Da stehe ich im Talar in meiner „Kirche” – nur hat
meine Kirche keine Säulen und Emporen, keine dicken, alten Wände, nicht
einmal einen festen Grund. Sie ist ein eleganter, von Glasfenstern umgebener
Saal auf dem achten Deck eines Kreuzfahrtschiffes; unter meiner „Kirche”,
vor ihr, hinter ihr ist Meer, nichts als Meer. Was noch fehlt, ist die
Gemeinde. Sechs Besucher sind am ersten Seetag zum Gottesdienst gekommen.
Mir ist klar, dass ich hier so ziemlich bei null anfange. Also los: Ich muss
mich bekannt machen, interessante Themen anbieten, einladen und – die Gäste
gewinnen.
Seit 1873 schon bieten Bordgeistliche ihre Dienste
auf Schiffen an. Zuerst begleiteten sie die Auswandererschiffe nach Amerika,
später schickten die beiden großen Kirchen uns auf Kreuzfahrtschiffe.
Mitreisen tun wir unter anderem auf der EUROPA, der DEUTSCHLAND, der AMADEA,
der ALBATROS und der ARTANIA. Die drei letztgenannten Schiffe gehören
Phoenix Reisen. Geschäftsführer Johannes Zurnieden sagte mir einmal: „Lieber
lasse ich eine Tänzerin zu Hause als den Bordgeistlichen.” Auf das gute
Klima an Bord kommt es an, dabei helfen wir mit.
Mein Schiff ist inzwischen von der Elbe in die
Nordsee gefahren, mit Zielgebiet Ostsee. Am ersten Abend versammeln sich die
Passagiere in der Showlounge. Der Kapitän stellt die Crew vor und begrüßt
den Bordgeistlichen aus Bremen. Die Scheinwerfer werden auf mich gerichtet –
jetzt kennt mich jeder an Bord, jetzt beginnt mein Dienst. Bei der
anschließenden Einweisung der Künstler durch den Entertainment-Manager bin
ich dabei. Ich gehöre zu ihnen und zu den Gästebetreuern, erfreue mich am
Passagierstatus mit allen Annehmlichkeiten und einer schönen, großen Suite
mit Meerblick.
Die Fahrt geht durch das Skagerrak in den
Oslofjord. Bei der Tee- und Kaffeestunde lerne ich einen Stammgast aus der
seefernen Schweiz kennen. „Was für eine wunderbare Fjordlandschaft”,
schwärmt er und bewundert, wie die Norweger sich in die Natur einfügen; wie
gepflegt ihre kleinen, bunten Holzhäuschen am Ufer aussehen. „Und jeder hat
ein Boot”, füge ich hinzu, „es muss herrlich sein, so in der Natur zu
leben.” Und dann spricht der Schweizer von Dankbarkeit: wie dankbar er sei,
diese Bilder von Meer und Land vor Augen zu haben. Wir freuen uns gemeinsam
– bei sanfter Klaviermusik.
In Oslo begleite ich eine Gruppe auf den dicht
bewachsenen Stadtberg zur gewaltigen Holmenkollen-Skisprungschanze. Der
Blick von dort hinunter zur Stadt und übers Meer ist weit und bestätigt, wie
Oslo sich versteht: The blue and the green, and the city is between. Die
Stabkirche neben der Schanze dient den Athleten als Ort der Stille, der
Entspannung. Die Kirche ist ganz aus Holz gefertigt, hohe Pfähle führen im
Inneren in die Höhe – wie Masten auf einem Schiff. Gebaut wurde sie von
Bootsbauern – wie ein Schiff.
Zurück in der Stadt besuchen wir das Nobel Peace
Center. Dort wird der Friedensnobelpreis verliehen. Die skandinavischen
Länder haben sich den Ruf der Friedfertigkeit erworben und sie bilden die
besten Mediatoren der Welt aus, die bei UN-Missionen weltweit in politischen
Konflikten vermitteln. In Kürze erfahren die Kreuzfahrt-Reisenden, worauf
die Norweger stolz sind. Und können selbst ein bisschen stolz sein. Der
Centermitarbeiter erinnert an 1971: Willy Brandt bekam den Preis für seine
Politik der Aussöhnung mit ehemaligen Feinden.
Im nächsten Gottesdienst greife ich das Thema auf.
„Liebet eure Feinde”, appelliert Jesus. Nehmt ihre Angst wahr. Erkennt, ob
ihre Interessen berechtigt sind. Nimm dem Feind die Angst vor dir. Finde
einen Ausgleich mit ihm. Nach dem Gottesdienst lädt mich ein Gast zum Wein
mit Nachgespräch ein. „Ja, alles richtig, aber auch naiv. Das geht nur, wenn
beide Seiten wollen. Wenn nicht, hilft Liebe nicht weiter”, kommentiert er
die Predigt.
