FRACHTFÄHRE · AUSGABE 1/2019
Die BEGONIA SEAWAYS bildet zusammen mit ihren fünf Schwesterschiffen aus der „Flower Class” das Rückgrat der Frachtflotte von DFDS.
Foto oben: Peter Therkildsen, Odense, für DFDS
Kai Ortel
BEGONIA SEAWAYS –
Mit der Frachtfähre über die Nordsee
Früher betrieb die dänische Fährreederei DFDS ein ganzes Netz aus Langstrecken-Fährlinien über die Nordsee. Sie alle sind der Konkurrenz durch Billigflieger, hohen Treibstoffpreisen und der Abschaffung des zollfreien Verkaufes zum Opfer gefallen. Nur auf den Frachtfähren gibt es heute noch „Mitfahrgelegenheiten”.
Genaugenommen auf denjenigen, die keine Passkontrollen in den Häfen erfordern, also zwischen den Staaten des Schengen-Raumes. DFDS bietet daher eine Passagierbeförderung auf seinen Frachtrouten zwischen Göteborg und dem belgischen Gent sowie zwischen Brevik (Norwegen) und Gent an – vorausgesetzt, dass nicht alle Kabinen mit LKW-Fahrern belegt sind. Der Markt dafür ist nicht riesig, aber wer sich darauf einlässt, kann sich auf eine Kombination aus Fähr- und Frachterreise freuen.
Allerdings muss man das Schiff in Göteborg erstmal finden. Als ich das letzte Mal mit DFDS von hier abgefahren bin, war der Skandiahamnen noch einigermaßen gut zu Fuß zu erreichen. 1996 war das, mit der schönen PRINCESS OF SCANDINAVIA ging es damals von Göteborg nach Harwich. Doch das ist lange her. Mit der Buchungsbestätigung kam diesmal zwar eine Anreisebeschreibung, doch der Ytterhamnsvägen liegt weit draußen, im Göteborger Stadtteil Arendal. Hier ist selbst mein Taxifahrer noch nie gewesen, aber die erste Etappe wäre schon einmal geschafft. Ich melde mich mit meinen Unterlagen am Schalter von Avarn Security, wo ich eine Art Bordkarte bekomme. Ausgestellt vom „Port of Gothenburg”, laufe ich darauf unter „Besöker” (Besucher). Ein weiterer Security-Mitarbeiter sammelt mich wenige Minuten später ein, um mich im Auto quer über das riesige Hafengelände zum Schiff zu bringen. Das dauert, und wir kommen ins Plaudern. Die Flüchtlingsproblematik ist auch bei den Reedereien ein Thema. In Göteborg wird jeder einzelne Trailer kontrolliert, dazu gibt es Elektro-Zäune, Kameras und Hundepatrouillen. Doch es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Die Schleuser bestechen LKW- und Trailer-Fahrer, bereits 500 Flüchtlinge habe man dieses Jahr entdeckt. Und für jeden, der es bis aufs Schiff schafft, muss die Reederei Strafe zahlen.
Plötzlich halten wir an, am Anleger der FICARIA SEAWAYS. Die ist aber das falsche Schiff. Sie fährt nach Immingham, auf dieser Route befördert DFDS keine Passagiere. Wenig später dann ein Stopp an der Heckrampe der BEGONIA SEAWAYS, der richtigen Fähre. Neuwagen sind im vorderen Teil des riesigen Hauptfrachtdecks geparkt, der Rest des Schiffes wird gerade mit Trailern beladen. Im Gegensatz zu den Ostseelinien der Reederei befördert DFDS über die Nordsee hauptsächlich unbegleitete Fracht. Die wird an Bord abgestellt und gelascht, Kraftfahrer nutzen den Service aber kaum. DFDS bietet integrierte „Door-to-Door”-Dienste an, im Zielhafen wird der Trailer also von einem neuen Fahrer entgegengenommen und geht auf seine Weiterreise. Auf diese Art kann die Reederei Frachttransporte vom Nordkap bis nach Nordafrika oder von den Britischen Inseln bis in den Nahen Osten anbieten. Der für die Verladung zuständige Offizier händigt mir noch unten an der Heckrampe ohne viele Worte den Kabinenschlüssel aus, eskortiert mich hinauf zum Kabinentrakt und verschwindet dann auch genauso schnell wieder unter Deck. Die Arbeit ruft.
