FRACHTERREISE · AUSGABE 3/2019
Die Erfahrung, dass auf einem Schiff nicht erlebnisüberschüttet gereist, sondern reisend gelebt wird, ließe sich vielleicht auch auf einer Kreuzfahrt über die Ozeane machen. Doch auf den Kreuzfahrtschiffen lebt es sich ganz anders, als auf einem Frachter, nicht nur des größeren Komforts wegen. Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund
Dr. Walter Günther
Frachterreise
Reiseführer sind gefragt, Reiseerfahrungen zumeist nicht. Dass ich wider diese Einsicht es wage, Langeweile zu verbreiten, ist auf den merkwürdigen Umstand zurückzuführen, dass mehrere Freunde sich neugierig danach erkundigt haben, wie denn meine Reise auf einem Container-Frachtschiff über die halbe Erdkugel verlaufen sei, von Rotterdam nach Auckland, vom alten holländischen Zeeland nach New Zealand. Die Fahrt ging zunächst durch den Ärmelkanal nach Le Havre und Dünkirchen, dann über den Atlantik nach New York, entlang der nordamerikanischen Ostküste zu den Häfen Norfolk (Virginia) und Savannah (Georgia), weiter in die Karibik, durch den Panamakanal, über den schier endlosen Pazifik nach … Frankreich – genauer: nach Tahiti im departement de l’outre mer Polynésie Française. Von dort ging es weitere fünf Tage südwestwärts zum schönsten Land der Welt, jedenfalls nach Meinung fast aller, die es schon gesehen haben.
Niemand will dagegen wissen, wie es mir auf zweimal zwölf Stunden Rückflug ergangen ist. Flüge sind längst jedermanns belangloser Reisealltag. Auffällig bin ich nur geworden, weil ich mich statt ins Flugzeug auf einen Frachter begeben habe. Das hat mir offenbar den Ruf verschafft, ich unternähme Ungewöhnliches, mit einem Hauch von Abenteuer umgeben. Mehr Aufsehen hätte ich allenfalls erregt, wenn ich in einer Raumkapsel entschwunden wäre.
Leider muss ich enttäuschen: Kein Seeabenteuer war zu bestehen, nichts geschah, was unterhaltsam aufregend gewesen wäre. Wohl kein anderes Transportmittel ist heutzutage so ungefährlich, wie dieses Vehikel, das schon seit Jahrtausenden benutzt wird, inzwischen zu einem mächtigen stählernen Ungetüm mutiert. Mein Frachter passte mit 210 Meter Länge und 30 Meter Breite eben noch in die Schleusen des Panamakanals, konnte voll beladen 2.600 Normcontainer (TEU) befördern und war mit allen Raffinessen moderner Technik ausgerüstet. In der wogenden See vor Neufundland mit mehr als fünf Meter hohen Wellen wurde die Schaukelei durch Stabilisatoren besänftigt und so vermieden, dass die wertvollen Container über Bord und die Schläfer aus den Betten flogen. Hätten die auf den Bug prallenden Brecher aus Kreuzseen nicht den Effekt einer Vollbremsung mit dem Auto gehabt, wäre meine Nachtruhe köstlich gewesen. – Anders als die TITANIC, die einige Breitengrade südlich unserer Route unterging, war unser Schiff fortschrittsgemäß mit Radar versehen und ein unangenehmer Eisberg wäre rechtzeitig geortet worden. Und als wir einige Tage später am berüchtigten Bermuda-Dreieck vorbei schipperten und danach in der Karibik dort, wo einige Monate zuvor die Hurricanes getobt hatten, lag uns die See in himmelsblau sommertäglicher Unschuld ruhig zu Füßen; auf den zwölftausend pazifischen Kilometern ab Panama gab sich der Stille Ozean so, wie er heißt. – Piraten waren auf der Westroute nach New Zealand ohnehin nicht zu befürchten. – Meine Frau hatte befürchtet, ich würde in den Bars am Savannah River versacken, deren morbide südstaatliche Reize gerühmt werden. Auch dieser Gefahr bin ich leider entgangen, weil ich wegen der kurzen Liegezeit des Frachters aus dem Containerhafen nicht herauskam.
