Istanbul – „Unser” Schiff wartet vor dem
Südeingang des Bosporus im Angesicht der südlichen Stadtteile Istanbuls auf
dem europäischen und asiatischen Ufer, zusammen mit einigen weiteren –
Handelsschiffe, Öltanker und Personendampfer – auf das Signal VIRA (Anker
lichten – im Gegensatz zu FUNDA, was „Vor Anker gehen” bedeutet). Beide
Kommandos gehen auf die Venezianer und Genuesen zurück, die Jahrhunderte
lang in den Gewässern um Konstantinopel/Istanbul operiert hatten.
Vor dem auf dem asiatischen Ufer
gelegenen Vorort Kadiköy (dem antiken Chalkedon) nähert sich unserem Schiff
ein Motorboot, ihm entsteigt der Lotse, erklettert das Schiff und wird auf
dem Hauptdeck von der Schiffsbesatzung begrüßt, um dann seine Aufgabe auf
der Kommandobrücke – Kapitän und Steuermann neben ihm – aufzunehmen. Auch
wenn Kapitäne durchaus in der Lage wären, ihre Schiffe allein durch die
Wasserstraße zu steuern, bestehen Versicherungsgesellschaften auf der
Anwesenheit von Lotsen während der Passage. Die türkische Regierung verlangt
außerdem ein eskortierendes Schleppboot auf Backbord voraus, damit bei einem
Ausfall von Maschinen oder dem Steuerruder rasche Manöver möglich sind.
Erste Aufgabe des Lotsen bei einer
Süd-Nord-Passage des Bosporus ist, wie dem Autor von einem Berufslotsen,
einem Verwandten einer ihm von Wien her bekannten türkischen Familie
geschildert wurde, eine scharfe Beobachtung des Fährverkehrs zwischen den
Istanbuler Anlegestellen Eminönü bzw. Karaköy auf dem europäischen und
Üsküdar und Kadiköy auf dem asiatischen Ufer, der trotz der Existenz zweier
stark befahrener Bosporusbrücken nichts an Intensität eingebüßt hat.
Auf Bildschirmen scheint elektronisch der
aktuelle Kursverlauf des Schiffes auf, etwaige Kursänderungen werden vom
Navigator mit den im Logbuch eingetragenen Linien verglichen, um dann, wie
ehedem, mit Kurvenlineal und Stechzirkel auf einer Seekarte eingetragen zu
werden. Zwei hüfthohe Magnetkompasse auf jeder Seite der Kommandobrücke
stehen bereit für den Fall, dass der elektronisch gesteuerte Kompass
ausfallen sollte.
Die elektronisch aufgezeichnete Kurslinie
liefert ausreichende Informationen über Wassertiefen, Strömungsrichtungen
und -geschwindigkeiten und eingetragene bzw. erforderliche Kursverläufe
voraus, aber auch über die Position anderer Schiffe. Besonders Ausflugs- und
Vergnügungsboote verkehren oft überraschend und oft lange unbemerkt auf dem
Bosporus – sie tauchen, wie der Lotse schilderte, „wie Gänse oder Enten auf
dem Wasser auf”.
Hunderte Fährboote, die den Bosporus entlang
fahren oder queren, mögen eigene Berufslotsen haben, eine echte Gefahr für
die Schifffahrt auf der Wasserstraße stellen Fischerboote dar. Denn diese
starten oft noch bei Dunkelheit von ihren Anlegestellen in Richtung Mitte
der vielbefahrenen und fischreichen Wasserstraße, um ihre Fänge zu machen.
Am wenigsten beliebt sind bei Fischern passierende Riesentanker wegen ihres
Maschinenlärms und verschmutzten Schiffsböden bzw. Kimmen.
Fast wichtiger als der Blick auf
elektronische Indikatoren, Radarschirme, Kompass und Tiefenanzeiger usw. ist
für den Lotsen der Blick in die Fahrtrichtung, auf Höhe und
Bewegungsrichtung der Wellen und auf kleinere Schiffe und Boote, die weit
mehr als größere Schiffe den Strömungen und vorherrschenden Winden
ausgesetzt sind. Bei jeder Passage des Bosporus muss man daher dem Lotsen
zufolge den für das Schiff erforderlichen Kursverlauf „erfühlen” und ihn
nicht schon vor Fahrtantritt auf Karten oder Bildschirmen festlegen. Dabei
tauchen Fragen auf wie „Trifft man auf Fähren, die Probleme bereiten?” oder
„Wie wirkt sich ein Wechsel der Windrichtung auf das Schiff und seinen Kurs
aus?”.