Rundgang auf dem Geisterschiff
Meine Kabine (die Nummer zwei-, nicht vier- oder fünfstellig) liegt direkt gegenüber der Wäscherei. Derlei ist auf „richtigen” Passagierschiffen natürlich hinter blick- und geräuschdichten Türen verborgen. Sie ist geräumig, aber nicht luxuriös. Ein Bett, ein Sofa, ein Nacht- und ein kleiner Schreibtisch, dazu Dusche und WC. Der Fußboden ist (genauso wie draußen auf dem Korridor) Linoleum, das Fenster zum Bootsdeck salzverkrustet. Am vorderen Ende des Kabinenkorridors befindet sich eine kleine Cafeteria, rechts daneben ein Aufenthaltsraum, der Begriff „Lounge” wäre übertrieben. Eine Ledersofa-Garnitur gibt es hier, einen Tisch, einen Schrank mit Spielen sowie einen Fernseher an der Wand. Ein Fenster überblickt das Wetterdeck vorne, ein weiteres geht nach Steuerbord hinaus, auf dem Fensterbrett steht jeweils ein Topf mit Plastikblumen. An der Wand hängen Landkarten von Schweden und Belgien, nicht aber von der Nordsee und der Route der BEGONIA SEAWAYS, wie man das vielleicht erwartet hätte. Zwei Philippinos huschen über den Korridor, ansonsten ist niemand von der Crew zu sehen.
Noch sind es fünf Stunden bis zur Abfahrt um 23 Uhr, alle Zeit der Welt also, das Schiff weiter zu erkunden. Doch das ist schnell getan. Denn alles außer besagter Cafeteria und dem Aufenthaltsraum ist „crew only”. Einzig das achtere Ende des Korridors verspricht „Auslauf”. Hier führt eine Tür hinaus aufs Bootsdeck, an frischer Luft soll es auf der Fahrt über die Nordsee also zumindest nicht mangeln. Traumschiff-Atmosphäre will aber auch hier nicht so recht aufkommen. Die Lüftung des Schornsteins ist schon während der Liegezeit laut, außerdem sorgen Ablauf-Leisten im Boden sowie Davits, Paletten und diverse Gerätschaften für allerlei Stoß- und Stolperfallen. Für einen romantischen spätabendlichen Decksbummel ist das Arbeitspferd BEGONIA SEAWAYS also eher nichts. Eine Holzbank steht hier, doch auch sie ist salzverkrustet und dient dem Anschein nach auch zuvorderst als Abstellfläche für Aschenbecher während der Raucherpausen der Besatzung. Ob die Personen, die man hier zwischendurch kurz erblickt, Besatzungsmitglieder, Lastwagenfahrer oder Passagiere sind, sieht man ihnen äußerlich leider nicht an. Einzig Helge gibt sich zu erkennen. Er sei Norweger, erzählt er, und ebenfalls als Passagier an Bord. Er besucht Familienmitglieder in Frankreich, von Gent geht es übermorgen weiter nach Dünkirchen. Warum, wenn er auch von Oslo nach Paris fliegen kann, wollte die Familie von ihm wissen. Ist das billiger? Nein, im Gegenteil. Er wollte es einfach mal ausprobieren. Von der Crew hat übrigens auch Helge bislang noch niemanden getroffen. „Perhaps tomorrow”, zuckt er mit den Schultern. Die BEGONIA SEAWAYS: ein Geisterschiff.
Unermüdlich fahren aber die Tugmaster am Abend einen Trailer nach dem anderen an Bord. Das achtere Wetterdeck ist schon voll, das vordere füllt sich zusehends, gut zu beobachten durch das Fenster in der Cafeteria. Bei der FICARIA SEAWAYS nebenan ist diese Prozedur bereits abgeschlossen, sie macht sich um kurz vor 20 Uhr auf ihren Weg nach England. Kurz vorher hatten auch die STENA DANICA und die STENA SCANDINAVICA Göteborg verlassen und die STENA GOTHICA passiert uns um 21 Uhr, als es schon fast dunkel ist. Göteborg ist Skandinaviens bedeutendster Import-/Exporthafen, davon zeugen auch die BALTICA und die SLINGEBORG, die weiter vor uns festgemacht haben. Die BEGONIA SEAWAYS schiebt sich mit einiger Eleganz an ihnen vorbei, als sie an diesem Septemberabend pünktlich um 23 Uhr ebenfalls aus Göteborg ausläuft. Ohne ein „Willkommen an Bord”, ohne eine Durchsage. Ganz Frachtschiff eben.