Selbst die Einreise in die Vereinigten Staaten verlief entgegen meinen Erfahrungen bei der Beschaffung des Visums problemlos. Die Immigration Officers kamen an Bord, mein Pass bekam den obligaten Stempel, ohne Verhör und biometrische Vermessung wurde ich mit dem gewöhnlichen kurzen Amtsblick vom Passbild zur Visage gewürdigt – das war’s und das Gelobte Land stand mir offen. Auf den amerikanischen Flughäfen soll es, wie ich gehört habe, weit inquisitorischer zugehen.
Also wäre mangels dramatischer Vorkommnisse weiter über nichts zu berichten – außer über den wenig spektakulären Befund, dass meine Fahrt auf dem Frachter doch anders verlaufen ist, als mit den üblichen Vehikeln. Die Unterschiede hängen mit der äußeren und inneren Befindlichkeit des Reisenden zusammen.
„Ich bin unterwegs, um unterwegs zu sein” – sagt der große Essayist Michel de Montaigne über das Reisen. Ich hatte unterwegs genug Zeit, über diesen bedeutungsschweren Satz nachzudenken. Meine Reise zu Schiff hatte allerdings zunächst andere Beweggründe. Zum einen hatte sie ein konkretes Ziel: Auckland, um unseren dort lebenden Sohn zu besuchen. Zum anderen wollte ich diesen barbarischen Flugmaschinen entrinnen, in denen die Reisenden, eingepfercht wie Hühner in Legebatterien, fast nichts von den Veränderungen der Außenwelt und vom Gefühl der Entfernung mitbekommen. Wer fliegt, wird – wenn ihm überhaupt ein Tagflug mit Fensterplatz vergönnt ist – allenfalls auf verfremdet ferne Landschaften hinab sehen, die flüchtig vorüber gleiten; er landet unvermittelt in einer ganz veränderten Umgebung und hat sich innerlich noch kaum von Zuhause gelöst. Also dachte ich: Auf dem Schiff kannst du bequem die Beine strecken und bekommst ein profundes Gespür für Weite und Wirkung der Entfernungen.
Als ich nach 33 Tagen und 24.000 km Seeweg in Auckland von Bord ging, hatte ich zwar bequem gelebt und eine ungestört herrliche Klausur am schwimmenden Schreibtisch genossen. Aber das Gefühl, besonders weit gereist zu sein, hatte ich keineswegs. Die Außenwelt bestand aus endloser See, Land kam selten in Sicht: die wenigen Häfen mit ihren Einfahrten, bei den Passagen durch Ärmelkanal und Panamakanal, die fernen Küstenlinien Kubas und Haitis, Tahiti nebst Nachbarinseln, einige Südseeatolle. Obwohl der Frachter täglich etwa 900 km zurücklegte – also etwa die Strecke (Luftlinie) von Essen nach Marseille – habe ich davon eigentlich nichts bemerkt. Nichts war zu sehen, woran sich hätte festmachen lassen, wo ich mich befand und wovon ich mich in welcher Zeit wie weit entfernt hatte. Es war nur kartographisch herauszufinden, anhand imaginärer Orte, deren Ortsschilder im Display des Navigationsgeräts auftauchten.
„0° N/ 100° W” hieß etwa der Ort, den wir an einem Nachmittag im Pazifik überquerten, 2.600 km hinter Panama und 5.800 km vor Tahiti. Er war immerhin so bedeutsam, dass sich fast die gesamte Mannschaft auf dem Brückendeck versammelte. Während die Äquatorneulinge, darunter wir Passagiere, mit Pazifikwasser getränkt und übergossen wurden, verlieh uns der Kapitän mit einer feierlichen Ansprache neue Namen nach Sternen, die soeben unsichtbar über uns am Äquatorhimmel standen und – in einer schönen Urkunde verbrieft – in Neptuns Namen das Recht, nunmehr alle Ozeane zu befahren. So bin ich zum zweiten Mal in meinem Leben ungefragt getauft worden, habe es aber diesmal wenigstens bewusst mitbekommen.
