„... und tief in der Seele das Ferne, das Sehnen,
das nimmermehr ruht ...” Ja, damals sangen
wir solche Verse an Heimabenden und an Lagerfeuern, wir, die Pfadfinder in
Düdenbüttel, nördlich von Stade an der Elbe. „Schön ist die Welt, drum
Brüder, lasst uns reisen ...” In
Heimatkunde lernten wir von Lehrer Buhrke Karten vom Land zwischen Elbe- und
Wesermündung zu zeichnen. Später gab’s
abgegriffene Abenteuerheftchen, die getauscht wurden.
Wir lasen alles, was
uns in die Hände fiel, „Das Grab am Wabash”
und die „Blutige Grenze”. Und endlich auch
den „Robinson Crusoe”, „Tecumseh”,
„Am Rio de la Plata” und das Tagebuch des
Robert F. Scott.
Als aus Heimatkunde Erdkunde geworden war, und wir
das Gymnasium besuchten, studierten wir jede Landkarte. Und lernten Kurioses
erinnern. Wie heißen die Zinninseln im Ausgang der Sundastraße?
Ab wo ist der Amazonas schiffbar?
Da oben im Norden ist die See nahe, auf der Elbe kam
man in den Nachkriegsjahren am schnellsten nach Hamburg, an Wracks vorbei.
Blaue Troyer und Hosen „mit Zahlbrett und Schlag”
waren noch häufig zu sehen, Tätowierungen wiesen den Träger als Seemann aus.
Und wenn so einer dann anfing, von seinen Reisen zu erzählen, stockte uns
oft genug der Atem.
Meine Sehnsucht auf die Welt wuchs aus Liedern und
Büchern, die Ziele fand ich auf Karten. Es waren lange nur Ziele an Land,
Pfadfinder gingen „auf Fahrt” und manchmal
weiter weg „auf Großfahrt”. Da schlug man
dann die Zelte an Seen in Schleswig-Holstein auf oder radelte durchs
Bergland die Weser entlang. In den Jugendherbergen wurden abends Lieder
gesungen von Finnland und Island, von Mückenschwärmen und Kabeljau. Hinter
der Nordsee, die wir bei Cuxhaven kennenlernten, lockte die Ferne. Wir
lernten Englisch und Französisch und bissen uns die Zähne an Finnisch aus.
Mit siebzehn Jahren fuhr ich zum ersten Mal nach
England, von Oostende nach Dover. Finnisch hatten wir aufgegeben. Wir
wetteiferten jenseits des Kanals mit Reisezielen. Nach Ullapool musste man
wenigstens trampen, und Land’s
End könnte man auch noch erreichen. Die Orte konnten gar nicht weit genug
entfernt sein. Oban und Argyll klangen exotisch, auf einer Insel sollte noch
Schafwolle zu Stoffen gewebt werden – von Hand.
In Newcastle-upon-Tyne traf sich die Welt. Aus dem
Britischen Empire war nach dem Zweiten Weltkrieg das Commonwealth of Nations
geworden, und auch in Newcastle studierten seine jungen Männer – aus Indien,
Pakistan, Malaysia, aus Burma und aus Afrika, aus der Karibik, aus
Neuseeland und Australien. Englisch hatte viele Klang- und Hautfarben. Und
kannte viele Geschichten, denen wir, ebenfalls in Newcastle studierend, im
Club der ausländischen Studenten lauschten.
Die erste Schiffsreise ging von Rotterdam nach New
York, die zweite von New York nach Le Havre, noch mit Schiffen, die schon im
Zweiten Weltkrieg gefahren waren. Flugreisen waren damals unerschwinglich.
Mit Töchtern und einem Hund waren später
Inselurlaube angesagt. Die Ziele sollten sicheres Sommerwetter, große
Strände, Badetemperaturen und eine Wohnung bieten, Zelte oder Hotels standen
nie auf unserer Liste. So badeten wir in Ostsee, Nordsee, am Atlantik und im
Mittelmeer.
In jedem Jahr verschwand damals Vater mit Freunden
auf eine Woche oder zehn Tage zum Segeln, das er von der Pieke auf bei einem
holländischen Kapitän gelernt hatte. So ließen sich fremde Küsten per Boot
besuchen, man lernte, sich auch auf hoher See zu orientieren.
Manche dieser Reisen bildeten den Hintergrund für
Romane und Geschichten, die im Herbst, Winter und Frühjahr geschrieben
wurden. Weithin unbekannte Orte wurden sehr wichtig, Byxelkrok etwa oder die
Gargalo.
Zum Erfinden und Schreiben kamen Übersetzungen aus
dem Englischen – maritime Romane aus Englands Kampf gegen Napoleon oder im
Schwarzen Meer oder gegen die deutsche Kriegsmarine. Und wieder weitete sich
die Welt. Seekarten sammelten sich, Atlanten wurden wichtig, Nachschlagwerke
standen dicht gedrängt im Regal. Doch die Reisemuster änderten sich durch
diese Tätigkeit noch nicht.
