AUSGABE 3/2012
hr

Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund

STS ALBATROS läuft in Stralsund ein.

   

»Superbe, diese Idee!«, kommentiert Philippe aus Frankreich den Vorschlag, im Mai auf einem richtigen alten Segler zur See zu fahren. Der stammt noch aus einer Zeit (1942), als Segeln weder romantisch noch Urlaub war. Obwohl dieser Sport im Allgemeinen immer noch von einem Hauch Exklusivität umweht ist, kann man dabei für relativ wenig Geld an Bord gehen.

 

Die Gruppe der 15- bis 16-jährigen seefahrtsinteressierten Jugendlichen schwillt geradezu an: über 30 sind es binnen Kurzem, die auf diesen schwankenden Trip gehen wollen.

Erstaunlich, aber wahr: Die ersten konkreten Informationen bewirken so etwas wie eine Wende. »Wenn wir da auch noch arbeiten müssen – non, merci!«, ziehen sich Philippe und ein paar Ängstliche in seinem Schlepptau zurück. Sie bevorzugen »arbeitsfreie« Spanien- oder Italienfahrten mit Hotelkomfort.

Je mehr Details sie erfahren, desto mehr »Enthusiasten« springen ab. Schnell kristallisiert sich ein »harter Kern« aus der großen Anfangsschar heraus. Neun Mädchen und fünf Jungen sowie drei Begleiter – genau die richtige Zahl hinsichtlich Gruppe und Schiffsgröße – haben sich nicht abschrecken lassen durch enge Logis, Küchendienst, nächtliches Wachegehen oder gar Seekrankheit. Sie, die »null Ahnung von Seefahrt«, aber dafür umso mehr »Lust drauf« haben, scheuen das Abenteuer Oldtimer-Segeln nicht. Der Titel des Info-Heftchens vom Deutschen Jugendwerk zur See zeigt die Richtung an: »Komm an Bord!« Ein Wunschtraum ist es, den sie sich erfüllen wollen. Als Passagiere? Nein danke!

Frischer Wind weht uns um die Nase, als wir uns am Kieler Hafen treffen: der Kapitän, drei Steuerleute – allesamt mit Kapitänspatent auf Großer Fahrt –, zwei Maschinisten und der »wichtigste Mann an Bord«, der Koch. Doch wir gehen noch nicht an Bord, sondern entern einen Bus, der uns nach Köge, südlich von Kopenhagen, bringen soll. Dort findet der Besatzungswechsel statt, am Endhafen des letzten einwöchigen Törns.

 

Nach ostholsteinischen Seen- und Hügel-Impressionen Pause am Fähranleger von Puttgarden auf Fehmarn. »Ich heiße Dietrich, ihr könnt auch Dieter zu mir sagen«, macht Kapitän Dietrich Nennemann den ersten Schritt, »denn an Bord sagt man ‚du‘ und Vornamen.« Als Frachterkapitän bei der Reederei Hamburg-Süd hat er alle Weltmeere befahren. Gerd Witte, ein »Intellektuellentyp mit Brille«, entpuppt sich als früherer Erster Steuermann eines Passagierschiffes. Roland Steinert, Segler und vertraut mit bulligen Schwergutfrachtern, hat den Job des Zweiten übernommen. Alle drei sind nach ihrer jahrelangen Seefahrtskarriere in die Lüfte gegangen: als Lufthansa-Navigatoren, später wieder am Boden als Flugdienstberater in Frankfurt. »Mit der Lufthansa durch die Ostsee segeln!« könnte denn auch das Motto unserer Reise lauten. Dritter im Bunde ist Peter Zylmann, Ex-Frachterkapitän und passionierter Segler, vermittelte dann Frachtschiffsreisen vom ostseenahen Fischerdorf Maasholm an der Schlei aus. »Chief« ist Reinhard Galbas, Ingenieur bei einem Erdgasversorgungsunternehmen in Ulm, der zusammen mit Klaus Köster, Techniker in Kiel, die Maschinen betreut. Schließlich braucht ein Segler heute Strom und einen »Flautenschieber«. Der Schwabe Karl-Heinz Stein hat von Busfahrer auf Koch, sein Hobby, umgesattelt. Auch sie Ex-Seeleute, die jetzt einen Teil ihres Urlaubs »opfern«, um zusammen mit Jugendlichen zu segeln.