Besonders Yachten und Segelboote mit
Kapitänen mit „Geschwindigkeitsrausch” muss man mit – oft mehrfach
wiederholten – Signaltönen aufmerksam machen, dass man freie Fahrt benötige.
Übrigens bringt jeder Lotse für die jeweilige Passage ein Verzeichnis mit,
das Aufschluss über augenblickliche Strömungen und Windgeschwindigkeiten
gibt, verlässt sich aber hauptsächlich auf seinen Instinkt und seine
Erfahrung, erst dann auf Berichte von Berufskollegen, die die Wasserstraße
in der Gegenrichtung passiert haben, zuletzt auf schriftliche Unterlagen.
Sieben Kurswechsel bei Bosporus-Passage
nötig
Gleich nördlich von Kadiköy passieren Schiffe
auf dem Bosporus den sogenannten Jungfrauenturm, oft auch Leanderturm
genannt. Er erinnert an die griechische Sage von Leander, der zu seiner
Geliebten Hero schwamm, obwohl die Sage ihn auf die Dardanellen verlegt. Der
erste Kurswechsel – 55 Grad nach Steuerbord ‒ erfolgt etwas nördlich von der
Einmündung des Goldenen Horns (türkisch Halic) zwischen den Istanbuler
Stadtteilen Beyoglu (europäisches Ufer) und Üsküdar (asiatisches Ufer). Der
zweite Wechsel ist dann auf der Höhe des am asiatischen Ufer gelegenen
Stadtteils Cengelköy mit 30 Grad nach Backbord fällig.
Cengelköy liegt wenige Kilometer nach der
ersten Bosporusbrücke (1973 eröffnet), die nach Kemal Atatürk, dem Gründer
und ersten Präsidenten der türkischen Republik benannt ist. Hat man dann
Belek auf dem europäischen Ufer passiert, gelangt man an eine Stelle, wo der
Bosporus seine größte Tiefe aufweist: über 100 Meter, hier erreicht sein von
Norden nach Süden fließender Oberstrom auf die größte Geschwindigkeit mit
etwa acht Knoten.
Wo der dritte bzw. vierte Kurswechsel
erforderlich ist – zwischen Kandili (asiatisches Ufer) und Asiyan
(europäisches Ufer) nahe der unmittelbar nördlich der Festung Rumeli Hisari
gelegenen, nach Sultan Mehmet II. Fatih, dem Eroberer Konstantinopels
benannten zweiten Bosporus-Brücke, befindet sich die schmalste Stelle des
Bosporus – 698 Meter. Hier ist ein kompliziertes Doppelmanöver erforderlich:
zunächst 45 Grad nach Steuerbord und danach fast die gleiche Gradzahl
nach Backbord. Beträgt die Wendegeschwindigkeit mehr als 25 Grad pro Minute,
kann das Auswirkungen auf die Stabilität des Schiffes haben. Jeder
Kurswechsel eines Schiffes muss daher in Form glatter, wohl berechneter
Schritte voraus kalkuliert werden.
Bei Kanlica Point folgt der fünfte
Kurswechsel zurück nach Steuerbord, dann folgt bei Yeniköy der sechste,
schärfste Kurswechsel mit 80 Grad nach Backbord, dem bald darauf die
Rückkehr nach Steuerbord (siebenter Wechsel) nahe den Untiefen von Umur am
asiatischen Ufer gegenüber der kleinen Bucht von Tarabaya folgt. Hierher
verlegt die griechische Argonautensage die sogenannten Symplegaden, zwei
nicht in der Erde verwurzelte Berghügel, die immer wieder zusammenstoßen und
zwischen sich Schiffen nur eine ganz kurze Zeit zum Passieren lassen..
Dann taucht Backbord voraus das von den
Byzantinern einst Kledai tou Pontu (Schlüssel zum Pontus, das ist das
Schwarze Meer) genannte Kap am europäischen Ufer auf, die Wasserstraße wird
allmählich breiter und man gelangt auf das Schwarze Meer hinaus. Kurz vorher
hat man noch die Baustelle der dritten Bosporusbrücke passiert, die nach
Sultan Selim II. Yavuz (regierte 1512 bis 1520) benannt wird und 2015 für
den Verkehr freigegeben werden soll. Hier ist dann die Arbeit des Lotsen zu
Ende, er begibt sich auf ein Motorboot, das ihn nach vollendeter Passage auf
dem Bosporus wegbringt. Nun kann das Schiff ohne Schwierigkeiten den Kurs
auf seinen Bestimmungshafen des Schwarzen Meeres ansteuern.