Über die Nordsee
Während der Nacht rattert die BEGONIA SEAWAYS monoton vor sich hin; wie ein Fischkutter, nur lauter. Verschlafen sollte man auf diesem Schiff aber nicht, denn die Essenszeiten sind rigide. Ein Zettel in der Kabine listet sie auf: Frühstück von 7:30 Uhr bis 8 Uhr, Mittagessen von 12 Uhr bis 12:30 Uhr und Abendessen von 17 Uhr bis 17:30 Uhr. Derlei Zeitfenster sollte man mal auf Kreuzfahrtschiffen einführen! Unterschrieben ist das Ganze übrigens von einem „Chief Steward”, dem man aber auch am Morgen nicht begegnet. Die Nordsee ist da eine trübe blau-graue Suppe; in Aufenthaltsraum und Cafeteria prasselt der Regen gegen die Scheiben. In Sachen Frühstück heißt es überdies „Selbst ist der Mann”. Ein Teller mit Wurst und Käse steht im Kühlschrank in der Ecke bereit, eine Kanne Kaffee (der Tote aufweckt) auf der Anrichte, den Rest sucht man sich zusammen. Sogar Verhaltensmaßregeln gibt es für die Mahlzeiten: Angemessene Kleidung tragen, nicht mehr als einen Stuhl belegen, kein Essen horten. Wie mag es hier zugegangen sein, als es diese Vorschriften noch nicht gegeben hat?!
Die Crew frühstückt derweil hübsch getrennt von Helge und mir auf der anderen Seite der Küche. Als wir fertig sind, stellen wir alles zurück an seinen Platz, wischen wie geheißen unsere Plätze ab und sind für den Rest des Vormittags wieder allein. Immerhin hört der Regen irgendwann auf. Das dürfte auch die Besatzung des einsamen kleinen Fischerbootes freuen, dem wir begegnen. Wir müssen querab von Hanstholm sein, gleich liegen Schweden und Dänemark hinter uns. Bordunterhaltung? Keine. Ein Pool? Nein. Sport und Wellness? Gibt es an Bord auch nicht. Nur Sofa und Bett in der Kabine und rings um das Schiff die weite Nordsee. Offline ist man außerdem. Entschleunigung, das Zauberwort der Generation Y, hier wird sie erlebbar. Man kann ein Buch lesen, Mittagsschlaf halten oder auch einfach gar nichts machen. Ein Seetag auf einem Frachtschiff in der Nordsee ist der perfekte Moment zum Abschalten.
Zu Mittag gegessen wird im Gegensatz zum Frühstück zusammen mit der Crew. Es wäre auch albern, von allem zwei kleine Portionen von der Crew-Messe hinüber zur Cafeteria zu tragen. Es gibt Hähnchenschnitzel mit Spaghetti und Pilzsauce, auch dies wird man auf einer AIDAprima eher vergeblich suchen. Geredet wird dabei aber kaum, und wenn, dann spricht die Besatzung miteinander, und zwar in Dänisch oder Schwedisch. Ich halte mich an Helge, der, aus Oslo stammend, einiges zu erzählen hat zum Thema Schiffe und Schiffsreisen. Mit DFDS habe er zuletzt eine Mini-Kreuzfahrt nach Kopenhagen unternommen, erzählt er. In der Commodore Class war das, auch dies ein gewaltiger Unterschied zur eher rustikalen BEGONIA SEAWAYS. Seekrank geworden sei er aber bisher nur einmal. Das war auf der NARVIK von Hurtigruten. Schnell sind wir so beim Thema Kreuzfahrten und dabei, welche Sorgen den Norwegern die vielen Kreuzfahrtschiffe inzwischen machen. Geld ließen die Kreuzfahrtgäste nämlich kaum an Land, dafür umso mehr Müll und Abgase. Dabei wolle man doch die Fjorde ruhig und sauber haben. In seiner Heimatstadt Oslo hat man das bereits geschafft, erzählt Helge stolz. So sei es früher nicht empfehlenswert gewesen, in Drøbak zu baden, dem Innenstadt-Hafenbecken der norwegischen Hauptstadt. Heute befindet sich dort ein Freibad, genau gegenüber dem Fähranleger von DFDS. Die Frachtfähren hat man aus der Innenstadt verbannt, die Werften sind eh schon lange Geschichte, und die Fjordfähren fahren seit einigen Jahren mit LNG oder Batterie. Anderswo dagegen werde in seiner Heimat die maritime Tradition noch gepflegt. So muss der norwegische