Weiter geht es entlang der kilometerlangen
Hafen-Kais nach Göteborg in Schweden. Der Kapitän weist über Lautsprecher
auf die EMMA MAERSK hin: mit 400 Metern eines der größten Containerschiffe
mit Platz für 11.000 Standardcontainer; weiter durch das Kattegat und nachts
durch den Öresund. Ich treffe Ben, den schwarzen Sänger. Wir sind allein an
Deck und genießen die Ruhe, wir stützen uns entspannt mit den Armen auf die
Reling und schauen abwechselnd in den Sternenhimmel und aufs Wasser. „Wenn
ich länger über das Meer gucke, fühle ich mich schwerelos”, teilt er sich
mit. – „Ja, die Gedanken werden leicht wie Luftballons.” Ganz gebannt sehen
wir auf die Lichter in der Nacht, rechts Kopenhagen, links Malmö und
dazwischen erstreckt sich die gewaltige Öresundbrücke über das Meer. Früher
waren Dänemark und Schweden Erzfeinde, beide kämpften um die Vorherrschaft
an der Ostsee. Der dänische König Christian 2. schlachtete den schwedischen
Adel in Stockholm ab. Der schwedische König Karl 10. führte sich wie
kriegsbesessen auf. Das war einmal. Nach der Angliederung der Krim an
Russland 2014 intensivierten beide zusammen mit Finnland und Norwegen ihre
militärische Kooperation. Sicherheit durch Gemeinschaft.
Ich frage Ben, ob er beim nächsten Gottesdienst
mitmacht. „Lass uns einen Gospelgottesdienst machen!” ‒ „Was? Ob das hierher
passt?” – „Na klar! Mache ich zu Hause auch.” Und wir beschließen, dafür
einen Kinderchor zu gründen. Am nächsten Tag soll die erste Chorprobe sein.
Wir bitten noch den Wiener Barpianisten
dazu. Mal sehen, wie’s wird!
Das ist die Chance an Bord: Künstler zu gewinnen.
In der Kirchengemeinde ist das schwierig und teuer, hier kein Problem.
Und schon wieder ein neues Ziel: Stockholm. Der
Kreuzfahrer gleicht einem Vagabunden. „Heute hier, morgen dort, bin kaum
hier, muss ich fort …” (Hannes Wader) ‒ es gibt so viel zu sehen, die Welt
ist großartig. Überall nimmt er kurze Reize auf – und verspricht sich
selbst: Irgendwann komme ich für länger wieder!
Ein Schwede führt uns zum Königlichen Palast von
Carl Gustav 16. Er erzählt uns, dass die Thronfolgerin, Tochter Victoria,
beliebter ist als der Vater. Gegen allen Widerstand setzte sie sich durch
und heiratete einen Bürgerlichen. Das machte Eindruck.
|
|
Sie hat eine militärische Grundausbildung
absolviert und internationale
Friedenspolitik studiert. Ich erinnere mich an meine Diskussion nach dem
Gottesdienst. Beides ist wichtig: Feindesliebe und Wehrbereitschaft.
Der Wachwechsel der Leibgardisten ist stimmungsvoll
– mit Blasmusik und einer echten Choreographie der Marschierenden. Krieg
habe das Land seit 200 Jahren nicht mehr erlebt, erfahren wir, deshalb sind
die alten Gebäude in Gamla Stan, der Altstadt, alle noch erhalten. Auch die
Tyska Kirka, die deutsche Kirche. Wir singen dort spontan die erste Strophe
von „Lobe den Herrn” – hervorragende Akustik.
Ganz gelassen geht es in Gudhjem auf Bornholm zu;
was für eine wunderbar verschlafene Insel. Dort wird die „Entdeckung der
Langsamkeit” praktiziert. Als wir von Reede aus wieder ablegen, sehe ich
einen Passagier im Liegestuhl mit dem Buch, das diesen Titel hat. Wir kommen
ins Gespräch, ich lade ihn in den Gymnastikraum ein zu meiner Einführung
„Meditation im stillen Sitzen und in der Bewegung”. Je ruhiger der Geist,
desto tiefer sind die Eindrücke! Das kann man üben. Dabei lerne ich einen
der Teilnehmer besser kennen – einen quirligen Unternehmer. Er ist ein
stolzer Genießer der ganzen Reise. „Ich habe eine Karriere gemacht vom
Tellerwäscher zum Millionär”, klärt er mich auf. Angefangen hat er mit einem
alten Umzugsauto. Nun gehören ihm große Transporter. Ich frage ihn, ob er
sich die Abwesenheit leisten kann, Selbständige würden doch immerzu
arbeiten. Das sei kein Problem, man müsse seinen leitenden Angestellten nur
vertrauen können, sagt’s und genießt den bayrischen Mittag mit Schweinshaxe
unter freiem Himmel – und ist durch Meditation und regelmäßiges Joggen auf
der 180-Meter-Laufbahn um das Sportdeck gut drauf.