„Oberstrom” und „Unterstrom” in ertrunkenen
Flusstälern
Die zu den meist befahrenen Wasserstraßen der
Welt zählenden Meerengen Bosporus und Dardanellen trennen zwei Kontinente –
Europa und Asien – und sind als solche in die Mythologie und die Geschichte
eingegangen, Jahrhunderte lang haben sie auch die Weltpolitik beschäftigt.
Geomorphologisch sind beide entweder durch Senkung oder gestiegenen
Meeresspiegel nach der letzten Eiszeit ertrunkene Flusstäler.
Aus dem Schwarzen Meer fließt ein kräftiger
„Oberstrom” durch den Bosporus in das Marmarameer und von dort etwas
abgeschwächt durch die Dardanellen in die Ägäis und damit in das Mittelmeer.
In etwa 40 Meter Tiefe fließt ein schwächerer „Unterstrom” durch die
Meerengen in die entgegengesetzte Richtung. Bedingt ist das durch die
Tatsache, dass der Wasserspiegel des Schwarzen Meeres um einen Meter höher
liegt, als die südlich von ihm gelegenen Meere, aber auch dadurch, dass der
Salzgehalt im Mittelmeer etwa doppelt so hoch ist wie im Schwarzen Meer und
das Mittelmeerwasser damit eine höhere Dichte aufweist. Das Mittelmeer nennt
man ein „arides” (trockenes) Meer, weil hier die Verdunstung den
Wasserzufluss aus dem Atlantik durch die Straße von Gibraltar und die
einmündenden Flüsse übersteigt.
Umgekehrt ist es beim Schwarzen Meer, wo der
Wasserzufluss von Donau, Dnjepr, Dnjestr, Don, Östlichen Bug, Kizilirmark
und Sakarya den Verdunstungskoeffizienten übersteigt und zu einem
Wasserüberschuss von jährlich etwa 300 Kubikkilometer führt. Dieses
überschüssige Wasser gelangt durch die Meerengen mit einer
Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa drei Knoten, stellenweise auch acht
Knoten über die Ägäis in das Mittelmeer.
Bosporus in Sage, mittelalterlichen und
neuzeitlichen Beschreibungen
Schon in antiken Sagen wurde der Bosporus
erwähnt, allen voran in der bereits geschilderten Argonautensage, als der
Held Jason und seine Begleiter auf dem Schiff ARGO die Fahrt nach Kolchis
(das heutige Georgien) unternahmen, um das Goldene Vlies, ein goldenes
Lammfell nach Griechenland zu bringen und dabei die Symplegaden passieren
mussten. Einer anderen griechischen Sage zufolge hatte Göttervater Zeus die
von ihm verführte Nymphe Io in eine Kuh verwandelt, um sie vor dem Zorn
seiner eifersüchtigen Gattin Hera zu schützen. Von Hera in Raserei versetzt,
flüchtete die Kuh durch den Bosporus auf das asiatische Ufer.
Vom griechischen Geographen Dionysos von
Byzanz (2. Jhdt. v. Chr.) stammt die früheste detaillierte Beschreibung der
Topographie des Bosporus. Diese veranlasste den englischen Historiker John
Freely, ihn als „Meeresstraße, die alle anderen übertreffe”, sowie als
„Fluss der Zeit in einem Land der Träume” zu bezeichnen, auch, weil der
Bosporus „mit einem Schlüssel zwei Welten öffne und schließe”. Prokopius,
der Geschichtsschreiber der Zeit des oströmischen Kaisers Justinian
(regierte 527 bis 565) nannte den Bosporus eine „Girlande von Wassern”. Die
früheste Beschreibung der Strömungen im Bosporus stammt vom Franzosen
Jean-Baptiste Lecheralier in „Voyage de la Propontide et du Pont-Euxin”,
1800 veröffentlicht. Darin beschrieb er die Schönheiten des Verlaufes der
Wasserstraße, die Vielseitigkeit seiner Uferlandschaften und nannte sichere
Ankerplätze. Er zählte sieben Windungen des Bosporus auf, jede mit
unterschiedlichen Wasserströmungen, die er durch Farbwechsel des
Oberflächenwassers feststellte, wenn plötzliche Regenfälle den Salzgehalt
des Meeres änderten.