Obwohl ich auf einer Art schwimmender Insel lebte, waren allmählich doch Veränderungen zu entdecken, tauchten aus dem scheinbar stets gleichen Bild endloser Weite neue Bilder auf. Wetter, Wind, Licht, Formen und Farben der See und der Wolken veränderten sich. Das Klima veränderte sich, winterlich kalt im Nordatlantik, zunehmend frühlingshaft entlang der amerikanischen Ostküste, tropisch warm zwischen Kuba und Tahiti. – Unvergesslich die Einfahrt nach Le Havre im lichten Dunst des späten Winternachmittags, ein Bild, als hätte Turner es gemalt. Unvergesslich die abendliche Einfahrt nach New York, als noch fern und allmählich näherkommend, die Lichterburg Manhattan funkelnd aus dem Dunkel heraustrat. Und als der Frachter vis-à-vis der berühmten Skyline am East River anlegte, unweit Ellis Island, wo früher die Einwanderer aus Europa landeten und durchgeschleust wurden, darunter auch solche aus zwei Generationen meiner Familien – da hatte ich einiges zu bedenken, was mir, dem sorglos und bequem reisenden Nachfahren erspart blieb: die wochenlange qualvolle Enge im Zwischendeck, die Angst und verzweifelte Hoffnung auf eine neue bessere Existenz beim Aufbruch ins Unbekannte und Ungewisse. – Zurück zu den Bildern: Unvergesslich bleibt mir das leuchtend wogende Blau im mittäglichen Pazifik – wäre ich ein begabter Maler, hätte ich den Rest der Reise damit verbracht, aus meinen Farbtöpfen dieses unglaubliche Blau herauszufinden. Unvergesslich bleiben auch die zauberhafte Fahrt durch den Panamakanal, die pazifischen Mondnächte, die leider meist nur kurzen Landgänge mit durchaus erlebnisreichen Geschichten.
Auch der gestirnte Himmel über mir hat sich sichtbar verändert. Während wir bei zunehmendem Mond südwärts vorankamen, drehte sich die Mondsichel allmählich von rechts nach links und lag in den Tropen waagrecht träge in der Hängematte. Daraus erhob sie sich wieder südlich des Äquators, inzwischen zum Halbmond vollgefressen und nunmehr nach links gebogen. Als am südlichen Horizont das „Kreuz des Südens” auftauchte, nachdem Polarstern und „Großer Wagen” im Norden versunken waren und mittags die Sonne von Norden in mein Kabinenfenster auf der Steuerbordseite schien, wusste ich auch ohne Navigationsgerät, dass wir jetzt auf der Südhalbkugel angelangt waren. In Neuseeland angekommen, hatte ich bereits verinnerlicht, dass ich, der Mittagssonne zugewandt, geradewegs nach Norden, rechts nach Osten, links nach Westen, rückwärts nach Süden schaue, also umgekehrt herum, wie zuhause. Das hat diesmal meinem Orientierungssinn die ständigen Verwirrungen früherer Neuseelandreisen erspart und ich konnte ihn unverstört zur Bewältigung der gleichfalls ungewohnten Umkehrungen des Linksverkehrs gebrauchen.
Unmerklich hat sich auch die zeitliche Befindlichkeit verändert. Reisen westwärts sind Verjüngungskuren. Solche genießt man in meinem Alter gern, und weil sich auf dem Schiff die Verjüngung um zwölf Stunden über einen ganzen Monat hinzog, blieb mir auch der Jetlag erspart, der die Flugreisenden plagt. Aber mein Verjüngungswahn bekam einen herben Dämpfer, als ich im Pazifik über die Datumsgrenze geriet und unversehens um einen Tag gealtert bin, den einzigen garantiert sündenfreien, weil nicht existenten Tag meines Lebens. Meine Frau, naturwissenschaftlich begabter als ich, hält freilich meine Melancholie über den verlorenen Tag für senilen Nonsens: ich sei gar nicht vorzeitig gealtert und von sündenfreien Tagen könne bei mir nicht einmal hypothetisch die Rede sein. Westwärts gegen die Erdumdrehung reisend, hätte ich bei 180° westlicher wie östlicher Länge den Punkt erreicht, an dem sie ihren täglichen Umlauf neu beginnt. Dort sei ich zur gleichbleibenden Uhrzeit – ungefähr elf Uhr vormittags – ohne Zeitverlust in den schon begonnenen nächsten Tag umgestiegen. Wahrscheinlich hat sie recht, wie immer.
