„Nimm dir
Schlaftabletten mit und zieh dich warm an!” Das ist die letzte
Mail-Botschaft aus dem hohen Norden. Warnung oder gut gemeinter Ratschlag?
Doch bange machen gilt nicht, wenn man unbedingt einen alten Traum
realisieren will: ein maritimes Winter-Abenteuer.
„Dein Schiff kommt gleich rein mit der RMS
SAIMAA”, meldet sich wie verabredet Pasi Paldanius. Der Ältermann des
Lotsbezirks Saimaa hat alles organisiert und im Bildschirm-Blick. An der
Lotsenstation neben der Schleuse Mälkiä in Lappeenranta beginnt der Saimaa
Kanal, der den See mit der 58 Kilometer entfernten Ostsee verbindet.
„Terve, welcome!”, ist von oben herab durch
die erstarrten Birken zu hören. Tatsächlich: METEOR. Zu lesen in weißen
Lettern auf schwarzem eisverkrustetem Rumpf. Ein bulliger Hochseeschlepper
der soliden, alten Art.
„Eerik Laas”, stellt sich der junge Mann vor,
der den rucksackgebeugten Passagier aus Brückenhöhe angesprochen hat, „I am
the captain”. Spricht’s und packt mit an, als es akrobatisch an Bord geht.
„Jetzt brummt die Schifffahrt auf dem See”, sagt er und turnt wieder auf die
Brücke zum Ablegemanöver. Vor der Schleuse wartet jetzt der deutsche
Frachter RMS SAIMAA, benannt nach dem größten finnischen See, hoch beladen
mit Rundholz für Wismar, auf den von Süden kommenden Konvoi.
Durch die
Rinne heizen
Die Haupt-„Show” spielt auf der Brücke. Der
33-jährige Eerik ist jetzt in seinem Element. Mit dem Bugstrahlruder drückt
er METEOR sanft von der Pier weg und lässt sie behutsam an der Flanke des
Frachters entlang gleiten. Bis Erster Offizier Aadu Saar den Telegrafenhebel
auf den Tisch legt: „Voll voraus!” Auftakt der Symphonie mit pausenlosen
Paukenschlägen, die uns tage- und nächtelang begleiten wird, „ein Konzert
der besonderen Art”, verzieht er dabei das Gesicht zu einem schiefen
Lächeln, „was meinst du wohl, warum wir dir Ohropax und Schlaftabletten
empfohlen haben?! Das ist so wie auf einer Rüttelmaschine leben”.
Seit Ende Dezember kennen die fünf Esten
unter finnischer Flagge – alle sprechen die Landessprache perfekt – nichts
Anderes, sehnen sie sich aber schon nach dem ersten eisfreien Tag. Ein paar
Kilometer heizt METEOR mit über zehn Knoten fast noch spielerisch durch die
von ihr vorher gebrochene Rinne. „Wir machen jetzt den Weg frei für den
deutschen Frachter RMS NEUDORF”. Der kämpfe sich von Süden kommend durch den
Kanal mit dem Eisbrecher ISO PUCKI. METEOR stoppt in eisiger Umklammerung,
bis der Konvoi in Sicht kommt.
Von der Brille geschleudert
Harte Kursänderung nach Nordost. Zwei starke
Schiffsscheinwerfer fingern über eine starre geschlossene Eisdecke, die
unter dem Anprall von 400 Tonnen Stahl zu einem bizarren Zackenmuster
aufreißt. Ein schwarz-grüner Schwall überflutet die weiße Decke. Minus 25
Grad lassen den Atem augenblicklich gefrieren, und die Luft dampft
mystisch-gespenstisch über dem wärmeren Wasser.
METEOR wird spürbar abgebremst bis zum
völligen Stillstand. „Über 50 Zentimeter Eisdicke”, schüttelt Aadu den Kopf,
„da sind auch unsere 1800 PS machtlos! Bleibt nur eins: rückwärts und dann
volle Pulle voraus!” Also Rammfahrt bis zum Aufbäumen, hartnäckig immer und
immer wieder. Selbst der Toilettengang wird jetzt zum akrobatischen Akt,
wenn man durch die Schüttelei von der Brille geschleudert wird. Mit einem
Fluch auf den Lippen. Von wegen: „Ice is nice!”