Der knapp 32 Kilometer lange Bosporos
(griechisch Bosporos = Rinderfurt, türkisch Karadeniz oder Istanbul Bogazi)
verbindet das Schwarze Meer (im Altertum Pontos Euxinos) mit dem Marmarameer
(im Altertum Propontis genannt) ist etwa 700 bis 3000 Meter breit und 30 bis
etwas über 100 Meter tief. Im Norden sind die bis zu 200 Meter ansteigenden
Ufer kahl oder von Buschwerk bestanden, gegen Süden folgen Fischerdörfer,
einzelne Industrie- und Werftanlagen, Villenorte, alte Paläste und Burgen
(Rumeli Hisari auf der europäischen, Anadolu Hisari auf der asiatischen
Seite gegenüber an der engsten Stelle), dann folgt weiter südlich die
Metropole Istanbul auf beiden Seiten des Bosporus unmittelbar bei dessen
Ende. Jahreszeitliche Fischwanderungen zwischen Mittelmeer und Schwarzem
Meer erlauben ergiebigen Fischfang. Seit 1958 verbindet eine Eisenbahnfähre
die Istanbuler Stadtteile Sirkeci und Haydarpasa.
1973 wurde die erste 1570 Meter lange
Hängebrücke mit ihrer Spannweite von 1074 Meter eröffnet, der 1988 im
Mittelabschnitt des Bosporus eine zweite (1090 Meter Gesamtlänge) folgte.
Eine dritte Brücke über den Bosporus ist im Bau und soll 2015 eröffnet
werden. Alle Brücken erheben sich bzw. sollen sich erheben 64 Meter über dem
Wasserspiegel. 2013 wurde in Istanbul ein Eisenbahntunnel unter dem Bosporus
(das „Marmaray-Projekt”) eröffnet. Seit 1954 besteht auf der Höhe der
Stadtteile Arnavutköy (Europa) und Kandilli (Asien) eine erste Freileitung
mit einer 154 kV-Leitung über die Wasserstraße, eine zweite seit 1983 für
420 kV, der 1997 eine dritte, ebenfalls für 420 kV folgte, die bereits für
800 kV angelegt ist.
Reiche Geschichte des Bosporus
Die alten Griechen passierten die Meerengen,
um zu ihren Kolonien am Schwarzen Meer zu gelangen. Doch konnten sie mit
ihren ursprünglichen Schiffen vom Spätfrühling bis in den Sommer nicht durch
den Bosporus gelangen, weil während dieser Zeit Nordostwinde die
Strömungsgeschwindigkeit des Wassers erhöhten, gegen die die Schiffe nicht
kreuzen konnten. Auch die Rudergeschwindigkeit reichte gegen die Strömung
dann nicht aus. Erst mit dem Aufkommen stärkerer Ruderboote, den
Pentekoutere, konnte man die Strecke in das Schwarze Meer ganzjährig
bewältigen.
Der Perserkönig Dariawahush (Darius I.) ließ
im 6. Jhdt. v. Chr. eine Schiffsbrücke über den Bosporus bauen, um
sein angeblich damals 700.000 Mann starkes Heer für einen Feldzug gegen die
Skythen überzusetzen. Die Großmächte, die später den Bosporus kontrollierten
(Imperium Romanum, Byzantinisches Reich, Osmanisches Reich) strebten damit
auch eine Kontrolle über das Schwarze Meer an. Dennoch gelang es gewissen
Völkern aus dem Norden, zeitweise auch mit Flottenunterstützung durch den
Bosporus bis Konstantinopel vorzustoßen und die Stadt, allerdings
vergeblich, zu belagern, so 865, 907, 941 und 1043 die Russen.
Sultan Bayazit I. (regierte 1481 bis 1512)
ließ 1390 am Bosporus eine Schiffswerft errichten, um die Schifffahrtsroute
von dem damals noch nicht osmanischen Konstantinopel nach dem Schwarzen Meer
durch Inspektionen und fallweise auch durch Durchfahrtsverweigerungen zu
kontrollieren. Dazu wurde auch die Festung Anadolu Hisari auf dem
asiatischen Ufer errichtet, der gegenüber auf dem europäischen Ufer 1451 als
Vorbereitung für die Belagerung und schließlich die Eroberung 1453 die
Festung Rumeli Hisari folgte.
