Der Sankt-Lorenz-Strom, drittmächtigster Fluss
Nordamerikas, der das Wasser der Großen Seen in den Atlantik bringt, ist die
wichtigste Lebensader der größten kanadischen Provinz Québec. Eng mit ihm
verbunden ist das Volk der Wendat, deren letzte Angehörige in der Nähe von
Québec-City leben. Im Reservat Wendake, einem hübschen kleinen Dorf, das auf
den ersten Blick recht bürgerlich wirkt, entdecken die modernen „Indianer”
ihre alten Traditionen wieder und nutzen sie für innovative touristische
Projekte. Ganz in der Nähe der heiligen Kabir-Kouba-Wasserfälle betreiben
sie seit einigen Jahren Kanadas erstes Museumshotel.
Eine Bisonledercouch ist der ideale Platz zum
Träumen. Noch dazu, wenn sie vor einem Kamin steht, außerdem in Kanada und
obendrein in einem „Indianerhotel”,
gebaut und betrieben vom Volk der Wendat, das die Franzosen Huronen nennen.
Noch ein Schluck vom Feuerwasser – und ich bin
Winnetou, reite in Gedanken durch die Prärie, jage Büffel, kämpfe gegen
Bleichgesichter. Für die Friedenspfeife müssen alle Krieger vor die Tür,
auch echte Indianer. Das angeblich unkorrekte Wort für die Ureinwohner
Nordamerikas hört man hier im Übrigen genau so oft wie das offizielle „First
Nations”.
Beseelt von Wildwest-Klischees und kitschigen
Bildern aus Karl-May-Filmen, freue ich mich auf die Begegnung mit dem
einheimischen Fremdenführer, einem waschechtem Wendat, der mir den Ort
seiner Väter zeigen will. „Bonjour!”
begrüßt mich der elegant gekleidete junge Mann am nächsten Morgen an der
Rezeption und stellt sich mit Dave Laveau vor. Dass ich auf der Suche nach
einem nordamerikanischen Ureinwohner an ihm vorbeigelaufen wäre,
behalte ich für mich.
Als hätte er die Gedanken erraten, erzählt Dave von
einer japanischen Reisegruppe, die richtig böse gewesen sei auf sein
„normales”
Outfit. „Sie fragten: Warum haben Sie keine Federn auf dem Kopf, und wo
stehen überhaupt Ihre Zelte?”,
gibt der 28-Jährige zum Besten, mit einer Designer-Brille in der Hand. Doch
schließlich hatten sich die Japaner selber ebenso wenig als Samurais
verkleidet wie ich mit Seppelhose oder Spreewaldhaube.
Statt auf unbeschlagene Pferde steigen wir in einen
klimatisierten Van, der uns zu Kabir Kouba bringt. An diesen Wasserfällen
begann die Geschichte der First-Nations-Siedlung, deren heutigen Bewohnern
es weitaus besser als den meisten ihrer „roten Brüder“ geht.
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Schmucke Häuschen, saubere Straßen, gepflegte
Rabatten bestimmen das Bild des Reservats, zu dem auch eine katholische
Kirche, Shopping Mall, Gewerbegebiet und neuerdings ein Museumshotel
gehören.
Neben dem Verwaltungsgebäude, in dem der
Oberhäuptling regiert, spielen die Kinder der Biber-Grundschule auf gemähtem
Rasen Fußball. An der Polizeistation hängt eine Blumenampel. Die Nähe zum
modernen Québec-City, wo die meisten Wendat arbeiten, lernen und studieren,
ist überall in dem Indianerdorf zu spüren. Auch Dave ist in Amerikas
französischster Stadt aufgewachsen, zur Schule gegangen, hat
Tourismusmarketing studiert – wie auch in Großbritannien.
Von der Sprache seiner Ahnen kennt der junge Mann
nur wenige Worte, etwa den Namen seines Stammes: Annaariskwa, die
Wolfsleute. Alle Tiere, die den Wendat heilig sind, trifft man in Wendake in
vielfältigen Darstellungen – als Skulpturen, Graffiti oder Lichtbilder, die
nachts von der Straßenbeleuchtung auf die Gehwege projiziert werden.
Mit großem Getöse stürzen die Wassermassen des
Akiawenrahk-Flusses, den die Frankokanadier Saint Charles nennen, in die
Tiefe, bevor sie sich durch einen schmalen, 42 Meter tiefen Canyon zwängen.
Eine Tafel erinnert an das Ende einer langen Reise, die Daves Vorfahren 1697
bis an diese Stelle führten. „Vor 400 Jahren war unser Volk über den ganzen
Nordosten Amerikas verbreitet. An die 40.000 Wendat lebten in mehr als 30
Dörfern. Heute sind wir noch 3.000”,
berichtet der junge Wolfsmann. Wie im Museum zu erfahren ist, wurden sie
durch den Handel mit Tierfellen zu Freunden der Franzosen, nahmen allmählich
deren Sprache, Religion und Kultur an. Heute entdecken viele Wendat die
alten Traditionen wieder neu.
Einer von ihnen ist Christian Bastien. Bekleidet mit
Hirschlederanzug, Fuchsfell und
Federn, hockt der sportliche 62-Jährige an der
Feuerstelle und lässt sich von Touristen fotografieren. Lange hat der Mann
vom Stamm der Schildkröten als Banker in Montréal gearbeitet, bevor er in
seinen Heimatort Wendake zurückkehrte. „Ich hatte genug Rock ,n’ Roll in
meinem Leben. Jetzt kann ich meine Rente in diesem wunderbar ruhigen Ort
genießen”,
gesteht er und macht es sich wieder am Kochtopf gemütlich. Es war gut, dass
ich Dave zuerst getroffen habe. Monsieur Bastien hätte mich mit seinem
beeindruckenden altmodischen Aufzug womöglich auf eine falsche Fährte
gelockt.
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