FINNLAND-WINTER · AUSGABE 2/2019
Blaue Stunde an einem Winterabend mit Weihnachtsbeleuchtung an einem kleinen See in Finnland. Fotos: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund
Dr. Peer Schmidt-Walther
Kurs Nord in den Winterwald
Wirtschaft und Tourismus sind in Finnland eng verzahnt
Banger Blick zur Wetter-App: wird’s oder wird’s nichts mit dem Start in den hohen Norden? Seit Tagen rauscht ein riesiges Tiefdruckgebiet vom Atlantik her übers Land. Mit Regen natürlich, denn Winter gibt es hier – „dank” Klimaerwärmung – anscheinend nicht mehr.
Doch auf 61°N 25°E mit Sicherheit. Es geht dahin, wo es „dunkel und kalt” sei, wie Bekannte mitleidig meinen, „und hinter jedem Baum Elch, Wolf oder Bär lauern”.
Im Januar kurzfristig einen preiswerten Fährplatz von Deutschland nach Finnland zu bekommen, ist kein Problem. „Da muss man schon ein bisschen verrückt sein”, meint die Reederei-Dame, und man sieht ihr förmlich ein schiefes Grinsen an und wünscht ironisch „frohes Zittern!”
Bepackt mit Proviant für eine Woche rollt der Wagen schließlich im Seehafen Rostock über die große Heckklappe auf den finnischen RoRo-Frachter SEAGARD. Als einziger. Ringsum eingekeilt von dreiachsigen LKW-Trailern. Die Begleitmusik im riesigen Laderaum ist infernalisch: Spannketten klirren, Motoren heulen auf, Reifen quietschen. Arbeitslärm eben.
So ist das allwöchentlich vor der knapp 40-stündigen Überfahrt nach Kotka im Finnischen Meerbusen nicht weit von der russischen Grenze.
„Wir sind keine RoRo-Fähre, sondern ein Frachter!”, betont nicht ohne Stolz der finnische Kapitän der SEAGARD, „denn wir transportieren ausschließlich Ladung”. Dennoch können sich die Fernfahrer wie auf einer Passagier-Fähre fühlen, allerdings ohne Massenbetrieb.
Der Lotse steigt ab, dann legt sich die 15.600 kW-Maschine ins Zeug. Beginn der Seereise mit Kurs Nordost: erst mal mitten durch die Kadetrinne, die gefährlichste Engstelle der Ostsee. Rund 60.000 Schiffe – Tendenz steigend – zwängen sich zwischen Rostock und Gedser durch das gewundene, enge Fahrwasser. „Wenn es hier auf dem schmalen Tiefwasserweg nur zu einem Maschinenausfall oder Ruderversager kommt”, meint der Kapitän, „könnte eine Kollision für die Küsten verheerend sein”. Wie es kürzlich dem Schwesterschiff BORE BANK beim Einlaufen in den Rostocker Seekanal ergangen ist. Zum Glück strandete der steuerlose RoRo-Frachter im Sand des flachen Wassers kurz vor der Einfahrt.
Weiter geht es schließlich am Darß entlang bis zur leuchtfeuerblitzenden deutschen Nordost-Spitze von Kap Arkona auf Rügen. Der Chief lässt es sich nicht nehmen, durch den „Keller” zu führen. Ein 12.600 kW-Diesel bringen die SEAGARD in Fahrt: auf bis zu 21 Knoten. In 24 Stunden werden so rund 40 Tonnen Schweröl verbraucht. Das ist rund siebeneinhalb Mal weniger, als wenn die Trailer mit 500 PS-Zugmaschinen über Land donnern würden. „From road to sea!”, lautet denn auch das Motto der Reederei Spliethoff/Transfennica, um die Straßen zu entlasten.
Poltern am zweiten Morgen um fünf Uhr früh. Als würde jemand mit einem riesigen Vorschlaghammer gegen die Bordwand donnern: wumm, wumm-wumm, wumm – in immer kürzeren Abständen und härter. Bis es mir wie Schuppen von den Augen fällt: Treibeis, das winterliche Finnland klopft an. Für den 153 Meter langen 10.000-Tonner mit höchster finnisch-schwedischer Eisklasse ein Kinderspiel, als würde er durch Sahne marschieren. Mit Schlaf ist es vorbei, draußen herrscht subarktische Finsternis. Durch das Bullauge fingern Scheinwerferbündel. Erster Blick von Deck: auf die gewaltigen Dampfschwaden einer gegenüber liegenden Papierfabrik, auf Holzberge und tonnenschwere Papierrollen in den Lagerhallen. Die Hauptladung für MS SEAGARD.