Zeitweise wurde Schiffen unter der Flagge
Venedigs und Genuas die feie und ungehinderte Durchfahrt zu ihren
Schwarzmeerbesitzungen ermöglicht, später mussten diese italienischen Mächte
dafür Genehmigungen einholen und eine Steuer entrichten. Nach 1484 wurden
nach der osmanischen Eroberung der gesamten Schwarzmeer-Nordküste allen
Schiffen unter ausländischer Flagge die Durchfahrt durch den Bosporus
verwehrt. Im 16. und 17. Jhdt. war das Schwarze Meer praktisch ein
Binnenmeer des Osmanische Reiches und vom internationalen Handel völlig
isoliert. Im 18. Jhdt. eroberte Russland Teile der nördlichen
Schwarzmeerküste (1696 erstmals, 1739 endgültig Asow, 1769 Taygan, 1778 die
Hafenstadt Cherson; worauf
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dann 1783 die Halbinsel Krim in russische Hände
geriet. Es gab einen von Griechen aus der Ägäis (damals osmanische Bürger)
betriebenen Freihandel mit diesen Gebieten, doch mussten die Kapitäne
auslaufender Schiffe dafür bürgen, dass die gesamte Besatzung wieder
zurückkehrte und sich nicht von den Russen abwerben ließ. Dieser Zustand
blieb bis zum Frieden von Kücük Kainardji 1774 zwischen Russen und Türken –
dann sollte die Meerengenfrage über 160 Jahre die internationale Politik in
Atem halten.
Auch die Dardanellen verzeichnen bewegte
Geschichte
Die etwa 65 Kilometer langen Dardanellen
(griechisch Dardanellia, türkisch Canakkale Bogazi, im Altertum Hellespont
genannt) sind eine 1,3 bis 7 Kilometer breite und bis zu 100 Meter tiefe
Meeresstraße zwischen der zum europäischen Kontinent gehörenden Halbinsel
Gallipoli (türkisch Gelibolu) und Kleinasien. Die nach Dardanos, einer
antiken Siedlung in der Nähe des einstigen Troja benannte Wasserstraße
verbindet das Marmarameer und die Ägäis und vermittelt den durch den
Bosporus aus dem Schwarzen Meer kommenden Wasserüberschuss in das
Mittelmeer. Ähnlich wie der Bosporus sind die Dardanellen von Terrassen an
ihren Ufern als Spuren einstiger höherer Wasserstände begleitet. In Planung
ist eine Hängebrücke im Nordabschnitt zwischen den Städten Lapseki und
Gelibolu, die mit 3623 Meter Länge die längste Brücke der Türkei werden
soll. Sie soll bis 2023 fertiggestellt sein, wenn die Türkei das 100-Jahr
Jubiläum der Ausrufung der Republik begeht.
Im Verlauf der griechischen Kolonisationsbewegung
wurde vom 8. bis 7. vorchristlichen Jahrhundert die Region um die
Dardanellen dicht besiedelt. Kolonien wie Lampsalus (heute Lampseki),
Abydos, Sigeion und vor allem Kalliopolis (heute Gelibolu) sollten die
Handelsstraße zum Schwarzen Meer sichern. 480 v. Chr. setzte der Perserkönig
Kshaiardshah (Xerxes I.) bei seinem Feldzug gegen Griechenland sein Heer auf
einer, nach anderen Quellen zwei Schiffsbrücken über die Dardanellen. Im
Peloponnesischen Krieg gab es mehrere bedeutende am Hellespont, so die
Schlacht bei der Halbinsel Kyzikos 410 v. Chr. und die Schlacht von
Aigospotamoi 405 v. Chr. die die entscheidende Niederlage für die Athener
brachte. Alexander der Große überschritt zu Beginn seines Feldzuges gegen
die Perser 334 v. Chr. den Hellespont mit einer Armee von etwa 35.000
Makedoniern und Griechen.
Araber scheiterten vor Konstantinopel
668, 672 und 717 drangen arabische Flotten durch
die Dardanellen in das Marmarameer vor und nahmen die Halbinsel Kyzikos ein,
die Operationsbasis für die Einnahme von Konstantinopel, der damals
stärksten Festung der Welt, werden sollte. Doch jedes Jahr von 674 bis 678,
sowie 717/718 scheiterten die arabischen Eroberungsversuche in Seeschlachten
vor der Stadt. Dabei setzten die Byzantiner das von dem aus Syrien
stammenden Griechen Kallinikos erfundene „Griechische Feuer” gegen die
arabischen Schiffe ein, eine mit Siphonen gegen die feindlichen Schiffe
geschleuderten leicht entzündlichen flüssigen Brennstoff, dessen
Zusammensetzung nur den Byzantinern bekannt war. Die von ihm ausgelösten
Brände konnten mit Wasser nicht gelöscht werden. Die erfolgreiche Abwehr der
Araber durch die Byzantiner hat noch vor den Siegen Karl Maartells 732 bei
Tours und Poitiers das Abendland vor einer Überrennung durch die Araber
bewahrt.
