Trübe, tiefhängende November-Wolken kriechen von
See her über Nordholz bei Cuxhaven. Nicht gerade ideales Flugwetter, doch
die zwölfköpfige Crew der 60+04 ficht das nicht sonderlich an. Sie ist fit
und munter zu dieser frühen Morgenstunde. Hochkonzentriert laufen die ersten
Vorbereitungen bereits Stunden vor dem Start mit ihrem bewährten grauen
Vogel.
Noch ist es allerdings nicht soweit. Vor dem
praktischen Abheben kommt das theoretische Briefing – pünktlich um 6.30 Uhr
im hermetisch nach außen abgeriegelten Gefechtsstand im
Marinefliegerstützpunkt – Zugang natürlich nur mit Sonderausweis.
Ein Soldat der Nachtschicht öffnet und führt durch
ein Ganglabyrinth in einen schmucklosen Besprechungsraum. Einzige Zierde:
das Wappen des Marinefliegergeschwaders 3 „Graf Zeppelin” mit den MFG
3-Tugenden: Treue-Mut-Bereitschaft-Zuverlässigkeit-Ausdauer, die seit genau
50 Jahren die Soldatinnen und Soldaten bei ihrer Auftragserfüllung
begleiten.
Aufklärungsmission mit Verbandsübung und
Targets
„Torsten W.”, stellt sich der Kommandant –
abgekürzt „PPC, Patrol Plane Commander” – militärisch knapp vor und lächelt.
Erst vor wenigen Tagen kehrte er aus dem Atalanta Einsatz am Horn von Afrika
zurück. Auf dem Bildschirm an der Wand leuchtet der Auftrag für die
Besatzung ins Raumdunkel, welche für einen Laien unverständlich erscheint:
NetOp Fue Exer 02-14, Multi-Link-Verbandsübung, MFG 3 Graf Zeppelin, Jester,
Area: NorthSea, T/O 09.30, ON 10.00, OFF 14.00, LAND 15.00.
Kapitänleutnant Torsten W. erläutert die Mission,
ein Auftrag des Marinekommandos: Überwachung und Aufklärung in der Deutschen
Bucht in einem Gebiet zwischen Nordholz, Ostfriesland, Nordholland,
Ostengland, Südnorwegen, Westdänemark und der Heimatbasis.
Darüber hinaus ist eine Verbandsübung mit F 123,
der Fregatte BRANDENBURG, geplant, ein Verfahren zur Zusammenarbeit zwischen
See- und Seeluftstreitkräften. Start soll um 9.30 sein, Übungsbeginn um
10.00, Ende 14.00 und Landung um 15.00 Uhr. „Jester” ist das Callsign für
die Lockheed P-3C Orion mit der taktischen Kennung 60+04, eine von acht
Maschinen, die auf dem Fliegerhorst Nordholz stationiert sind. Darüber
hinaus gebe es Targets, vier Ziele auf Helgoland die zu Übungszwecken
aufzuklären seien. Eine Aufgabe für das „magische Auge” der P-3C.
Hochauflösende HD Kameras befinden sich im Bug des Luftfahrzeuges, deren
Videos und Bilder bei Bedarf an entsprechende Bodenstellen übermittelt
werden können.
Nach dreißig Minuten „Briefing” fragt der PPC in
die olivgrüne Overall-Runde: „Fragen, Punkte?” Und schließlich: „Können wir
los?”
Bringt die Dame „Jester” Glück?
Im Crewbus geht es über das weitläufige Gelände.
Hinter einem haushohen Erdwall versteckt parkt die 35 Meter lange 60+04 mit
ihren vier Rolls-Royce-Turbinen von zusammen 20.000 PS. Diese Kraft wird auf
gewaltige Propeller von 411 Zentimetern Durchmesser übertragen. Ein junger
Obermaat, der als Passagier dabei sein und seinen Jungfernflug absolvieren
darf, hält sich schon jetzt die Ohren zu. Doch die Turbinen schweigen noch.
Unvermeidliche Lärmquelle ist ein fahrbarer Generator neben der Maschine,
der für Strom sorgt, um die Systeme hochzufahren und zu testen. Die Maschine
ist erst kürzlich aus dem Einsatz zurückgekehrt und trägt noch ein Bild von
einem Maskottchen aus dieser Zeit auf der Zelle. „Mal sehen”, lächelt
Co-Pilot, Kapitänleutnant Christoph P., „ob es uns auch heute Glück bringt”.