Auf dem Scandlines-Fährschiff DEUTSCHLAND Frühstück mit erstem Ostsee-Kontakt. In Köge wird nach Mastspitzen Ausschau gehalten. »Da liegt sie!«, entfährt es einigen synchron, als »unser« Schiff endlich in Sicht kommt. »Ist das ein schöner Segler!« Spontane Zuneigung oder Liebe auf den ersten Blick. Die Pier ist vollgestellt mit dem Gepäck unserer Vorgänger. Ein paar Worte werden noch gewechselt: »Wie war’s denn?«, »Habt ihr gutes Segelwetter gehabt?« Horrorvisionen von Sturmböen oder über Bord gegangenen Leuten werden nicht bestätigt. Die Wetterkarte zeigt, auch am stahlblauen Himmel abzulesen, ein stabiles südskandinavisches Hoch. Hochstimmung macht sich breit, als die Jungeuropäer aus sieben Nationen »ihre« ALBATROS in Besitz nehmen.

Am Besanmast wird – erste Amtshandlung – die Compagnie-Flagge gesetzt. Auf weißen Grund befindet sich der Schriftzug »Europäische Schule« mit den bunten Mini-Flaggen der zwölf EU-Länder.

Da stehen die Jungsegler nun ratlos vor dem Mastenwald mit seinen 50 verschiedenen Tampen des laufenden Guts zum Segelsetzen und -bergen. »Ob wir die vielen Taue in einer Woche alle lernen und bedienen können?« Anke und Anne sind, trotz häuslichen Studiums der fast fünfzigseitigen Segelanweisungen, zumindest skeptisch. Die kanadische Austausch-Schülerin Marie-Christine beschleichen sogar »flaue Gefühle in der Magengegend«, wie sie freimütig bekennt, angesichts des umfangreichen »Lernstoffs«.

Vertrauen haben sie hingegen in unsere Schiffsführer und den robusten ehemaligen Islandfahrer und Steinfischer mit dem schwarzen Holzrumpf, der 1979 zum Segler umgebaut wurde. Sie tasten sich alle noch etwas unsicher über das Hauptdeck der fast 30 Meter langen ALBATROS, messen knapp sieben Meter Breite und legen den Kopf in den Nacken vor den 28 Meter hohen Masten. Sie klettern die engen Niedergänge ins Mannschaftslogis hinunter, das bis 3,40 Meter unter die Wasserlinie reicht, und nehmen ihre Kojen- und Schrankplätze in Beschlag.

Anschließend tönt es: »Besatzung in die Messe!« Dieter, der Kapitän, heißt uns an Bord herzlich willkommen, stellt die Stammbesatzung vor, erläutert unsere Pflichten und den Wachplan nach englischem System: von 18:00-24:00, 00:00-04:00, 04:00-08:00, 08:00-12:00, 12:00-18:00 Uhr. Die Steuerbord- und Backbordwache – je sieben Schüler/-innen und ihre beiden Steuerleute – sitzen auch in der urig-gemütlichen Messe beim Essen zusammen. Den Wachtörn selbst können sie sich nach halb- oder zweistündigem Ablöserhythmus einteilen: Ruder-, Ausguck-, Segel-, Freiwache nach altem Seemannsbrauch. »Das heißt Verantwortung tragen für Schiff und Besatzung«, ergänzt Roland, »darum Alkohol in Maßen und kein Rauchen unter Deck.« Unser Australier John darf außerdem sein Kofferradio gleich wieder einpacken, während Martin seine Gitarre hervorholt. Dann ist die Rede vom täglich wechselnden Dienst der Backschafter, die für das Tischdecken, Essenauftragen und den Abwasch zuständig sind. »Seht euch bitte vor beim Trinkwasserverbrauch, spült erst mal mit Seewasser und pumpt nach dem Toilettenbesuch mindestens fünfzehn Mal«, mahnt uns Reinhard. »Ihr schaut alle ziemlich resigniert drein«, beschließt Dieter seinen Einführungsvortrag, als er in die müde und erschlagene Runde sieht. »Smut« Heinz braucht gleich ein paar helfende Hände zur Vorbereitung des Abendbrots, trotz allem.