„Finnland steht auf einem Holzbein”, heißt denn auch das geflügelte Wort. 200.000 Quadratkilometer oder 65 Prozent des sechstgrößten Landes Europas werden insgesamt forstwirtschaftlich genutzt. Jedes vierte weltweit verfügbare Stück Papier stammt aus dem Land der 187.888 Seen. Und diese Mengen, ob Bauholz, Zellulose, Karton oder Zeitungspapier – übrigens auch für die „Ostsee-Zeitung” – müssen kostengünstig abtransportiert werden: zu Schiff natürlich. Immerhin trägt die Bewirtschaftung des Waldes mit über 30 Prozent zum Außenhandel bei und sichert etwa einem Zehntel der Bevölkerung das Einkommen. Zehn Prozent heimst der Tourismus ein. Wobei Naturgenuss in Finnland obenan steht.
Das Navi dirigiert einen von Kotka in rund dreieinhalb Stunden brav nach Torittu, wo Kirsti und Rauno Hännikäinen auf ihrem Bauernhof wohnen, Land- und Forstwirtschaft und auch drei Ferienhäuser betreiben.
Hügelauf, hügelab durch tief verschneiten Fichtenwald, der mit tonnenschweren Felsbrocken aus der letzten Eiszeit garniert ist. Nach rund vier Kilometern ist das Ziel am Ende des Stichweges erreicht: „kellokukka” heißt das rustikale Blockhaus auf Finnisch, zu Deutsch: „Glockenblume”.
Nach einem Einweisungs-Rundgang wünscht Rauno nur „viel Spaß!” Dann ist man allein im Wald, durch den der tiefer gelegene See mit weißer Schneedecke schimmert. Die Bäume salutieren unbeweglich. Einziges „Geräusch”: das Blutrauschen in den Ohren. Ruhe und Stille sollen das wertvollste Gut der Neuzeit sein. Hier gibt es zweifellos jede Menge davon. Von wegen Dunkelheit: Als sich nach 16 Uhr die Sonne hinter dem Waldrand des kleinen zugefrorenen Sees mit dem hübschen Namen Keskinen Humaljärvi verabschiedet, glüht der Himmel noch lange nach und lässt seine Farben spielen. Das Thermometer fällt in lähmende Tiefen. „Pakkanen paukkuu”, sagen die Finnen, „der Frost klirrt”. Das Holzhaus knackt, knirscht und ächzt so heftig, als würde sich die Kälte in die Wände verbeißen. Doch bald knistert das Feuer im Kamin. Zeit, um die Sauna am Seeufer anzuheizen. Minuten später wehen tannenwürzige Rauchschwaden herauf. Dann kommt der entscheidende Augenblick: hüllenlos die dreißig Stufen zum Schwitzhäuschen herab tasten. Von minus 26 auf plus 90 Grad – ein echtes Kontrastprogramm! Nach fünfzehn Minuten stürzt man aufgeheizt und schweißüberströmt ins Freie. Schlagartig ändert man seinen Aggregatzustand und löst sich zu einer dampfenden Wolke auf. Der wadenhohe Schnee knirscht unter den nackten Füßen auf dem Trampelpfad zum Steg. Rauno hat vorgesorgt und mit seiner Spezialsäge ein Loch in den See geschnitten, das aber längst wieder zugefroren ist und ständig freigehackt werden muss.
Einmal im Leben Eisschwimmen, hat man sich geschworen. Bis es tatsächlich so weit ist: Ab in das schwarze Loch, ein paar Atemzüge untergetaucht und wieder raus. Zwei Körperrollen im noch kälteren Schnee und ich bin rot wie ein aus kochendem Wasser gezogener Krebs. Du fühlst dich wie neugeboren. Das ist nordisches Anti-Aging oder finnischer Jungbrunnen!
Am Ende der winterlichen Schnupper-Woche kann man zurück an Bord der SEAGARD, die durchs Hafeneis von Kotka poltert, zufrieden feststellen: „Das war cool!” Näkemiin! Und Tschüß bis zum nächsten Mal!
Informationen
MS SEAGARD: Ro-Ro-Papier- und Trailerfrachter, Baujahr: 1999, Bauwerft: J. J. Sietas, Hamburg, Länge: 153,45 m, Breite: 20,60 m, Tiefgang (maximal): 7 m, Vermessung: 10.471 BRZ, Maschine: 1 x Wärtsilä 12.600 kW, Geschwindigkeit (maximal): 21 Knoten, Lademeter: 1.624 m, Container: 303, Heimathafen: Mariehamn, Flagge: Finnland, Frachterreise-Anbieter: www.zylmann.de
Verschneites Trailerdeck im Ostsee-Sonnenschein.
Fahrt auf einsamer finnischer Waldstraße nach Norden.
Beleuchteter Baum im Mondschein vor einem Gehöft.
Die Hütte ist bei der Ankunft gemütlich beleuchtet.
Einsam und tief verschneit ist unserer Hütte im Wald.
Morgendlicher Blick nach Süden von der Terrasse aus.
Hütten-Besitzer Rauno räumt die Zufahrt zum Haus.
Um 15 Uhr geht die Sonne langsam unter.
Am Abreisetag Rückfahrt durch den Wald nach Kotka.
Freudige Begrüßung vor der Rückreise im Hafen von Kotka.
Die dampfende Papierfabrik am Hafen von Kotka.