Erst mal mutiert sie zum Quasi-Frachter, denn was
die zehn Männer und eine Frau an Materialbergen die steile Einstiegsleiter
hinauf an Bord schleppen, ist logistisch beachtlich. Die Liste reicht vom
simplen Brötchen bis zu komplizierter und eingestufter Technik.
A propos: Vor der Arbeit sollte man sich stärken.
Ein Hauptbootsmann sorgt in der kleinen Kombüsen-Ecke für belegte Brötchen
und reicht sie, ganz gekonnt, durch die Röhre, später auch das Mittagessen.
Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee verscheucht auch die letzte
Morgenmüdigkeit. „Alle an Bord?”, fragt Kaleu W. gut gelaunt über die
Bordsprechanlage seine Crew. Man kennt sich, manche schon jahrelang, viele
Einsätze – Schulter an Schulter.
Der Crewchief kümmert sich um seine Passagiere,
denn auch hier gilt wie auf See der Grundsatz: Safety first! Alarmsignale,
Rettungsweste anlegen: „Für den Fall, dass wir ditchen oder wassern müssen”,
meint der Mann, und packt auch gleich den dazugehörigen Überlebensanzug aus.
„Kann auch sein, dass wir schon in der Luft aussteigen müssen”, erklärt er
schließlich noch den Gebrauch des Fallschirms. Für die Passagiere eine
Premiere.
Bunt gemischte Spezialisten-Truppe
Inzwischen hat sich die Crew eingerichtet. Das sind
neben Kommandant und Co-Pilot: Bordmechaniker (Flight Engineer „FE”),
Bordelektroniker (In-Flight Technician „IFT”), Tactical Coordinator
(„TACCO”), Navigator/Übermittlungsspezialist („NAV/COMM”), drei Überwasser-
und zwei Unterwasser-Operateure. Mit von der Partie auch ein Obermaat aus
der 1. Staffel auf Jungfernflug: „Ich bin noch nie in meinem Leben in die
Luft gegangen”, gesteht er freimütig.
Eine bunt gemischte Gesellschaft aus hoch
ausgebildeten Spezialisten. Viele von ihnen zur See gefahren, aber im Herzen
eben doch Marineflieger.
Der „FE”, macht inzwischen den Ground Check,
kriecht in die Fahrwerksschächte, beleuchtet mit seiner Taschenlampe alle
beweglichen Teile und signalisiert seinem „PPC” schließlich das Okay. Der
gibt noch mal „Feuer frei!” für die letzte Zigarette und
„Klein-Toilette” vor dem Start außerhalb der Maschine, deren vornehmes
Hellgrau jetzt eine käsige Sonne schwach aufglänzen lässt. Im Innern hat man
keinen Blick dafür.
Überraschung in der Morgenstunde: Torsten W. hat
gerade von seinem „NAV/COMM” erfahren, dass ein Teil der Navigations-Anlage
nicht einwandfrei funktioniere. Der „IFT” kann den Fehler nicht finden und
funkt zwei Elektroniker heran, aber denen ergeht es nicht anders: Sie können
den „Wurm” einfach nicht aufspüren. Eine völlig neue Lage-Situation: wird
geflogen oder nicht? Aufgrund von vielen redundant ausgelegten Systemen
besteht die Möglichkeit, trotzdem die Mission durchzuführen.
Macht das Beste draus!
Der „PPC” kontaktiert den Kommandeur Fliegende
Gruppe. Die Gretchenfrage wird gelöst: Entscheider ist allein der
Kommandant! Kapitänleutnant W. trifft nach Abwägung aller Faktoren eine
Entscheidung: „Wir starten, allerdings mit Programmverkürzung”. Kurze
Lagebesprechung, wobei der Co-Pilot eine Flugkarte am Boden ausbreitet.