 

»All hands on deck!«, schallt Rolands Stimme kurz nach der Sitzung durchs Schiff. »Trockensegeln« ist angesagt, die erste Lektion noch an der Pier mit festgemachtem Tuch. »Hier, das ist die Außenklüver-Schot, das die Untermars-Brasse, dort das Schoner-Piekfall« – diese und weitere unverständliche Begriffe fliegen den Jungseeleuten um die Ohren. Dieter, Gerd, Roland und Peter versuchen mit viel Geduld, dieses logische Knäuel zu entwirren. Nach einer Stunde müssten wir eigentlich wissen, wann welcher Tampen durchzuholen oder zu belegen ist. Auch wenn fast alle bei der Probe aufs Exempel danebengreifen, gibt der »Alte« das Kommando: »Leinen los!« Noch tut es der 100-PS-Diesel im »Keller«, den Klaus langsam auf Touren bringt. Im Zweizylinder-Sound wendet ALBATROS und tuckert hinaus in die weite Bucht von Köge. Segelanweisungen schwirren durch die Luft, alles rennt scheinbar planlos über Deck; hier ziehen ein paar, dort geben andere Lose oder belegen. Langsam blähen sich 330 Quadratmeter weißes Tuch über uns. Der Motor verstummt. Tanja hält das Ruder fest in der Hand. Wir gleiten zum ersten Mal nur vom Wind getrieben dahin, ein berauschendes Gefühl. Die Bugsee gluckst zufrieden vor sich hin, die Takelage knarrt, ein paar Segel knattern – die Melodie, auf die alle gewartet haben. »Das ist ja schon ganz gut gelaufen mit euch«, loben uns die Segel-Profis, und der Kapitän ruft traditionell »Besanschot an!« aus. Wir versammeln uns achtern um den Ruderstand, und eine Buddel Sherry macht die Runde. Lob motiviert, und bis zum bilderbuchhaften Sonnenuntergang sieht man die Jungseeleute längs Deck wandeln, diesen und jenen Tampen anfassen, daran ziehen und dessen Bezeichnung wie Beschwörungsformeln murmeln.

»Lass fallen Anker!« Die Segel sind wieder geborgen, und die erste Wache zieht auf. Die Bewegungen der Ankerkette müssen ständig kontrolliert werden, falls der Anker sich selbständig machen sollte; der Schiffsverkehr ist zu beobachten. »Wenn euch etwas merkwürdig erscheint, sofort einen von uns wecken«, rät Dieter den beiden Wachgängern. Zwei um zwei Stunden tragen sie jeweils die volle Verantwortung, während die anderen sich hundemüde in ihre hölzernen Kojen verkrochen haben. Umso schwerer fällt es den Ablösern, sich zu nachtschlafener Zeit hochzurappeln, um die nächste Runde zu übernehmen. Schlaftrunkenheit? Vom Sternenhimmel (»So einen hab ich noch nie gesehen«, findet Eva.) und Mondaufgang wie fortgeblasen. Während das Morgenrot sich pastellfarben hinter dem Filigran der Takelage abzeichnet, hat Kirsten, Journalistin und Begleiterin, die Einsicht, dass Caspar David Friedrichs Bilder, verglichen mit dem, was sie mit eigenen Augen sehe, keineswegs kitschig seien. Real-romanische Impressionen.

 

Dass man nicht duschen kann (abgesehen von je zwei Waschbecken in den Logis) – kein Problem. »Die jodhaltige Seeluft wirkt wie ein Deo, nur ohne Spray«, klärt Roland lachend auf. Um 6:30 Uhr, auf noch nüchternen Magen, teilt er vier »Mann« zum Hieven der Ankerkette ein. Sie legen sich kurbelnd und sogar mit Gesang ins Zeug. Kettenglied um Kettenglied ruckt aus dem Wasser, bis erste Blasen die arbeitsungewohnten Hände zieren. Antoine und Christoffer kurbeln verbissen weiter. Niemand meckert, denn alle hat das Segelfieber gepackt. »Klar zum Segelsetzen!«