Linie Akvavit noch immer im Bauch der Frachter der Reederei Wilhelmsen einmal um die Welt fahren und dabei zweimal den Äquator (die „Linie”) überqueren, ehe er in den Verkauf darf. Der Name des Schiffes, mit dem die Flasche gefahren ist, steht dann zur Erinnerung auf dem Etikett. Ein Exemplar, das er seiner Familie in Frankreich mitbringt, zeigt mir Helge stolz zum Beweis. Einer anderen Tradition zufolge haben die Schiffe der Reederei Fred. Olsen früher jedes Mal gegrüßt, wenn sie den Hauptsitz des Reeders im Osloer Vorort Hvitsten passierten. Zurückgegrüßt wurde dann natürlich auch – man dippte die Flagge, wie der Seemann sagt. Das musste allerdings schnell gehen, und so konnte diese ehrenvolle Pflicht auch schon mal dem Gärtner oder Hausmeister zufallen …
Über derlei Anekdoten vergisst man schnell die Zeit an Bord, doch auch die moderne Seefahrt übt natürlich Faszination aus. Und da ein Schreiben auf der Kabine besagt, dass Besichtigungen der Kommandobrücke über den Steward arrangiert werden können, spreche ich das Thema vorsichtig an, just als sich die Mittagsgesellschaft auflöst. „Yes, just come with me”, kommt da etwas überraschend als Antwort, und kaum habe ich den letzten Bissen heruntergeschluckt, stehe ich auch schon ein Deck höher in besagtem heiligen Zentrum des Schiffes.
Seefahrtsromantik anno 2018
Die Wache hat gerade der Erste Offizier, dem Aussehen nach keine 30 Jahre alt. Seit anderthalb Jahren ist er auf der BEGONIA SEAWAYS, davor war er bereits auf den Passagierfähren PEARL SEAWAYS und KING SEAWAYS sowie auf den Begonia-Schwesterschiffen PETUNIA SEAWAYS und MAGNOLIA SEAWAYS angestellt. Der Unterschied zwischen Passagier- und Frachtfähren? Auf den Passagierschiffen von DFDS ist das Aufgabengebiet breiter gefächert, erzählt er. Dort sei man als Offizier z. B. gleichzeitig auch Aushilfsarzt. Und das bedeutet nicht nur die Behandlung von Schürfwunden, sondern schließe auch mal das Nähen von Platzwunden oder Wiederbelebungsmaßnahmen mit ein. Das korrekte Stauen der Ladung sei dafür auf den Frachtfähren anspruchsvoller. Zum Vergleich: Die PEARL SEAWAYS verfügt über eine Kapazität für gerade mal 1.000 Lademeter, die BEGONIA SEAWAYS dagegen für fast 5.000 Meter. Die Neuwagen unten im Schiff seien übrigens fast ausnahmslos Volvos, erläutert er weiter. Die Standorte des schwedischen Autokonzerns befinden sich sowohl in Göteborg als auch in Gent praktisch direkt neben den DFDS-Anlegern, Volvo ist einer der wichtigsten Kunden der Reederei. Und da die Autoindustrie seit vielen Jahren nach dem Just in Time-Prinzip produziert, dürfen sich die DFDS-Fähren auf der Route keine Verspätungen erlauben. Einen wichtigen Teil der Arbeit auf der Brücke nimmt daher die Routenplanung ein, zumal Gent nicht direkt am Meer liegt, sondern über einen Kanal und eine Schleuse mit dem niederländischen Nordsee-Ort Terneuzen verbunden ist. Fährt die BEGONIA SEAWAYS zu schnell, verbrennt sie unnötig Treibstoff (und Geld), fährt sie zu langsam, ist sie womöglich ihren „Slot“ (ihr Zeitfenster) für die Schleusung los. Nach aktuellem Stand kommen wir heute Nacht zwischen 1:15 Uhr und 2 Uhr in Terneuzen an, die Geschwindigkeit des Schiffes hierfür liegt mitunter bei über 22 Knoten. 25 schafft sie maximal. Vier Lotsen wechseln sich bis zur Ankunft des Schiffes in Gent ab: Der erste ist vom Eintreffen der Fähre auf der Westerschelde bis VIissingen an Bord, der zweite geleitet die Fähre von Vlissingen bis zur Schleuse in Terneuzen, und zwei weitere navigieren das Schiff über den Zeekanal bzw. zum Anleger in Gent. Auf sechs Knoten Fahrt ist die Geschwindigkeit während der Kanalpassage reduziert.
