwen hatten ihn entdeckt und schrien empört. Wenn er sich nahe genug am Schiff aufhielt, konnten sie ihn nicht bedrängen. Nach einer Weile ließ ihr Interesse nach und sie konzentrierten sich auf das Schiffsheck. Hier gab es für sie oft einen reich gedeckten Tisch, wenn nämlich die Köche die Essensreste über Bord gaben. Das hatten sie schnell gelernt.

Der Spatz wagte sich nach vorne auf das Brückendeck. So konnte er voraus schauen. Der Wind war hier allerdings heftiger, und er hatte Mühe, sich zu halten.

Er traute seinen Augen kaum: das musste Land sein! Ein dunkler Streifen zeichnete sich deutlich am Horizont ab. Aufgeregt flatterte er umher. Endlich! Endlich! Seine Familie wartete bestimmt schon ungeduldig an der Pier auf ihn, war er sich sicher. Es konnte nicht mehr lange dauern. Der dunkle Streifen wurde höher und allmählich lösten sich Türme und Häuser daraus hervor. Aber etwas stimmte nicht. Irritiert schaute der kleine Spatz auf die Silhouette. Wo war der Wasserturm mit dem Fisch? War das gar nicht Hanko, was vor ihm lag? In seine Freude mischte sich immer mehr Zweifel. Mit jedem Meter, den sich das Schiff der Küste näherte, hatte er die Gewissheit: das ist nicht Hanko.

Was sollte er tun? Einfach an Land fliegen? Wie war es dort? Gab es genug Futter? Das Schiff fuhr langsamer, der Wind war fast ganz zum Erliegen gekommen. Zu beiden Seiten konnte der Spatz ganz nah Land erkennen. Fast schien es, als wären sie auf einem Fluss. Er traute sich noch nicht, die Fähre zu verlassen. Aber noch ehe sie richtig festmachte, flog er an Land hinüber zu einer Baumgruppe hinter einem mehrstöckigen Haus.

Hier fand er Futter, setzte seine Füßchen genüsslich in weichen Sand und plusterte seine Federn kräftig durch. Trotzdem behielt er seine Fähre im Blick. Sie war immerhin das letzte Bindeglied zu seiner Familie. Das durfte er nicht vergessen. Zwischendurch flog er über das Schiff hinweg. Er  sah, wie eine Zugmaschine seinen Trailer mit dem gelben Dach von Bord zog. Dann flatterte er wieder zu den Bäumen.

Eine Gruppe anderer Spatzen erregte seine Aufmerksamkeit. Er hörte ihr lautes Stimmengewirr und traute sich neugierig dichter heran. Die Hoffnung, dass seine Mutter und Geschwister auch hier waren, zerschlug sich. Vorsichtig näherte er sich weiter. Die anderen beäugten ihn misstrauisch. Ein Fremder! Was will er hier? Unser Futter? Sie formierten sich zu einer abweisenden Wand. Das war deutlich. Erstaunt und enttäuscht beobachtete das der kleine Spatz. Warum tun sie das? Er konnte das nicht verstehen, blieb aber auf seiner Position und wartete ab. Angst hatte er nicht. Schließlich waren es ja auch nur Spatzen, so wie er. Die Erfahrung, von anderen attackiert zu werden, hatte er noch nicht gemacht.

Da flog der Chef der Sippe laut schimpfend auf und stürzte sich auf den Eindringling. Erschrocken flatterte der ein paar Meter zurück. Immer wieder wurde er angegriffen, bis er sich aus dem Dunstkreis der Familie entfernt hatte. Jetzt saß er in einem Baum und lugte verstohlen hinter einem Blatt hervor. Die Gruppe hatte sich noch nicht beruhigt. Fast schien es, als würden sie diskutieren. Sie waren sich nicht einig. Der Spatz beobachtete die anderen gebannt. Plötzlich spürte er einen Luftzug, ein anderer Spatz setzte sich neben ihn. Er erschrak zunächst und hüpfte auf dem Ast ein Stück zur Seite. Der andere blieb sitzen und signalisierte friedliche Absichten. So saßen sie eine ganze Weile und schienen sich zu unterhalten. Wahrscheinlich erzählte er von seiner aufregenden Schiffsreise, von seiner Familie in Finnland und dem Wasserturm, der einen Fisch als Windfahne hatte.

Am späten Abend flogen beide hinüber zum Schiff. Die letzten Trailer wurden von Zugmaschinen an Bord gezogen und ein dunkles Auto mit einem Kajak auf dem Dach rollte langsam in die kleine Lücke, die noch auf dem Ladedeck geblieben war. Der Schiffsdiesel wurde lauter, die Heckklappe hob sich und langsam entfernte sich die Fähre von der Pier.

Die beiden Spatzen ließen sich auf der Reling nieder und schauten interessiert in das aufschäumende Wasser im Hafenbecken. Als draußen der Wind heftiger wurde, suchten sie gemeinsam die schützende Ecke auf dem Gang zum Deckshaus auf, und der kleine Spatz erzählte leise weiter von seinem schönen Land und der freundlichen Köchin Lilly.

Zeichnung: Rosemarie Schmidt-Walther, Stralsund

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