Nach kurzer Manöverbesprechung werden Tampen losgemacht, mit dem ganzen Körpergewicht unter Anfeuerungsrufen durchgeholt und auf dem Nagel belegt. »Kurs 25 Grad!«, gibt jetzt Gerd die Richtung an, nachdem er den Wind geprüft hat. Alex aus England echot, zum Zeichen, dass er verstanden hat: »Aye, aye, Sir!« Noch hat er seine Probleme, Steuerrad und Kompassrose in Übereinstimmung zu bringen. Die Kiellinie verläuft im Zick-Zack-Muster, bis er melden kann: »25 Grad liegt an!« Tanja und er entwickeln sich bald zu »Gefechtsrudergängern«, die den Kurs auf einen Grad genau halten können. Mit jeder Wende klappen die Handgriffe besser. Überraschend auch das herzhafte Frühstück, dessen Vielfalt und Fülle wir Heinz, unserem »Smut«, zu verdanken haben. Bei Müsli oder Spiegelei schwärmen Géraldine und unsere Italienerin Elisabetta vom Sonnenaufgang, und Wibke fühlt sich »topfit« nach dem frühmorgendlichen Ankermanöver und Segelsetzen.

Durch den Öresund – Kopenhagen an Back-, Malmö an Steuerbord – ist der Kurs abgesetzt, und wir gleiten nach Norden. Unseren Weg kreuzen emsige Fähren und behäbige Frachter, sogar ein schwedisches U-Boot hat sich auf unsere Fährte gesetzt. Ein derartiges Fahrzeug hat noch niemand gesehen. Schiffstypenkunde live.

Ein paar ganz Mutige legen sich den Sicherheitsgurt an und starten erste, noch zaghafte Kletterversuche in den Wanten, mit weitem Blick nach Dänemark und Schweden hinein. »Super hier oben!«, schallt es herunter an Deck, und die Fotoapparate klicken.

Bald bevölkern noch einige Jungen und Mädchen die luftigen Höhen des »Gehölzes«, wobei sie sich wie Landentdecker vorkommen: »Schloss Helsingör drei Strich an Backbord voraus!« Auch das ist Teil des Funktionierens, nicht nur abenteuerlich-spannend, sondern lebenswichtiger Ernst für das gute Gelingen des Törns.

 

Sollte nämlich Wind aufkommen oder sonst eine unvorhergesehene Situation eintreten, muss das Schiff von allen rundum bedient werden können.

 

Der Wind jedoch schläft ein, die Sonne brennt. Die Chance, um das Beiboot zu Wasser zu lassen und ein paar Fotorunden um die dümpelnde ALBATROS zu drehen, Kleidung: Schwimmweste. Ein Kapitäns-Service. Zeit auch, um sich in die Künste der Navigation einweisen zu lassen. Alex hantiert bald mit Stechzirkel und Kursdreiecken wie sein Lehrmeister Peter. Mitkoppeln ist für den Jungen kaum noch ein Problem. Derweil schrubben drei Jungsegler/-innen Töpfe und Pfannen, andere schälen Berge von Kartoffeln – freiwillig natürlich, denn bei Sonne und Blick in die Ferne geht es allemal leichter. Eine Gruppe übt sich im Deckwaschen, denn auch das will gelernt sein. Die Besen schwingen in gleichem Rhythmus über das Holzdeck, angefeuert von Gesang. Wieder andere hocken im Steuerstand und lassen sich von Roland seemannsumgarnte Episoden aus seiner Zeit als Frachterkapitän erzählen, während Peter nebenan Karin und Anne einen Augspleiß vormacht. Wie eine Seuche verbreiten sich Spleiße und Knoten – ein Handwerk im echten Wortsinn! – über das Schiff, und die Schüler/-innen sind stolz auf ihre seemännischen Fertigkeiten. So wird das Leben an Bord von allen Teilnehmern gestaltet, und jeder tut das, was er kann oder können möchte – und wenn es nur das Singen von Seemannsliedern zur Gitarre ist.