Nach Helsinki muss das Meer eigentlich wegen
Überfüllung geschlossen werden. Alle Schiffe wollen nach St. Petersburg. Die
großen Kreuzfahrtschiffe kämen da nicht mehr hinein, erfahre ich vom
Kapitän, das Hafenbecken sei nur 240 Meter lang – zu klein zum Drehen, die
Großen müssten weit draußen ankern. Ätsch!
Auf Landgang begleite ich eine kleine Gruppe vom
Schiff, die die Stadt zu Fuß erkunden will. Wir besuchen mit einem
russischen Stadtführer die fünf Kilometer schnurgerade Hauptstraße Newski
Prospekt und bleiben bei einem „Hütchenspieler” stehen. Unter einem von drei
Hütchen befindet sich eine kleine Kugel. Der Spieler lässt die Kugel gut
sichtbar von einem zum anderen Hütchen wandern, verdeckt sie und
stoppt: Wo ist die Kugel? Jemand setzt 50 Euro auf ein Hütchen, unter
dem sich tatsächlich die Kugel befindet
– und gewinnt. Aus unserer Gruppe ist einer auf einmal ganz heiß und
setzt auch. Ich will ihn bremsen – vergeblich. 50 Euro sind weg. Trost habe
ich nicht für ihn, nur die Erklärung: Der „Gewinner” gehörte sicher zu dem
Spieler und heizt die Zuschauer an – reingefallen! Plötzlich sprinten der
Spieler und der „Gewinner” davon – in der Ferne sieht man Polizei.
Wir interessieren uns für Schachspieler. In der
Stadt russischer Weltmeister bieten sie ein kurzes Spiel an – zehn Euro für
den Sieger. Die Gruppe drängt mich auf den Stuhl am Tisch. Bauer e2 – e4 und
einige weitere Züge sind noch sicher, dann wackelt meine Stellung und bricht
zusammen. „Reingefallen!”, höre ich aus der Gruppe.
Nach der Alltagskultur geht es zur Hochkultur. Die
deutsche Zarin Katharina 2. sammelte das Beste an Kunst, was in der Welt zu
haben war und bestückte die Eremitage damit. Vor dem Rembrandtbild „Der
verlorene Sohn” zu dem entsprechenden Bibeltext bitte ich meine Gruppe auf
die Hände des Vaters zu achten: Eine männliche und eine weibliche – der
Maler sah Gott weiblich und männlich zugleich. Nach einer Fahrt mit der von
Stalin gebauten prunkvollen Metro („Paläste fürs Volk”) kehren wir „heim”.
Voller Erlebnisse – und Verluste.
Am Abend lerne ich in der Bibliothek einen
Rechtsprofessor kennen und es kommt zum religiösen Gespräch. An Bord kommt
das öfter vor als zu Hause. Die Menschen sind entspannt und fangen an zu
philosophieren. Er teile nicht den christlichen Glauben, er sei „Pantheist”.
Er meint, Gott sei nicht außerhalb der Schöpfung, sondern alles sei von
göttlicher Art, Wind und Wellen, Sonne und Mond. „Was sagen Sie dazu?” Ich
wies auf den Anfang der Bibel hin: der Geist Gottes schwebt über dem
Urwasser, das meint, göttliche Energie durchflutet die ganze Schöpfung.
Darauf kann man sich einigen. Metaphysische Gespräche folgen bis zum Ende
der Reise. Zum Gottesdienst kommt er nicht, aber er schreibt mir religiöse
Limericks, die ich dort verlese.
Unser Kreuzer bringt uns jetzt nach Tallin/Estland
mit den vielen alten Gebäuden, engen Gassen, einem Rathausplatz mit Frauen
in Trachten und einem historischem Markt. Eine ältere Frau vom Schiff
spricht mich an. „Herr Pfarrer,
spenden sie mir Trost!” – „Was bedrückt sie?” Sie erzählt, dass sie viele
Reisen mit ihrem Mann gemacht habe, nun sei er tot und sie sei zum ersten
Mal alleine unterwegs. „Das ist mutig von ihnen.” – „Ja, mutig muss ich
sein. Er hat immer alle Kontakte geknüpft, jetzt muss ich das lernen.” Ich
versuche ihr Trost zu spenden ‒ ich nehme mir Zeit für sie und höre ihr
aufmerksam zu.
