In Lateinamerika an der Spitze
Fragt man Mitreisende oder
Karibik-Reisewillige, warum sie nach Kuba wollen, kommt bei den meisten die
Antwort, dass sie noch einmal das alte sozialistische Kuba erleben wollen.
„Bevor die US-Amerikaner kommen und mit ihnen die Marktwirtschaft und die
Kommerzialisierung des Lebens.”
Inklusive in Bildung und Gesundheitswesen?
Beides ist gegenwärtig noch kostenfrei. Kuba steht in vielen sozialen
Bereichen, wie z.B. bei der niedrigen Kindersterblichkeit und der guten
Bildung in Lateinamerika an der Spitze und lässt auch das eine oder andere
westliche Land bei diesen Kennziffern hinter sich.
Bleibt das so? Zunächst kam im Frühjahr 2016
der damals amtierende US-Präsident Barack Obama und der hatte auch
angekündigt, endlich ein Konzept zur Schließung des Gefangenenlagers
Guantanamo im Osten Kubas vorzulegen.
Die Beziehungen zwischen den gegensätzlichen
Nachbarn verbessern sich nach mehr als einem halben Jahrhundert feindlicher
Stagnation langsam. 70 Prozent der Kubaner sehen diesen Veränderungen mit
großen Hoffnungen entgegen, schätzt Ronaldo, ein fließend Deutsch
sprechender Reiseführer einer Gruppe aus der Schweiz, ein.
Der Mittfünfziger hat als Arzt in der DDR
gearbeitet, musste auf Weisung der kubanischen Spitze wie 8.000 seiner
Landleute 1990 zurück in die Karibik. „Als Arzt mit 40 konvertierbaren
kubanischen Peso (CUC), das sind 40 US-Dollar im Monat, kann ich mich und
meine Familie nicht ernähren. Im Tourismus sind die Trinkgelder der
westlichen Touristen unsere Existenzgrundlage.”
Berufung oder Existenz? Das ist eine der
individuellen und gesellschaftlichen Zwickmühlensituationen im Kuba des
Jahres 2016. Show für die Touristen oder authentische kubanische
Lebensfreude eine andere. Neben farbenprächtigen Präsentationen in Kostümen
und kubanischen Klängen für die Touristen und gegen Trinkgeld dominieren in
Havanna und im Land nach wie vor authentische Ausdrucksformen der
karibischen Lebensfreude. Auch der ungestörte Genuss einer Zigarre gehört
dazu.
Deprimierende Bilder mit Fragezeichen
In wohl keinem anderen Ort der Welt wird der
Besucher mit allen drei Zeitformen so intensiv konfrontiert wie in Havanna:
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Die Bilder sind es, die eine gedanklich
intensive Zeitreise forcieren und oft zur Sprachlosigkeit führen.
Im Herzen Havannas ist die Kuppel des
„Kapitols” mit Netzen verhüllt. Das zentrale Bauwerk aus dem Jahre 1929 wird
rekonstruiert und soll ab 2018 als Parlamentssitz dienen. Gleich daneben ist
„Große Wäsche” ‒ die Balkone der bunten, aber maroden Häuser hängen voll
davon mit eigener und der Wäsche von „Kunden”.
Die bewohnten Häuser zwischen alter Schönheit
und Verfall erinnern an Leipzig-Connewitz 1990. Ein Déjà-vu, wie es
Ostdeutsche, die die DDR bewusst erlebt haben, auf Kuba nicht selten
erleben. Hier ist es der dringende Investitionsbedarf, das fehlende Kapital.
Aber: Kapital schützt nicht vor Verfall, wie
Stadteile in den westlichen Zentren wie New York, Detroit, London oder Paris
zeigen. Auch das Ruhrgebiet sieht nicht mehr so richtig frisch aus. Zerfall
ist also kein ausschließliches spät- oder postsozialistisches Zeichen,
sondern auch das Ergebnis profitablen Desinteresses.
Aber hier in Havanna ist schon was zu holen!
Wo wird die Wäscherin mit ihren drei Kindern in einigen Jahren wohnen. Nach
der Revolution 1959 haben Fidel Castro und Genossen Slums, Bordelle, Casinos
und Mafianester radikal vom ehemaligen Hinterhof der USA gefegt. Eine
Renaissance dieses Batista-Sündenpfuhls ist unvorstellbar.