Nächstes Jahr bekommt die Göteborg – Gent-Route womöglich ein neues Schiff. Gleich sechs Neubauten hat DFDS in China bestellt, auf der niederländisch-belgischen Verbindungsstraße wird es dann allerdings eng: Die Schleuse in Terneuzen ist 34 Meter breit, die neue GOTHIA SEAWAYS und ihre Schwestern 33. Bleibt also nur noch jeweils ein halber Meter Platz bis zur Kanalwand auf jeder Seite – eine maximale Herausforderung für Kapitän und Lotsen. Auf eine überstehende Brückennock hat man bei den Neubauten sicherheitshalber verzichtet, ob und wann sie aber tatsächlich auf der Belgien-Route zum Einsatz kommen, ist noch nicht entschieden. „We’re the last to learn that“, scherzt der Erste Offizier, doch allein wegen der Bauaufsicht in China und der optimalen Vorbereitung der künftigen Besatzung auf ihren Einsatz herrsche bereits jetzt eine hohe Fluktuation im nautischen Bereich bei DFDS. Woran sich so schnell auch nichts ändern wird, denn neben den sechs Frachtfähren hat die Reederei auch noch drei Auto- und Passagierfähren bestellt, ebenfalls in China. Die letzte davon soll Ende 2021 in Fahrt kommen, und dann hat man ja 2018 auch noch UN RoRo aufgekauft, eine der größten Frachtfährreedereien im Mittelmeer. Auch hier soll die geplante Integration der neuen Tochtergesellschaft mitsamt ihrer aus zwölf Schiffen bestehenden Flotte in den nächsten Monaten erfolgen. „There’s no better job than this one“, bekräftigt er aber, auf dem Kapitänsstuhl sitzend, konzentriert die leicht bewegte Nordsee im Blick. Den ganzen Nachmittag mit mir plaudern kann aber auch er nicht, denn es gibt viel zu tun – vor allem Büroarbeit. Die BEGONIA SEAWAYS ist kein Schiff, bei dem man dem Kapitän am Steuerrad die Hand auf die Schulter legen und mit ihm über alte Zeiten klönen kann. Und das ist natürlich auch gut so.
Flower Class 3.0
Ich lasse die Crew in Ruhe ihre Arbeit machen und genieße am frühen Abend die Fahrt über die Nordsee. Am Horizont taucht ab und zu eine Bohrinsel oder ein Frachter auf, hinter mir huscht alle halbe Stunde ein Crewmitglied mit seiner Zigarette für die Raucherpause vorbei. Die Holzbank an Deck ist mit starken Riemen an der Reling vertäut, außerdem stehen hier noch Müllcontainer sowie eine Vorrichtung, die verdächtig nach einem rollbaren Galgen aussieht. Aber das ist auf einem Schiff wie diesem in Ordnung. Nur bei dem hinter der Kommandobrücke in Leuchtbuchstaben angebrachten Schiffsnamen wird das Auge stutzig. BEGONIA steht dort nur. Davor wurde etwas übergeklebt (das TOR aus ihrem alten Schiffsnamen TOR BEGONIA nämlich), der Zusatz SEAWAYS fehlt dagegen. Dabei sind die Zeiten des Schiffes als TOR BEGONIA schon ein paar Jahre vorbei. 2004 bei der Flensburger Schiffbau-Gesellschaft gebaut, wurde die heutige BEGONIA SEAWAYS 2009 bei den Motorenwerken Bremerhaven um 30 Meter verlängert. Um 25 Prozent konnte ihre Reederei damit kurzfristig die Frachtkapazität der Fähre steigern. Ihren aktuellen Namen erhielt sie 2012, als nach der Übernahme der Norfolk Line sämtliche DFDS-Fähren dem neuen „Corporate Branding” angepasst wurden. Doch so etwas zieht sich. Auch auf den T-Shirts und Blaumännern der Besatzung sowie auf den Aushängen und Mittelungen an Bord ist die Reederei-Bezeichnung ein bunter Mix aus „DFDS Tor Line”, „DFDS Seaways” und „DFDS”.