Wetterlage: zehn Kilometer Sicht, Regenschauer, „aber von denen halten wir
uns frei”, erklärt der Kommandant, „kein Faktor!” Neue Route:
Nordholz, Wilhelmshaven, Helgoland, Nordholz. Allgemeines Aufatmen. „Macht
das
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Beste draus!”, muntert W. seine Crew auf, „Roger
und guten Flug!” Im Cockpit arbeitet das dreiköpfige Team diverse
Checklisten ab, mit denen die letzten Überprüfungen aller Geräte sowie deren
einwandfreien Funktionen abgearbeitet werden. Der Wartungssoldat, auch
„Line-Man” genannt reckt vor der Maschine seine Daumen hoch, Christoph P.
antwortet mit einem: auch an Bord alles klar! Mit einem pfeifenden Geräusch
fangen die ersten beiden Turbinen an zu rotieren, und der Line-Man
verabschiedet die Besatzung mit militärischem Gruß zum Abschied, eine alte
Tradition, die auch seit 50 Jahren gepflegt wird.
60+04 Callsign „Jester” rollt der Startbahn entgegen.
Der „Co-Pilot” grüßt auf dem Weg zur Startbahn die Flughafen-Feuerwehr- und
Tower-Besatzungen per Hand. Für die einen Routine, für die Passagiere
irgendwie berührend. Um kurz nach elf Uhr: Die Turbinen entfalten ihre volle
Leistung und endlich braust der fast 60 Tonnen schwere Vogel über die
Betonpiste nach Westen, hebt die schlanke Nase und durchbricht mit zehn
Metern Steiggeschwindigkeit pro Sekunde die tiefhängenden grauen
Wolkenfetzen.
BRANDENBURG-Fly By mit Lerneffekt
Bis die grau-braune Weser unter der Maschine
hindurch strömt und voraus Wilhelmshaven auftaucht. Wie Riesenboviste die
Öltanks, total schiffsfrei das neue Container-Terminal. 60+04 stellt eine
Datenverbindung über Link-11 mit dem Kommando Marineführungssysteme in
Wilhelmshaven und der Fregatte BRANDENBURG irgendwo in der grauen Nordsee
her und kreist über der Marine-Stadt, bis vom Controller der Auftrag kommt,
einen bestimmten Radarkontakt aufzuklären. Der entpuppt sich als eine
„Seeschlange”, ein kleines Küstenmotorschiff mit Nordkurs. Auf dem Display
der Videokamera kann man alles an Bord detailgenau erkennen. Diese
Fähigkeit, meint der „TACCO”, ist besonders wichtig im Anti-Pirateneinsatz
am Horn von Afrika. Aber das Kümo ist harmlos und wird aus der Beobachtung
„entlassen”.
Nächste Targets sind die Helgoland-Fähren, die
weißschäumend ihren Kurs durch die Nordsee ziehen. Bis voraus der rote
Buntsandsteinfelsen samt weißer Düne auftaucht. „Jester” kreist und kreist,
macht ihre Videoaufnahmen und Fotos und steuert das eigentliche Tagesziel
an: die Fregatte BRANDENBURG. Mal sehen, was so aus der „Verbandsübung”
wird, treibt alle die Frage um. „Rettungswesten anlegen!” kommt die Order.
Minuten später leitet der Kommandant einen Sinkflug auf die Mindestflughöhe
ein. „Da, da vorne ist sie!”, zeigt der Bordmechaniker nach vorn.
Mit rund 400 km/h passiert 60+04 die BRANDENBURG an
Steuerbordseite, – im Fachjargon ein „fly by” –, auf dem sich nichts zu
rühren scheint. „Die wollen gerade ihren Sea Lynx-Bordhubschrauber starten”,
ist vom Kamerabediener zu hören. Wenig später ein Funkkauderwelsch, dessen
Entschlüsselung den NAV/COMM fordert. Entschuldigung von den schwimmenden
Kameraden: „An den Geräten sitzen Controller-Schüler”. Ein alltägliches Bild
normalerweise auch an Bord des Seefernaufklärers, denn bei nahezu jedem
Übungsflug findet Ausbildung von zukünftigen Besatzungsmitgliedern statt.
Für das eingespielte Team Jester stellt diese Übung keine große
Herausforderung dar, werden diese Verfahren regelmäßig im Simulator
trainiert.