Gegen Abend allerdings bläst uns der Wind vierkant von vorn ins Gesicht. Ein »briefing« steht an: was tun? Segel runter und weiter mit Motor oder einen Hafen anlaufen? Eine nautische Gretchenfrage. »Segel bergen!«, entscheidet die Schiffsführung. »Schwarz-gelbe Ansteuerungstonne zwo Strich an Steuerbord voraus!« meldet korrekt Ausguck Wibke aus dem Klüvernetz, in dem sie, angeseilt und das Fernglas vor Augen, liegt. Neben dem »Ritt auf den Rahen« der schönste Platz, weil man Schiff und Segel direkt vor sich hat.

Erstes Anlegemanöver im Städtchen Landskrona. »Bisschen komisch, wieder auf festem Land«, wundert sich Martin, und mit leichten »Seemannsbeinen« geht es nach der Zollabfertigung schwankend an Land. Festung, Schloss und Innenstadt werden angelaufen, auch private Kontakte geknüpft. Lisa, unsere Schwedin an Bord, kann die Sprachbarrieren überwinden helfen. Bis in ihrer Heimat Trelleborg ist es nur ein Katzensprung. Abends trifft sich die ALBATROS-Crew zum Dämmerschoppen in der Messe, deren Decke schwere Balken zieren. »So eine Kneipe müsste man an Land haben«, träumt Klaus, unser Holsteiner Maschinist, und wirft eine Lage Bier. Im Kartenraum schreiben Marie-Christine und Martin mit, was der Wetterberichts-Sprecher ihnen scheinbar diktiert. »Die stabile Hochdruckwetterlage im Ostseeraum hält an, nordöstliche Winde 3 bis 4«, vermelden sie kurz darauf ins Messedunkel, aus dem nicht eine Zigarette hervorleuchtet, denn unter Deck herrscht ja Rauchverbot.  

 

Die Nacht wird zur »Bauernnacht«, weil alle durchschlafen können, manche sogar im Schlafsack an Deck. Von meiner Koje im Vorschiff aus kann ich die Sterne zählen – und dann herrlich schlafen, doch nur bis 06:00 Uhr. Das Kommando »Leinen los!« bringt alle schnell wieder auf Trab. Mit frischem Wind laufen wir aus. Die Nordspitze von Seeland wird angepeilt. Für unser Seegebiet, das Kattegat, kündigt der Seewetterbericht Starkwind an. Bald geistert das Wort »Sturm« durch die Crew. »Leichenfänger«, ein Gruselbegriff für Netze, die das Außenbordfallen verhindern sollen, werden gespannt. Tatsächlich, es brist auf, wir holen die Schoten dicht und rauschen mit fast sechs Knoten unter Vollzeug und leichter Krängung dahin.

Einem erlebnisreichen Segeltag folgt eine sternenklare Nacht mit honiggelbem Riesenmond. Dampfer müssen aufpassen, denn eine rote über einer grünen Laterne in unserem Topp zeigt an: »Achtung, dort kommt ein vorfahrtberechtigter Segler!« Die Freiwache ist kaum in die Kojen zu bewegen – so schön ist diese Nacht, von Sturm keine Spur. Glück gehabt? Einige hätten so ein Naturereignis wohl allzu gern einmal erlebt. So bleiben wenigstens Opfergänge an Seegott Neptun aus. Am nächsten Morgen: Niemanden hat die Nachtwache geschlaucht, keine(r) hängt durch. Vormittags verabschiedet sich der Wind ganz, die Sonne brennt, es riecht förmlich nach Badengehen. Das Thermometer zeigt 12 Grad Wassertemperatur, die Luft aber schon 18. Nach allgemeinem Drängen ruft Dieter »Klarmachen zum Baden!« aus, will sagen: Hochseebaden an der langen Kapitänsleine. Wie das geht? Mit Badezeug und umgelegtem Sicherheitsgurt tauchen zwei mutige Mädchen an der Verschanzung auf, lassen sich von Dieter an die Leine legen und tauchen fürchterlich prustend unter. Mitten auf See, querab der Insel Samsö. »Pass auf die Quallen auf!«, wird von oben herab gewarnt, aber den meisten verschlägt es die Sprache eher vor Kälte. Trotzdem bricht Badefieber aus. Ganz Vorsichtige begnügen sich mit einer Seewasserwaschprozedur an Deck. Der warme Sonnenschein bringt uns anschließend wieder auf Körpertemperatur. Anne, Karin und Christoffer versuchen es mit Arbeit. Sie entrosten und streichen das Ankerspill.  