Es bleibt die Frage: Wie groß ist die
Hoffnung auf einen systemübergreifenden architektonischen (sozial
abgesicherten) Solidaritätsakt nach dem Ende des Kuba-Boykotts durch Ost und
West?
|
|
Das größte Verkehrsmuseum der Welt
Andere Bilder in den Straßen der
Zwei-Millionen-Stadt sind weniger dramatisch und
rufen nicht nur bei männlichen Touristen eher
ein Staunen und Wundern hervor. Die
Mobilität ist oft ein Spiegelbild
historischer und aktueller Zustände. Hier sind es die weltberühmten alten
Straßenkreuzer aus den 1950er Jahren, die nicht als einzelne Exoten, sondern
zu Hunderten immer noch auf der Insel unterwegs sind. Und sie verkörpern
Weltgeschichte des letzten halben Jahrhunderts auf Kuba. Die Chevrolets und
Buicks haben eine amerikanische Hülle, aber heute oft ein russisches Herz
mit einem Moskwitsch-Motor.
PKW’s und LKW’s aus sowjetischer Produktion
haben nach 1960 das Straßenregime bis 1990 und letztlich bis heute
übernommen, gehören also auch schon aufs mobile Altenteil. Auch Motoren des
DDR-LKW W 50 sollen prima nach einigen Schraubereien in die Straßenkreuzer
passen. Relativ frisch und mit hellem Zwei-Takt-Klang trifft man hingegen an
jeder Kreuzung MZ-Typen aus Zschopau, Mitbringsel der DDR-Kubaner.
Die Karibikinsel
ist das größte Verkehrsmuseum der Welt. Nicht nur vom Alter der Fahrzeuge
her, sondern auch von der Vielfalt. Neben motorgetriebenen Fahrzeugen gibt
es auch auf der Autobahn Ochsen- und Maultiergespanne, flotte Einspänner,
Reiter, Fahrradfahrer und Fußgänger, oft mit einem Sack auf dem Rücken.
Kuba ist das Gegenmodell zur westlichen
Wegwerfgesellschaft. Und hat sich durch den Mangel weltweit an die Spitze
einer nachhaltigen Landwirtschaft gebracht und ist dafür von der UNO
ausgezeichnet worden. Keine Ersatzteile für Traktoren, knapper Diesel, keine
Devisen für anorganischen Dünger. Es geht auch mit Moschusochsen, Maultieren
und Dünger aus dem natürlichen Kreislauf.
Respekt vor der Überlebensleistung der
Kubaner
Das ist natürlich nicht tauglich für den
Wettbewerb auf dem Weltmarkt und ist nicht messbar an rentablen
Profitkennzahlen. Es verlangt aber Respekt, wie die Kubaner trotz Boykott
und nahezu globaler Isolation und sozialistischer Mangelwirtschaft nicht nur
überleben, sondern auch ein bisschen mehr.
Aber das wird für die Zukunft nicht reichen,
denn der geringe Monatslohn und die ungenügende Versorgungssicherheit
drücken schließlich auch auf die Lebensfreude. Mit der Übernahme der
politischen Führung durch Raul Castro von seinem Bruder Fidel im Jahre 2008
kam die Einsicht, dass die „totale Planwirtschaft” ein entscheidender
Katalysator der Misswirtschaft ist. Kleine Privatinitiativen von Tabakbauern
oder bei Dienstleistungen entspannen die Situation seitdem, aber zu wenig.
Die schlechte wirtschaftliche Situation
vieler Kubaner ist sicher ein Ergebnis der jahrzehntelangen globalen
Situation. Die Insel ist tatsächlich eine weltpolitische Vollwaise, auch
wenn Venezuela oder China die eine oder andere Adoptivleistung erbringen.
Das Problem liegt am praktizierten sozialistischen System und an der
Unmöglichkeit, revolutionären Elan mit Ideologie und Überwachung zu
konservieren und schließlich in den fehlenden demokratischen und
individuellen Freiheiten.
Kuba hat den Vorteil, die Erfahrungen der
ehemaligen sozialistischen Bruderländer und so auch der DDR beim Zerfall und
beim Übergang in die Marktwirtschaft zu analysieren.
Das letzte Vierteljahrhundert hat gezeigt,
dass die einfache Transformation der Marktwirtschaft und der Herrschaft des
Kapitals mit mehr politischen und moralischen Tücken verbunden ist, als in
der ersten Siegerlaune behauptet und vermutet.
Der bevorstehende Wandel auf Kuba ist (jetzt
oder nie?) vielleicht auch eine Chance, ein neues Gesellschaftsmodell zu
kreieren, bei dem neben zwingenden Reformen die Errungenschaften und
Erfahrungen der letzten sechs Jahrzehnte nicht einfach auf die Müllhalde der
Geschichte geworfen werden.
Nach dem gegenwärtigen Touristenboom in
das alte Kuba, wäre das in Zukunft ein guter Grund, in die Karibik zu
fliegen und sich dieses Modell im neuen Kuba anzusehen.
|