Mission completed, aber mit Kritik
Der TACCO legt den Fokus nun auf den zweiten Teil
der Mission, der Surveillance – Überwachung in der Nordsee. Ein
amerikanischer Frachter wird ins Visier genommen und von allen Seiten immer
wieder angeflogen. Am Ende des Photo-Patterns zieht Kaleu W. seine Maschine
schräg nach Steuerbord hoch.
14 Uhr: Die Surveillance ist abgeschlossen. Kaleu
W. bringt „Jester” auf Südkurs, umrundet die Insel Wangerooge bei bestem
Licht unter aufquellenden Wolkentürmen. Niedrigwasser hat fantastische
Muster ins sonnenglänzende Watt gezeichnet. Am Saum von traumstrandweißen
Sandaufspülungen tummeln sich Seehunde. Doch 60+04 ist Sekundenbruchteile
später mit über 500 Kilometern pro Stunde schon aus ihren dunklen Augen Kurs
Heimatbasis.
Cuxhavens Hotel-Skyline kommt an Steuerbord in
Sicht. Wie ein schwarzer Finger reckt sich die „Kugelbake” der Viermotorigen
entgegen. Bei gleißendem Gegenlicht schwenkt „Jester” über der
Küstenautobahn ein und fliegt über rotierenden Windkraft-Propellern die
Landebahn an. Nach dreieinhalb Stunden heißt es „mission completed”. Mehr
nicht, erst mal.
Anschließend dann das Abschluss-Briefing vor dem
Gefechtsstand: Es fallen sehr offene und auch kritische Worte. Die
Koordination, auch wenn das Übungs-Szenario aus technischen Gründen
kurzfristig geändert werden musste, sei, so die einhellige Meinung,
verbesserungswürdig. „Aber daraus können alle Beteiligten nur lernen”, so
Kommandant Torsten W. mildernd. Für ihn und seine Crew sei „dieser Flug
dennoch als voller Erfolg zu werten, gleichwohl im Gegensatz zu
stundenlangen Langstreckenflügen” jedes Besatzungsmitglied und sein Können
gefordert wurde.
Am Ende eines abwechslungsreichen Tages freuen sich
alle deshalb schon auf das „Einlaufbier”, das der „Jungfernflieger”
spendiert hat, im Freien hinter dem Gebäude der 1. Staffel. Spätestens mit
diesem traditionellen Ritual sind sie ihren seefahrenden Kameraden der
Deutschen Marine wieder ganz nahe.
Infos
Die Lockheed P-3 Orion wird weltweit als
Seefernaufklärer und U-Boot-Jagdflugzeug eingesetzt. Insgesamt wurden mehr
als 650 Maschinen gebaut. Die Deutsche Marine erhielt am 18. Mai 2006
offiziell die erste P-3C von der Niederländischen Marine, insgesamt acht
Luftfahrzeuge zur Seeraumüberwachung, Aufklärung und U-Bootjagd.
In den USA, dem größten Betreiber des Luftfahrzeuges,
wird der Typ in den kommenden Jahren durch die P-8A Poseidon, eine
Militärversion der Boing B-737-800, abgelöst werden. Die 30 Jahre alten
deutschen P-3C Orion werden kontinuierlich auf dem neusten Stand gehalten,
in ihrem Fähigkeitsportefeuille erweitert werden und noch bis
voraussichtlich 2035 im Dienst verbleiben.
Technische Daten
Crew: 11; Länge: 35,61 m; Spannweite: 30,37 m; Höhe:
10,27 m; Leergewicht: 27.892 kg; Startgewicht (maximal): 64.410 kg;
Tankkapazität: 34.800 Liter; Antrieb: 4
Rolls-Royce-Allison-Propellerturbinen T56-A-14 mit je 4.910 PS;
Propeller-Durchmesser: 410 mm; Höchstgeschwindigkeit: 410 kn,
Marschgeschwindigkeit: 250 kn, Steiggeschwindigkeit: 10 m/s;
Dienstgipfelhöhe: 30.000 Fuß; Einsatzdauer: mehr als 10 Stunden;
Überführungsreichweite: 4500nm; Waffen: Mk46 Torpedos; Sensoren: Sonarbojen
(passiv/aktiv), Seeraumüberwachungsradar, ESM Anlage, magnetische
Anomaliedetektor, MX20 HD Kamerasystem.
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