 

Am frühen nächsten Morgen wird es eng. Bei Fredericia in Westjütland steuern wir den Kleinen Belt an. Die Passage windet sich flussartig durchs Land; Rudergänger John muss höllisch aufpassen, vor allem auf die starke Strömung. Es scheint, als würden unsere Mastspitzen die beiden Brücken streifen, und wir warten förmlich drauf, dass es kracht. Die Fahrt unter Motor durch uralte, dichte Buchenwälder verläuft problemlos. Unter Segeln rauschen wir über offene Wasserflächen und fädeln uns dann in den idyllischen, wiederum schlauchartigen Alsen-Sund ein mit Blick auf schmucke Herrenhäuser, blitzsaubere Gehöfte und knickumsäumte Felder. »Sonderburg rechts voraus!«, meldet Ausguck Klaus Peter, Begleiter und sonst Pressesprecher einer Verlagsgruppe. Nach dem Bunkern von Öl für Jockel und Hauptmaschine verholen wir mit vereinten Kräften Hand über Hand und steuern einen ruhigen Liegeplatz in der Stadt an, den auch schon ein paar andere Oldtimer-Segler auserkoren haben. Die öffentlichen Duschen am Hafen sind Anlass für eine Reinigungsorgie. Frische Düfte ziehen durchs Schiff, und die ALBATROS-Crew macht sich landfein. Stadtbummel steht auf dem Programm, anschließend Besuch eines dänischen Kro, einer Hafenkneipe mit historischer Einrichtung und elektrischem Klavier. Ein paar Schülerinnen haben Bekanntschaft mit Yachtschiffern geschlossen und sitzen zum »kollegialen Klönschnack« unter Deck zusammen.

Am nächsten Morgen locken frische Brötchen auch die letzten Schläfer in die Messe – eine Überraschung unseres Spitzenkochs Heinz. Wibke hat sich freiwillig gemeldet, um an Deck und im stickig-dunklen Ankerkettenkasten die vertörnte Kette zu klarieren. Schwerstarbeit. Rostüberpudert klettert sie ans Licht, strahlt und meint: »Ich fühl mich gut nach dieser Arbeit.« Florian spült sie mit dem Deckwaschschlauch ab. Bis 11:00 Uhr verteilen sich die Jung- und Alt-ALBATROSse noch in Sonderburg, schreiben Postkarten oder sehen sich das Schloss mit seinem Heimatmuseum an. Von der Befestigungsanlage schweift der Blick über das historische Schlachtfeld von Düppel (Preußen gegen Dänemark 1864).

Ein gemütlicher Zollbeamter lässt sich erstaunlicher Weise erst kurz vor dem Auslaufen blicken, um das Zollgut zu verplomben. Hier nimmt man es offenbar nicht so genau, dafür mit umso mehr Gelassenheit. Durch die weit geöffnete Klappbrücke tuckern wir mit unserem dreimastigen Marssegelschoner an der Flensburger Förde vorbei.  

 

Aus der Abendsonne prescht plötzlich ein Fahrzeug mit hoher Bugsee direkt auf uns zu. An seinen Flanken die roten Lettern SAR. Seenotkreuzer NIS RANDERS der Station Maasholm erweist uns seine Reverenz mit zwei Runden in voller Fahrt um die ALBATROS, die endlich einmal anfängt, zu schaukeln und Wasser überzunehmen. »So was haben wir auch noch nicht gesehen«, meint Gerd. Kaum hat der Kreuzer nach Schleimünde abgedreht, ruft Dieter uns achtern zusammen: »Tja, nun seid ihr dran mit Segeln!« Er blickt in erstaunte Gesichter und teilt die Vorleute ein: »Tanja übernimmt das Klüversegel, Alex den Schonermast, Anke den Großmast, Wibke den Besan. Sucht euch eure Leute und gebt Anweisungen! Klar zur Wende!« Bald schwenkt der Segler auf den anderen Bug. »Seht ihr, wie gut ihr das Schiff schon beherrscht? Ihr braucht uns gar nicht mehr!« Rolands Lob ist ernst gemeint, das Selbstvertrauen der Mädchen und Jungen gestärkt.