Die Kreuzfahrer des unter venezianischer Patronanz
stehenden Vierten Kreuzzuges erzwangen 1203 die Durchfahrt und eroberten
1204 Konstantinopel, wo ein bis 1261 existierendes lateinisches Kaiserreich
etabliert wurde. Um 1354 überquerten die Osmanen die Dardanellen und
schnitten dadurch Konstantinopel vom Mittelmeer ab. Nach der Eroberung von
Konstantinopel 1453 erbaute Sultan Mehmet II. Fatih 1462 die Schlösser Seded
ul-Bahir („Meerdamm”) am Südeingang des europäischen Ufers und Canakkale
(„Topfburg”) an der Engstelle der Wasserstraße am asiatischen Ufer. 1656
waren die Dardanellen Schauplatz einer Seeschlacht zwischen Kriegsschiffen
der Venezianer und Türken, bei der es um die Vorherrschaft im Mittelmeer
ging. Daraufhin verstärkte der damalige fähige Großwesir Mehmet Köprülü 1659
die Befestigungen der Dardanellen durch die Anlage von Kumrale am Südausgang
am asiatischen Ufer und Kilitbahir gegenüber von Canakkale, Festungen, die
später mit starken Geschützen bewehrt wurden.
Im Russisch-Türkischen Krieg 1768-1774 unter der
Herrschaft von Zarin Katharina II. der Großen gelangte eine russische Flotte
um Europa herum in das Mittelmeer und die Ägäis und brachte der Osmanischen
Flotte bei Cesme (westlich von Izmir) 1770 eine Niederlage bei. Die Russen
scheiterten jedoch bei ihrem Versuch, die Dardanellen in Richtung
Konstantinopel zu passieren. 1774 wurde der Friede von Kücük Kainardji
geschlossen.
Offene Meerengenfrage bis 1936
Die offene Meerengenfrage beherrschte bis1936 die
russisch-türkischen Beziehungen und die internationale Politik. Es ging um
die Durchfahrt besonders von Kriegsschiffen durch beide Meerengen angesichts
der Jahrhunderte langen Bemühungen Russlands, auf von ihm kontrollierten
Wegen zu einem „warmen” Meer zu gelangen, d.h. eisfreie Häfen zu gewinnen.
Das Ergebnis waren Interessenskonflikte zwischen
dem osmanischen Reich (später der Türkei), Russland (später der
Sowjetunion), Großbritannien und Frankreich. Nach 1774 durften russische
Schiffe, aber keine Kriegsschiffe die Meerengen passieren, später (ab 1783)
auch österreichische und ab 1802 auch britische und französische Schiffe.
Russischen Schiffen war auch der Transport bestimmter Güter untersagt,
osmanischerseits wollte man den Weitertransport von Getreide verhindern,
weil selbst ein großer Bedarf dafür bestand.
Das Passageverbot russischer Kriegsschiffe wurde
erstmals gelockert, als Russland dem Osmanischen Reich militärische Hilfe
anlässlich von Napoleons Ägypten-Feldzug 1798-1801 anbot. Russische
Kriegsschiffe konnten für die Dauer des Krieges die Meerengen passieren.
Als 1806 ein weiterer russisch-türkischer Krieg
ausbrach (bis 1812) schloss die „Hohe Pforte” mit Großbritannien den
Beistandspakt von Kalai Sultanye für den Fall eines französischen Angriffes
(damals herrschte zwischen Frankreich und Russland gutes Einvernehmen – bis
1812). Britischen Kriegsschiffen (nur ihnen allein) wurde gestattet,
bis zum südlichen Eingang des Bosporus zu fahren, was eine britische Flotte
schon 1807 getan hatte. Im Vertrag von Hunkiar Iskelessi 1833 wurde
russischen Schiffen ein Durchfahrtsrecht gewährt, die Hohe Pforte
verpflichtete sich aber, im Kriegsfall die Meerengen für Schiffe aller
Länder zu sperren.