Die Erfahrung, dass auf einem Schiff nicht erlebnisüberschüttet gereist, sondern reisend gelebt wird, ließe sich vielleicht auch auf einer Kreuzfahrt über die Ozeane machen. Doch auf den Kreuzfahrtschiffen lebt es sich ganz anders, als auf einem Frachter, nicht nur des größeren Komforts wegen. Auf der Kreuzfahrt spielt der Passagier die Hauptrolle. Seinetwegen findet die ganze Veranstaltung statt und entsprechend wird er rund um die Uhr betreut, verhätschelt, animiert, damit er nur nicht in Langeweile verfällt. Auf einer Frachterreise dagegen spielt der Passagier eine bescheidene Nebenrolle. Er wird eher nebenbei mitgenommen und die Crew hat sich weniger um ihn zu kümmern, sondern hauptsächlich um das Schiff und die Hauptsache, die Ladung aus Containern.
Immerhin bekam jeder von uns Passagieren eine geräumige Einzelkabine, die schlicht ausgestattet alles enthielt, was ein Wohlstandsmensch nötigst braucht. Auch genossen wir das Privileg, in der Offiziersmesse dinieren zu dürfen, deren Design dem diskreten Charme eines Schnellimbiss-Lokals entsprach. Serviert wurde uns dieselbe frugale Kost, die ohne Unterschied von Rang und Stand der gesamten Besatzung verabreicht wurde. Nachdem ich auf dem Frachter ungefähr fünfundzwanzig Hühnerbeine abgenagt habe, braucht auf absehbare Zeit kein Geflügel mehr meinetwegen umgebracht zu werden.
Erstaunlicherweise ist mir der Exkurs ins einfache Leben bestens bekommen. Ich fühlte mich pudelwohl wie seit langem nicht, wurde auch von der Seekrankheit verschont und das ganze Fuder an Medikamenten, mit denen mich meine Familie vorsorglich ausstaffiert hatte, blieb ungenutzt. Und ebenso gut ist mir bekommen, dass ich für einige Zeit aus dem gewohnten in ein ganz anderes soziales Umfeld versetzt wurde.
Der junge, überaus liebenswürdige Kapitän kam aus St. Petersburg, die Offiziere und Ingenieure kamen ebenfalls aus Russland oder sonst aus Osteuropa, die übrigen Mitglieder der achtzehnköpfigen Besatzung waren Filipinos. Alle behandelten uns Exoten, die Passagiere, mit herzlicher Freundlichkeit. Wenn nicht die Lotsen Herren an Bord waren, durften wir jederzeit das Allerheiligste, die Brücke betreten. Geduldig wurde mir auch die dümmste Frage beantwortet. Einige Zeit genoss ich sogar als Landratte eine gewisse Autorität, die erst verfiel, als herauskam, dass ich kein Doktor der Medizin bin. In den Gesprächen habe ich einiges über die Härten des Seemannslebens gelernt, über die Takte four and four – vier Monate ununterbrochener Arbeit auf See und vier Monate arbeitsloser Freizeit bei den Familien, über die Bescheidenheit der Verhältnisse fernab unseres Wohlstands. Sehr beeindruckt hat mich die Fröhlichkeit, vor allem der Filipinos, im Alltag und auf den gelegentlichen gemeinsamen Partys, bei denen ich alter Mann noch gelernt habe, dass es sich bei Karaoke nicht um eine fernöstliche Kampfsportart, sondern um eine besonders hingebungsvolle musikalische Betätigung handelt. Unvergesslich wird mir eine abendliche Grillparty im Pazifik bleiben, die unter einer Art stählerner Laube am Schiffsheck stattfand. Das Konzert der über uns scheppernden Container und unter uns mit 34.500 PS dröhnenden Schiffsmotoren, begleitet vom Getöse aus den Lautsprecherboxen und dem Belcanto aus röhrenden Seemannskehlen war ohrenbetäubend. Jeder Versuch verbaler Verständigung war sinnlos, aber es war überaus lustig.