Passend zu diesem vorletzten Abend ist »Captain’s dinner« angesagt: vier Gänge, die Küche hat (mal wieder) gezaubert. Heinz, immer in makellos weißem Koch-Dress, musste dazu ein paar Deckshände zum Salatzubereiten abziehen. Steuermann Roland hält derweil Ruder-, Segel- und Ausguck-Wache in Personalunion. Ein Bilderbuch-Seemann! Wie der Klabautermann persönlich springt er über Deck, packt hier mit an, zurrt dort fest und lässt dazu seine markante Lache erschallen. Er, der besonnen-ruhige Dieter, der zurückhaltend-freundliche Gerd und der immer aktive und auskunftsfreudige Peter bilden ein ideales Team, auf das Verlass ist. Zum letzten Mal Ankerwerfen, diesmal in der Strander Bucht bei Kiel, unserem Ziel. Liegeplatz-Nachbar ist ein Schiff der Deutschen Marine, das gerade von einer mehrmonatigen Mittelmeer-Reise zurückgekommen ist. In der lauen Frühsommer-Nacht genießen wir die Parade der Frachter, die ein- oder auslaufend Nord-Ostsee-Kanal an uns vorbeidieseln. Tauschen möchte keiner mit deren Komfort. »Seefahrt, die findet doch eigentlich nur hier statt«, meint Klaus Peter, der mit seiner Journalisten-Kollegin Kirsten die letzte Ankerwache geht. Die Segel sind niedergeholt und eingepackt.  

 

Ein großes Reinschiff bildet den Auftakt des letzten Tages, von einem Fernsehteam auf dem Weg zur DEUTSCHLAND im Film festgehalten. Wehmut macht sich spürbar breit, alle wollen wieder auf »Kurs Ost« gehen. »Nach Süden? Nein, danke!« Eva winkt verächtlich ab. »Hier haben wir mit Kopf, Herz und Hand gelebt und gelernt«, bringen Géraldine, Elisabetta und Lisa ihre Erlebnisse und Erkenntnisse auf eine Formel. Beim Einlaufen in die Kieler Innenförde löffeln wir unsere Erbsensuppe an Deck. An Steuerbord kommt unsere große weiße Schwester GORCH FOCK in Sicht. Als ehemaliger GORCH-FOCK-Fahrer dippt der Autor zum Gruß die Flagge. Die Crew ist begeistert von diesem Anblick. Die Riesenfähre am Oslo-Kai lässt sie dagegen kalt. Um Punkt 12:00 Uhr, wie berechnet, sind wir fest am Schweden-Kai. Dieter hält eine Rede, was er sonst noch nie getan hat, und er resümiert: »Ihr seid eine Besatzung geworden!«

Könnte es ein schöneres Kompliment für uns geben? Unser Segelnachweis zeigt stolze 316 Seemeilen. Beim Kommando »Hol nieder Flagge!« klemmt das Flaggentuch der Europäischen Schule symbolträchtig hoch oben am Mast in einem Block. Wer will hier schon von Bord gehen? Alle wollen irgendwann wiederkommen, Alex und Tanja spielen sogar mit dem Gedanken, nach dem Abi zur See zu fahren – ob aber auch auf einem »Kistendampfer«? Bietet doch nur das Segeln Fliegen, Fahren und Träumen in einem. Alex, der Engländer, und John, der Australier, philosophieren beim Abschied von ALBATROS und seiner Stammbesatzung: »Coming together is a beginning, keeping together is progress, working together is success.«

Schiffsdaten STS ALBATROS: Baujahr 1942 in Svendborg, Dänemark; Typ Dreimast-Toppsegelschoner; Segelfläche 300 Quadratmeter; Länge 35,70 Meter; Kojenplätze 26. Neben Jugendlichen fahren genauso Erwachsene auf den vier Seglern des Deutschen Jugendwerks zur See. Buchung: Deutsches Jugendwerk zur See (DJS) e.V.; Telefon 040-82278103 · clipper-buero@clipper-djs.org · www.clipper-djs.org

Setzt Segel.

Blick aus dem Besanmast auf das Achterdeck.

Das Stagsegel auf dem Klüverbaum.

hr
Vorige Seite Inhaltseite Vorschau/Impressum Nächste Seite