Scharfe Proteste aus London und Paris waren die
Folge. Es kam zur Londoner Konvention von 1840, ergänzt durch den
Dardanellenvertrag von 1841 zwischen den fünf Großmächten Großbritannien,
Frankreich, Russland, Österreich und Preußen, wonach der Bosporus in
Friedenszeiten für alle Kriegsschiffe geschlossen bleiben solle, nur
kleinere Kriegsschiffe der mit dem Osmanischen Reich verbündeten Staaten
durfte nach Genehmigung die Durchfahrt gestattet werden. Nichttürkische
Kriegsschiffe durften die Dardanellen nicht passieren, Handelsschiffen wurde
die Passage beider Meerengen bei Nacht untersagt.
Meerengenfrage Angelegenheit der Großmächte
geworden
Während des Krimkrieges 1853-56, bei dem die
Großmächte Großbritannien und Frankreich auf die Seite der Hohen Pforte
traten, schickten beide ihre Kriegsflotten in das Schwarze Meer.
Der Pariser Friede von 1856, durch den die
Meerengen den Status als internationale Wasserstraßen bekamen, enthielt die
Pontusklausel: das Schwarze Meer wurde neutralisiert, Russland und das
osmanische Reich durften in diesem Meer keine Kriegsflotten
unterhalten, mit der Hohen Pforte verbündeten Staaten wurde die Durchfahrt
von Kriegsschiffen durch den Bosporus in Friedenszeiten gewährt. Nachdem
Russland den Friedensvertrag gekündigt hatte, wurde im Pontus-Vertrag von
1871 die Pontusklausel von 1856 aufgehoben: Russland durfte wieder eine
Kriegsflotte im Schwarzen Meer unterhalten, Kriegsschiffe von mit der Hohen
Pforte verbündeten Staaten durften die Meerengen in Friedenszeiten
passieren.
Nach dem Russisch-Türkischen Krieg von 1877/78
bestätigten die Schlussakte des Berliner Kongresses (13. Juni bis 13. Juli
1878) die im Vorfrieden von San Stefano (der heutige Istanbuler Stadtteil
Yesilköy) vom 3. März 1878 festgelegten freien Durchfahrtsrechte für
Handelsschiffe durch die Meerengen, ansonsten hielten die Bestimmungen von
1871 und 1878 bis zum Ersten Weltkrieg. 1891 musste sich Russland
verpflichten, die Anwesenheit russischer Soldaten auf Handelsschiffen zu
melden.
Gallipoli-Debakel der Alliierten 1915
1864-77 war eine Neubefestigung der Dardanellen
erfolgt, teilweise auf Empfehlung des belgischen Generals Brialmont, die
aber zu Beginn des Ersten Weltkrieges in mancher Hinsicht veraltet waren. Zu
Kriegsbeginn errichtete das türkische Militär, nachdem sich die Hohe Pforte
auf die Seite der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn geschlagen
hatte, mehrere Minensperren in den Dardanellen, die Ententemächte erklärten
die Meerenge zum Sperrgebiet und drohten mit der Versenkung türkischer
Handelsschiffe auf dem Weg ins Mittelmeer. Der türkische Kriegseintritt im
Herbst 1914 nach der Beschießung russischer Schwarzmeerhäfen durch die
formell in türkischen Besitz übergegangenen deutschen Kriegsschiffe GÖBEN
und BRESLAU führte dazu, dass Großbritannien Russland auf dem Seeweg in das
Schwarze Meer wegen der Sperre der Dardanellen keine militärische
Unterstützung bieten konnte.
1915 wollte die Entente dies erzwingen, auch um die
Türken aus dem Krieg „heraus zu reißen”. Der von Marineminister Winston
Churchill und Kriegsminister Lord Kitchener forcierte Plan sah eine
kombinierte Marine- und Landoperation im Bereich der Dardanellen vor, um
dann von Süden her auf Konstantinopel vorzustoßen. Da den Türken im Januar
und Februar 1915 nicht gelungen war, die Kontrolle über den Suezkanal zu
erringen, konnte die Verlegung australischer und neuseeländischer
Empire-Truppen über diese Wasserstraße erfolgen. Es gelang den Türken, die
britisch-französischen Angriffe mit deutscher Hilfe unter dem Oberkommando
des preußischen Generals Otto Liman von Sanders (1855-1929) nach
anfänglichen Verlusten in der Zeit von 9. bis 25. Februar 1915 erfolgreich
abzuschlagen.