Über das alte deutsche Memel, heute
Klaipeda/Litauen, mit der Ännchen-von-Tharau-Plastik geht es nun langsam
nach Hause, nach Kiel. Dort muss ich meinen traumhaften Arbeitsplatz
verlassen. Die Kreuzfahrt hat mich begeistert. Das ist Sicherheit und
Freiheit zugleich gewesen: In der Ferne unterwegs sein zu können, ohne
Abenteurer sein zu müssen. Für die Behaglichkeit hat die Crew gesorgt.
Deck-Steward Alfons erzählt mir noch, wie er seine Arbeit versteht: „Alle
auftretenden Probleme zu lösen – das ist ein echtes Abenteuer.”
Das letzte „Abenteuer” vor Kiel ist unser
Abschlussgottesdienst. Die Lounge ist voller Besucher. Der Pianist
beginnt, spielt „He’s got the whole world in his hands”. Sängerin
Soleil stimmt ein, Ben kommt dazu, dann unser Kinderchor und schließlich
stehen alle Besucher auf, singen, klatschen, loben Gott und spüren Frieden
und Freude.
Bald bin ich wieder als Bordgeistlicher unterwegs –
in der Südsee. Ich bin gespannt auf die neuen Gäste an Bord – dann fange ich
wieder bei null an …
|
|
|
Volker Keller
Willkommen an Bord. Kreuzfahrten zwischen
Hamburg und Hong Kong
Volker Keller erzählt in seinem dritten Buch von
seiner Umrundung der Welt – auf Kreuzfahrtschiffen. Seine Reisen führen ihn
über die Ostsee, nach Norwegen, nach Großbritannien, ins Mittelmeer, auf den
Atlantischen und den Indischen Ozean sowie zum Pazifik. Mal ist er auf den
Luxuslinern MS EUROPA und MS DEUTSCHLAND unterwegs, mal auf dem Großschiff
MSOSTA DELIZIOSA, ebenso auf den „Lieblingen” der deutschen
Kreuzfahrer, MS ARTANIA, MS AMADEA und MS ASTOR.
Zumeist schließt sich der Autor bei
Landaufenthalten nicht organisierten Gruppenausflügen an, sondern entdeckt
Land und Leute in eigener Regie. Im Rom arbeitet er nach Plan die Stadt ab –
und scheitert. In Safaga/Ägypten lässt er sich durch ein Armenviertel
treiben – und trifft auf Menschen, die sich für ihn genauso interessieren,
wie er sich für sie. In Mumbai fällt er Geschäftemachern in die Hände, in
Casablanca vertraut er sich dem Masseur eines Dampfbades an und lernt
Wasserpfeife rauchen, in Hong Kong übt er früh morgens im Park Meditation
und Tai Chi, am Loch Ness klärt ihn ein Busfahrer über das Ungeheuer auf, im
Oman diskutiert er mit Muslimen über den Islam. Immer geht es dem Autor bei
Begegnungen darum, aus erster Hand zu erfahren, wie fremde Menschen leben,
was sie denken und fühlen. Er verfolgt den Streit eines Unberührbaren mit
einem Brahmanen über die indische Klassengesellschaft; im multikulturellen
Singapur begreift er, dass Zusammenleben verschiedener Völker auf engem Raum
möglich ist; im kalten Sommer Norwegens empfindet er die Naturliebe der
Samen mit.
Ferner beschreibt Volker Keller die Philosophie und
Geschichte der Kreuzfahrt, zeichnet die heutigen Routen der
Kreuzfahrtschiffe nach und fragt, wer Meere und Kontinente einst entdeckte.
Der Autor macht sich den Appell des Literaten Kurt
Tucholsky zu eigen: „Wie ist die Welt so schön! Gib dich ihr hin und sie
wird sich dir geben!” An jedem Tag auf Kreuzfahrt empfand
Volker Keller die Schönheit der Welt – und er lässt den Leser daran auf rund
280 Seiten mit 50 Bildern teilhaben.
Willkommen an Bord. Kreuzfahrten zwischen
Hamburg und Hong Kong
ISBN 978-3-7822-1034-8, 280 Seiten, Format 21
x 27 cm, zahlreiche Farb-Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag, 17,99 €.
Amazon/Willkommen
Weitere Bücher des Autors:
Zwischen Bremen und Bali. Mit Gott auf Reisen.
Buddha, Krishna und Allah. Orientierung in fremden religiösen Welten
|