Ein Frachter bietet zudem ein soziales Experimentierfeld besonderer Art: das Zusammenleben der Passagiere. Wer schon an Gruppenreisen teilgenommen hat, kennt die Sensibilität des Zusammenlebens auf Zeit in einer Gruppe von Leuten, die sich zuvor nie gesehen haben. Ein Ekel kann einem die ganze Reise versauen. Aber die Reisegruppe wird vom Reiseleiter gesteuert, sie ist tagsüber hauptsächlich mit Sehenswürdigkeiten beschäftigt und abends kann man sich aus dem Wege gehen oder zu Mitreisenden setzen, mit denen man sich versteht.
Auf dem Frachter, der ohne Arzt an Bord höchstens zwölf Passagiere befördern darf, gestaltet sich das Zusammenleben weit enger und schwerer entrinnbar, zumal wenn es längere Zeit dauert, wie auf unserer Reise. Wir waren zu viert – drei ältere Herren und eine noch nicht ältere Dame, ein Quartett, das an einem Tisch gemeinsam die täglichen Mahlzeiten einzunehmen hatte und sich auch an Deck ständig begegnete. Alle vier waren in puncto Charakter, Biographie und Lebensanschauung ganz unterschiedlicher Art und darin, wie wir miteinander auskommen würden, lauerte das gefährlichste Risiko der Reise. Leicht hätte es schief gehen können, aber es ging sogar so gut, dass wir uns in viele lange Gespräche verstrickten, öfters uns mit Tischtennis auf schwankender Platte vergnügten und auch die Landausflüge gemeinsam unternahmen. – Vielleicht hat die gegenseitige Annäherung gefördert, dass Reisende entdeckungssüchtig sind. Weil es auf dem Frachter in der spärlichen Außenwelt wenig zu entdecken gibt, werden die Mitreisenden ins Visier genommen. Ich habe jedenfalls an meinen Reisegenossen und durch sie viel entdeckt und gelernt, eine ganz unerwartete Bereicherung.
Noch etwas Besonderes bietet die Frachterreise. Freilich etwas, woran sich die Geister scheiden, je nachdem ein paradiesischer oder ein verfluchter Zustand. Weitgehend sich selbst überlassen, hat der Passagier viel Zeit. Niemand nimmt sie ihm ab, sie ist für den Eigenverbrauch bestimmt. Soviel Zeit für sich selbst ist nicht jedem vergönnt – wem Zeit noch Geld ist, der kann sich eine längere Frachterreise nicht leisten. Und nicht alle können ertragen, dass Zeit so unnütz verschwendet wird. Für unternehmerische Tatmenschen und ähnlich dynamische Naturen, aber auch für solche, die es nicht aushalten, mit sich allein zu sein, könnte das beschäftigungs- und ereignislose Leben auf dem Frachter leicht zur Hölle werden.
Wahrscheinlich hätte auch ich es früher auf diesem Kahn nicht ausgehalten, in den stressigen Berufsjahren, in denen meine Zeit für so vielerlei verbraucht wurde, dass mir fast nichts mehr davon blieb. Aber jetzt, von alledem befreit, war sie wunderbar, diese wieder gewonnene Fülle an eigener Zeit. Ich konnte sie auf meiner schwimmenden Insel darauf verschwenden, auch im Kopf unterwegs zu sein, ohne Blick auf die Uhr und ungestört nachdenkend zu stromern, wohin es mich trieb. Schreibend, was immer mir einfiel, lesend und hörend durch Bücher, durch Musik zu reisen, durch den Kosmos einer Mozart-Oper, von einer Entdeckung zur andern.
Wohl möglich, dass ähnlicher Genuss viel eigener Zeit auch woanders zu finden wäre: Etwa im Kloster, im Knast, in einem einsamen Urlaubsdomizil, vielleicht sogar zuhause bei abgeschaltetem PC, Phone und TV. Aber der Genießer schätzt die feinen Nuancen der Zubereitung; eben die waren hier anders als anderswo.
Und dazu ließe sich, was Montaigne sagt, für den Seereisenden so variieren: Auf der schwimmenden Insel des Schiffs bleibend, bin ich äußerlich unterwegs, um innerlich unterwegs zu sein, wohin immer die freie Muße ihren Kurs richtet. Wer das erleben will, begebe sich auf einen Frachter.