Chief Viljar Kikkerpuu kommentiert dieses
wummernde Eis-Theater, das drei Tonnen Dieselöl pro Tag kostet, auf seine
Weise: „Ein paar hundert Pferdestärken mehr hätte ich schon gern”.
Kilometerlange Dampfschwaden
Allmählich wird auch die von Leuchttonnen
markierte Fahrrinne an beiden Seiten verbreitert für RMS NEUDORF. Der
eisverstärkte Frachter indes bleibt in respektvollem Abstand. Bei rumpelnder
Schleichfahrt tastet er sich durch das Schollenmeer. Seine Lichtfinger, in
dem Eisblink grizzelt, erzittern hilflos, als würde er frieren.
Nach 14 Seemeilen ist das Ziel in Greifweite,
die Papierfabrik von Joutseno. Ihre kilometerlangen angestrahlten
Dampfschwaden erinnern an eine Feuersbrunst, dabei wird hier nur in Tag- und
Nachtschicht friedlich für den Export produziert. Eerik nimmt Kurs auf den
kleinen Hafen, zieht unermüdlich Kreise und knackt das Eis neben der Pier,
an der RMS NEUDORF anlegen soll. Dabei schaukelt der Eisbrecher wie eine
Straßenbahn in ausgeschlagenen Gleisen. Das ist nicht See-, sondern Eisgang.
„Alles klar!”, gibt der Kapitän schließlich über UKW an den Lotsen durch,
„ihr könnt kommen!”
Inselgespickter Schlängelkurs
Zurück in der zwar frischen, aber längst
wieder zugefrorenen Rinne zur Nordeinfahrt des Saimaa Kanals. Frachter ELKE
W aus Hamburg ist angemeldet für die 81 Seemeilen nach Savonlinna. Und
wieder heißt es warten.
Die Polarnacht ist schwarz, die
Quecksilbersäule mittlerweile auf minus 30 Grad abgesackt. Wärmen kann da
nur noch die ständig aufgeheizte Bord-Hölle, pardon, Sauna … oder?
Vom „Begrüßungs-Wässerchen” eingelullt, lässt
sich sogar die folgende neunstündige Konvoifahrt über das eisige
Kopfsteinpflaster des Saimaa Sees halbwegs aushalten.
Während es auf der Brücke am
Joystick-Ruderhebel heißt: Steuermann halt die Wacht! Kapitän, Erster und
die beiden Matrosen lösen sich dabei ab. METEOR und ELKE W, die in Puumala
noch einen Lotsenwechsel hat, poltern auf dem einsamen inselgespickten
Schlängelkurs unverdrossen nach Norden. Dabei passieren sie „Zonen der
Stille”, nämlich durch starke Strömungen offen gehaltene Wasserlöcher. Und
das trotz extremer sibirischer Kälte.
Rückwärts
einparken
An Backbord wird die Parade der wuchtigen
rundturmbewehrten Festung Olavinlinna abgenommen,
wo im Sommer die weltbekannten Opernfestspiele stattfinden.
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Jetzt liegt sie im Frühnebel erstarrt am
Nadelöhr des Saimaa Sees. Die 37.000-Einwohner-Stadt Savonlinna gleitet
vorüber, in deren Fenstern sich das rote Sonnenlicht spiegelt. Hier hat die
Crew etwas Besonderes vor. „Wir parken mal rückwärts ein”, verkündet Eerik
breit grinsend und dreht seine METEOR so gekonnt, bis sie im Yachthafen
Haislahti fest im Eis liegt. Genau neben einem Supermarkt.
Maschine stopp, Leiter außenbords und Schnee
geschoben. „Wir gehen jetzt Nachschub einkaufen”, verkündet Aadu, „Milch,
Brot und Obst”. Mit großen Tüten bewaffnet und dick vermummt – minus 40 Grad
zeigt das Bordthermometer – stapfen die Eismänner durch den Pulverschnee,
unter dem der See schlummert.