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Ohne die Frage des Verantwortlichen für
Rundfunkfeatures wäre alles beim Gewohnten geblieben: „Wollen Sie nicht mal
einen Reisebericht für uns machen?”
Sinnvollerweise über eine Gegend, die einem vertraut war. Harris in
Schottland, Öland in der Ostsee, St. Petersburg und die Ile d’
Oleron, die Färöers und Grönland wurden zu einstündigen Reisefeatures. Und
manche auch zu Reiseberichten in der FAZ.
Alles wäre weiter bei gewohnten Stadt- und
Inselgeschichten geblieben, wenn nicht der Herausgeber des SeereisenMagazin
die gleiche Frage wie der Rundfunkmann gestellt hätte: „Wollen Sie nicht mal
einen Reisebericht für uns machen?” Ja,
ich wollte und will immer noch. Reisen macht wohl nie satt. Viele der
angeträumten Ziele haben wir inzwischen erreicht.
Wir fuhren auf die Insel des großen Tuchs, nach
Harris und erlebten, wie Tweed gewebt wurde. In Oban an der schottischen
Westküste probierten wir wunderbaren Whisky. Wir fuhren durch den Panama,
das Maß aller Schiffe, durch den Suez, den ersten Welten trennenden Kanal,
staunten über Gibraltar, mit dem die Alten die Säulen des Herkules
verbanden. Was Bücher versprochen hatten, wurde in der Südsee Wirklichkeit,
Palmen, blauer Himmel, blaues Meer und ein weißes Schiff. Geheimnisvolle
Osterinsel mit steinernen Malen. In Venedig ließen wir am Canal Grande die
Seele baumeln.
Wir machten mit gecharterten Booten weite
Segelreisen und probten Sextanten-Kenntnisse. Auf einem Großsegler stiegen
wir in die Wanten. Wir schwankten im Urwald von Honduras über Hängebrücken
und genossen an der Küste Meer, Ferne und kühlenden Wind. Inseln bewegen uns
immer wieder: die Lofoten mit ihrem geheimnisvollen Licht und Pitcairn, das
wohl einsamste Eiland der Welt.
Auf all unseren Reisen ist eine Erfahrung immer
gleich: Gespräche beginnen am Tisch mit einem mehr oder minder kurzen
Hinweis auf eine andere eigene Schiffsreise. Aus diesem Hinweis entwickeln
sich oft Unterhaltungen, die eine ganze Kreuzfahrt lang fortgesetzt werden
können. Doch nicht jeder hat eine vergleichbare Reisebiografie, manch einer
will nur mal ausprobieren, wie ein Urlaub auf dem Wasser sich anfühlt.
Was lockt, kann das einzelne Ziel, mehrere Ziele,
die gesamte Route, das zu erwartende Wetter, Fauna, Flora oder das Schiff
selber sein, das unsere Gesprächspartner zu ihrer Reise veranlasst hat.
Manche Annehmlichkeiten brauchen gar keine Erklärung.
Immer wieder mal treffen wir auch auf Reisende, die
das im Fernsehen Gesehene überprüfen wollen. Ist die See dort wirklich so
blau? Wie geht das mit den Lokomotiven am Panamakanal? Wo landeten die
Meuterer der Bounty? Tragen alle Statuen auf der Osterinsel steinerne Hüte?
Bücher locken heute seltener und auch mit dem
topografischen Wissen aus dem Erdkundeunterricht ist es nicht mehr so weit
her. „Um den Kabeljau zu fangen und zu fischen nach Verlangen”
reist heute wohl sicher niemand mehr – auch nicht nach Island. Und was
treibt uns an? Immer noch „das Ferne, das Sehnen, das nimmermehr ruht?”
Was weckt bei uns heute Reisewünsche, die zu neuen
Zielen führen? Erstens fremde Küsten, an denen wir noch nie waren. Zweitens
Orte, die wir auf Kreuzfahrten noch nicht besucht haben oder unbedingt
wiedersehen wollen. Und schließlich Schiffe, die wir kennenlernen möchten. Wir planen natürlich vernünftig und sachlich,
studieren viele Quellen, stimmen uns ab. Und so erscheinen Ziele auf unserer
Wunschliste für künftige Reisen, die alle begründbar sind. Soweit so gut.
Doch so ganz rational geht es nicht immer zu. Da
nehmen wir ein Buch in die Hand. Hören ein Lied. Sehen einen Film. Der
Nachbar erzählt. Und plötzlich gilt das kühl Geplante überhaupt nicht mehr.
Wenn wir so unseren Gedanken nachhängen, entdecken wir das Sehnen wieder,
„tief in der Seele, das nimmermehr ruht”.
Da gibt es doch eine Reise von Manaos runter ums Kap und bis Lima rauf.
Sollten wir die nicht machen? Also ...
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