Als ich mich pünktlich um 17 Uhr zu einem für meine Verhältnisse viel zu frühen Abendbrot einfinde, ist das Procedere wieder ein anderes als heute Morgen und heute Mittag. Abholen muss ich mein Essen diesmal in der Crew-Messe, einnehmen dagegen wieder auf der anderen Seite in der Passagier-Cafeteria. Nun denn. In der Messe fällt mein Blick auf das Luftbild eines alten Frachters an der Wand. Es zeigt ein Schiff der ersten „Flower Class”, deren Schiffsnamen DFDS „recycelt” hat. Die erste FICARIA und PRIMULA fuhren zwischen 1951 und 1971 zwischen Kopenhagen, Aarhus und England, die FREESIA (1961), PETUNIA (1963) und MAGNOLIA (1963) zehn Jahre später auf der gleichen Linie. Anfang der 1970er Jahre war die Zeit konventioneller Frachtschiffe wie dieser aber abgelaufen; auch DFDS hatte seine Linien nach England auf moderne RoRo-Fähren umgestellt und die Verbindungen nach England im Nordseehafen Esbjerg konzentriert. Das Blumen-Thema griff man jedoch auf, als man 2001 zunächst drei neue Frachtfähren für die ehemaligen Tor Line-Routen zwischen Göteborg, Immingham und Gent bestellte. Im Laufe der Fertigung wurde die Baureihe auf sechs Einheiten erhöht, die zwischen 2003 und 2006 als TOR MAGNOLIA, TOR PETUNIA, TOR PRIMULA, TOR BEGONIA, TOR FREESIA und TOR FICARIA abgeliefert wurden. Die „Flower Class” 3.0, wenn man so will. Eine Fähre ganz anderer Art kreuzt dagegen um 19:30 Uhr unseren Kurs, doch auch sie führt das Malteserkreuz von DFDS im Schornstein. Es ist die KING SEAWAYS, die um 17:30 Uhr IJmuiden (Amsterdam) verlassen und Kurs auf Newcastle genommen hat. An Bord 1.000 oder mehr Passagiere, die vermutlich gerade feucht-fröhlich ihre Mini-Kreuzfahrt nach England einläuten. Ein paar Minuten, dann verschwindet sie achtern im weißen, dank Scrubber schwefelfreien Qualm aus dem Schornstein unserer BEGONIA SEAWAYS.
Im Schneckentempo nach Gent
Um 2:30 Uhr in der Nacht werde ich wach. Das Rattern und Schaukeln, an das ich mich nach 24 Stunden an Bord gewöhnt habe, hat aufgehört. Stattdessen umgibt eine merkwürdige Ruhe das Schiff. Ich gucke aus dem Fenster, und tatsächlich: Die BEGONIA SEAWAYS ist durch die Schleuse in Terneuzen durch und befährt den Zeekanal. Gleich hinter der Reling ein befestigtes Ufer und darauf eine Straße. Straßenlaternen ziehen im Schneckentempo vorbei, ein beruhigendes Bild. Auf dem Nachttisch erwacht das Smartphone aus seinem ungewohnten eintägigen Koma zum Leben. Ich drehe mich um, drei weitere Stunden darf ich noch schlafen.
Dann ist aber Schluss, denn um 5:45 Uhr klopft es ziemlich unsanft an die Tür. „We pick you up in 15 minutes”, schallt es mir entgegen. Gut, dass ich vorab vereinbart hatte, mich erst um 8 Uhr an Bord abholen zu lassen, dann nämlich wartet noch ein Interview mit dem hiesigen DFDS-Direktor auf mich. Solange kann ich noch den Beginn des Entladevorgangs beobachten. Trailer um Trailer leert sich erst das vordere, dann das achtere Wetterdeck. Acht Stunden dauert es, die BEGONIA SEAWAYS komplett zu ent- und beladen, fast zehn Kilometer rollende Ladung werden dabei bewegt. Um 14 Uhr schließlich wird sich das Schiff wieder auf den Rückweg nach Göteborg machen – eine Rotation, der die Fähren der „Flower Class” ganzjährig folgen. Nur montags ist die Liegezeit in Göteborg etwas länger. 16 Stunden sind es dann, die Reparaturen und Wartungsarbeiten an Bord erlauben, welche im Tagesbetrieb nicht möglich sind.