Nach einem furiosen Sonnenuntergang, der sogar
die Eisdecke erröten lässt, dampft METEOR über Nacht auf dem gleichen Weg
zurück, den sie gekommen ist. „Die Rinne muss ständig offengehalten werden”,
erläutert Eeric, „dafür sind wir vom finnischen Staat gechartert worden”.
Wieder eine stukende 150-Kilometer-Nachtfahrt, „aber daran haben wir uns
längst gewöhnt”, verabschiedet sich Aadu mit roten Augen, bevor er um
Mitternacht auf Wache zieht und dabei vielleicht auch an wärmere Zeiten auf
seiner estnischen Heimatinsel Saaremaa denkt.
MS METEOR
Typ: Hochseeschlepper mit
Eisbrecher-Eigenschaften; gebaut 1960 in Turku als Hilfs- und
Ausbildungsschiff für finnische Marine (Umbau 1989); Länge: 38,5 m; Breite:
9,2 m; Tiefgang (max.): 5,13 m; Höhe: 21 m; BRZ: 396 (tdw: 213); Eisklasse:
1 A (höchste finnisch-schwedische); Maschine: Wärtsilä, 1300 kW;
Geschwindigkeit (max.): 12 kn; Eigner: Raumacata Oy, Rauma; Rufzeichen:
OJJO; Crew: 5 (estnisch); Flagge: Finnland; Heimathafen: Rauma.
Saimaa See
Der See ‒ auch Finnisches oder Karelisches
Meer genannt ‒ liegt im Südosten Finnlands (West-Karelien) und ist mit 4370
Quadratkilometern der größte des Landes und der viertgrößte Europas;
Küstenlänge: 14.850 km; Inseln: 13.710; tiefste Stelle: 85 m, Durchschnitt:
7 m; Nord-Süd-Erstreckung: rund 400 km; Entstanden durch das Abtauen der
Gletscher der Weichseleiszeit vor rund 6.000 Jahren.
Im Süden verhinderte die Salpausselkä-Endmoräne,
im Norden die postglaziale Landhebung einen Abfluss des Schmelz- und
Regenwassers. Dadurch staute es sich vor rund 5000 Jahren im Saimaa-Becken.
Erst durch den Fluss Vuoksi fand der See einen natürlichen Abfluss zum
Ladoga See, so dass sich der Wasserspiegel senkte und sich die heutige
Topografie herauszubilden begann. Im Sommer ein ideales Wassersportrevier.
See-Wirtschaft
An den Ufern des Saimaa Sees blüht heute eine
bedeutende Industrie, die sich auf Forstprodukte und Technik zur Stamm-Ernte
spezialisiert hat. Holz wird nach wie vor über den See, den günstigsten
Transportweg, zu den Sägewerken geflößt. „Finnland steht auf einem
Holzbein”, heißt denn auch das geflügelte Wort. 200.000 Quadratkilometer
oder 65 Prozent des sechstgrößten Landes Europas werden insgesamt
forstwirtschaftlich genutzt. Jedes vierte weltweit verfügbare Stück Papier
stammt aus dem Land der 187.888 Seen.
Und diese Mengen, ob Bauholz, Zellulose, Karton
oder Zeitungspapier, müssen kostengünstig abtransportiert werden. Dafür sind
– unvorstellbar! – rund 3000 Kilometer Saimaa-Schifffahrtsrouten, die auch
im Winter kostenlos durch Eisbrecher offengehalten werden, mit Seezeichen
für Schiffe markiert. Die dürfen maximal 83 Meter lang, 12,60 Meter breit
sein und 4,35 Meter tief gehen. Weil diese Maße von den acht Schleusen des
Saimaa-Kanals vorgegeben werden. Er verbindet auf 58 Kilometern, davon die
Hälfte durch russisches Territorium, den Finnischen Meerbusen mit dem Saimaa
See. Immerhin trägt die Bewirtschaftung des Waldes mit über 30 Prozent zum
Außenhandel bei und sichert etwa einem Zehntel der Bevölkerung das
Einkommen.
Frachtschiffreisen-Buchung
Eine Reise mit Frachtern z.B. zum Saimaa See kann
gebucht werden bei:
www.zylmann.de
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