Eine große Zahl alliierter Kriegsschiffe ging durch
Minen verloren, was Churchill seinen Ministerposten kostete. Auch
Landangriffe auf die Halbinsel Gallipoli (seit 25. April 1915) scheiterten
und endeten im Dezember 1915 mit einem alliierten Rückzug. Die
Gallipoli-Aktion hatte auf Seiten der Alliierten rund 40.000, auf Seiten der
Türken über 200.000 Opfer gefordert, doch die Dardanellen blieben in
türkischer Hand. Bei der türkischen Abwehr zeichnete sich der hohe Offizier
Mustafa Kemal Pascha aus, der später unter dem Namen Kemal Atatürk erster
Präsident der Türkischen Republik wurde.
In dem (nicht in Kraft getretenen) Frieden von
Sevres vom 20. August 1920 wurden die Meerengen internationalisiert. In dem
für die Türkei folgenden Friedensvertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923
wurden die Meerengen entmilitarisiert, eine Internationale
Meerengen-Kommission eingesetzt und die freie Durchfahrt von Schiffen, auch
von Kriegsschiffen als Grundsatz festgelegt. Diese Regelung wurde von der
Türkei am 11. April 1936 gekündigt und durch das
Meerengenabkommen von Montreux vom 20. Juli
1936
ersetzt. Das mit einigen späteren Ergänzungen heute
noch gilt. Abkommenspartner sind Großbritannien, Frankreich, Japan, die
Sowjetunion, die Türkei, Bulgarien, Rumänien, Griechenland und Jugoslawien.
Italien trat dem Abkommen 1938 bei. Es revidierte die Bestimmungen von
Lausanne, hob die Internationale Meerengen-Kommission auf und übertrug ihre
Befugnisse an die Türkei, räumte dieser die Wehrhoheit ein und gab ihr das
Recht, im Kriegsfall die Durchfahrt feindlicher Handelsschiffe zu
untersagen. Die Passage von Kriegsschiffen muss den türkischen Behörden im
Voraus bekannt gegeben werden. Die Nichtuferstaaten des Schwarzen Meeres
dürfen Kriegsschiffe nur bis 15.000 t durch die Meerengen entsenden, die
Ausfahrt jener von den Meeranrainern bleibt unbegrenzt. Ist die Türkei
kriegsführende Macht, kann sie nach ihrem Ermessen die Meerengen sperren,
ebenso, wenn sie sich von einer Kriegsgefahr bedroht fühlt.
Bestrebungen der USA vom November 1945 und der
Sowjetunion auf Änderung des Abkommens – u.a. völlige Sperre für
Kriegsschiffe der Nichtuferstaaten – scheiterten im August 1945. Stalin
bezeichnete während des Kalten Krieges die türkische Kontrolle über beide
Meerengen als „Schritt, um die Sowjetunion abzuwürgen”.
Kommt es zum Bau eines „Parallel-Bosporus”?
Passierten 1936, dem Jahr des Abkommens von
Montreux, jährlich etwa 4.500 Schiffe die Meerengen, ist die Zahl auf
jährlich etwa 50.000 gestiegen, darunter durchschnittlich etwa 5.500
Öltanker. Der Öltransport durch die Meerengen gewinnt immer mehr an
Bedeutung, denn die Anrainerstaaten des östlichen Schwarzen Meeres und deren
durch Pipelines angebundenes Hinterland gelten als die Ölproduzenten des 21.
Jahrhunderts. Allerdings handelt es sich auch um politische Unruhegebiete.
Nach einer Greenpeace-Aktion, die auf das Unfallrisiko für den
Schiffsverkehr aufmerksam machte, wurden 2002 die Auflagen für passierende
Öltanker verschärft.
Im gleichen Jahr gab der damalige türkische
Ministerpräsident (und heutige Staatspräsident) Recep Tayip Erdogan Pläne
seiner Regierung bekannt, den Bosporus durch einen parallel dazu bauenden
Istanbul-Kanal zu entlasten. Er soll etwa 50 Kilometer lang und 150 Meter
breit sein und im Bereich der westlich von Istanbul gelegenen Stadt Silivri
in das Marmarameer münden.
Da der Kanal durch hügelige und unerschlossene
Landgebiete gehen soll, wären riesige Erdaushubarbeiten nötig. Im Gegensatz
zum Suezkanal und zum Panamakanal können für den Istanbul-Kanal keine
bestehenden Seen für den Verlauf der projektierten Wasserstraße ausgenützt
werden. Ein anderes, bisher nur diskutiertes Projekt zur Entlastung der
Öltransporte durch den Bosporus sieht den Bau einer Ölleitung zwischen dem
Schwarzen und dem Marmarameer parallel zum Bosporus vor.
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