Mit dem Frachter über die Nordsee – ein Erlebnis, das mit keiner normalen Fährüberfahrt und erst recht mit keiner Kreuzfahrt vergleichbar ist. Für 30 Stunden ist man plötzlich nicht mehr der Mittelpunkt des Schiffsbetriebs, sondern nur Beiwerk. Denn auf den RoRo-Fähren von DFDS bestimmt die Fracht Fahrpläne und Bordabläufe. Das alles betrifft uns in Deutschland nicht, könnte man nun einwenden. Doch weit gefehlt! Denn selbst wer keinen Volvo besitzt oder auf dem Weg zur Arbeit nicht in einem Bus made by Scania fährt, ist zumindest auf Papier angewiesen. Und egal ob Zeitungs-, Buch-, Drucker- oder Toilettenpapier – wenn es aus skandinavischer Produktion kommt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es mit einer DFDS-Frachtfähre von Schweden nach England oder Belgien gefahren ist, ehe Sie es gekauft oder benutzt haben. Denken Sie beim nächsten Mal daran. www.dfds.com
Technische Daten und Steckbrief MS BEGONIA SEAWAYS
Bauwerft: Flensburger Schiffbau-Gesellschaft (FSG); Im Dienst: seit dem 06.09.2004; Ex-Namen: TOR BEGONIA (bis Juli 2012); Flagge: Dänemark; Heimathafen: Kopenhagen; Tonnage: 37.722 BRZ; Länge: 230,38 Meter; Breite: 26,50 Meter; Tiefgang: 7,40 Meter; Passagiere: 12; Fracht : 4.731 laufende Meter; Besatzung: 17; Leistung: 20.070 kW; Höchstgeschwindigkeit: 25 Knoten.
Die maritime Skyline Göteborgs. Am Fuß des markanten rot-weißen Kongresshochhauses „Skanskaskrapan” haben diverse historische Museumsschiffe festgemacht. Fotos: Kai Ortel, Berlin
Trailer so weit das Auge reicht. Blick über den Frachthafen Göteborgs mit der DFDS-Fähre FICARIA SEAWAYS am Anleger
und dem Gelände der Firma Volvo im Hintergrund.
Im vorderen Teil des Frachtdecks der BEGONIA SEAWAYS haben Neuwagen aus Volvo-Fertigung Platz gefunden. Der schwedische Autobauer ist einer der größten Kunden an Bord der DFDS-Frachtfähren.
Funktional, aber komfortabel: Einzel-Außenkabine an Bord der BEGONIA SEAWAYS.
An prominenter Stelle auf dem Außendeck weist das Werftschild der ehemaligen TOR BEGONIA auf die deutsche Herkunft
der Fähre hin.
Abfahrt der Englandfähre. Drei Stunden vor der BEGONIA SEAWAYS nimmt am Abend das Schwesterschiff FICARIA SEAWAYS in Göteborg Kurs auf Immingham.
Nordischer Minimalismus: die Cafeteria an Bord. Die Fenster blicken in Fahrtrichtung auf das vordere Wetterdeck der BEGONIA SEAWAYS.
Im einzigen Aufenthaltsraum an Bord können sich die Passagiere die Überfahrt mit Lektüre, Spielen und Fernsehen vertreiben.
Die moderne und geräumige Kommandobrücke der BEGONIA SEAWAYS.
Die Aussicht des Kapitäns. Bei Regenwetter steuert die BEGONIA SEAWAYS während des Seetages der belgischen Küste entgegen. Über die Nordsee befördert DFDS hauptsächlich unbegleitete Fracht.
Die BEGONIA SEAWAYS hat in Gent festgemacht. Innerhalb von acht Stunden wird das Schiff hier ent- und wieder beladen.
Der Anleger befindet sich – wie in Göteborg – direkt neben dem Werksgelände der Firma Volvo.
Im Hause DFDS gehen Schifffahrt und Logistik traditionell Hand in Hand. Die „Door-to-Door”-Dienste der Reederei
ermöglichen Transportketten über die Grenzen von Ländern und Kontinenten hinweg.
Der spätmittelalterliche Kern der Stadt Gent ist immer eine Reise wert. Viele alte Gildehäuser sind liebevoll restauriert und stammen noch aus dem 15. und 16. Jahrhundert.