KOMMENTAR · AUSGABE 2/2020
Kai Ortel und Christian Eckardt
Geisterfahrten mit Vollpension
Es ist der Alptraum jeder Kreuzfahrtreederei: ein Kreuzfahrtschiff, das nicht fährt. Und zwar nicht, weil es planmäßig im Hafen oder in der Werft liegt, sondern weil es aufgrund äußerer Umstände zur Untätigkeit gezwungen ist. Dieser Fall kam in der Vergangenheit selten vor, da der Dauer-Boom der Branche dafür gesorgt hat, dass mit Kreuzfahrten praktisch immer und überall gutes Geld zu verdienen war. Doch damit könnte jetzt Schluss sein, zumindest in einem Teil der Welt.
Denn was weder die Terroranschläge vom 11. September 2001 geschafft haben noch die diversen Krisen im Nahen und Mittleren Osten, weder die Havarie der COSTA CONCORDIA noch der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull – dem Corona-Virus (wissenschaftlich SARS-CoV-2) könnte diese zweifelhafte Ehre zuteilwerden. Egal ob Naturkatastrophen oder geopolitische Verwerfungen, egal ob schlechte Auslastungen, Streiks oder andere Widrigkeiten: der Vorteil der Kreuzfahrtindustrie ist bisher immer gewesen, dass sie ihre Schiffe zur Not auch ziemlich kurzfristig umrouten konnte, um so den möglichen Konsequenzen dieser Ereignisse aus dem Weg gehen.
Beim Corona-Virus geht das nicht, und so ziehen in diesen Tagen dunkle Wolken über der Kreuzfahrtindustrie auf, während sich die Hiobsbotschaften aus Häfen wie Hongkong, Taiwan und Yokohama überschlagen. In Yokohama wurde am 4. Februar die DIAMOND PRINCESS mit knapp 2.700 Passagieren an Bord unter Quarantäne gestellt, nachdem ein Gast der vergangenen Reise im Anschluss daran positiv auf das Virus getestet worden war. Am Ende der zweiwöchigen Quarantäne hatten sich 634 Personen mit dem Virus infiziert, drei Personen starben daran. Zu diesem Zeitpunkt war die DIAMOND PRINCESS bereits der größte Virus-Herd außerhalb Chinas, auf dem sich die Keime allem Anschein nach eher verbreiteten, als dass sie durch die Maßnahme eingedämmt wurden. Währenddessen ereilte die WORLD DREAM am 5. Februar mit 1.800 Passagieren an Bord in Hongkong dasselbe Schicksal; auch dort waren Passagiere der vorangegangenen Reise im Nachhinein positiv auf das Corona-Virus getestet worden. Auf der WORLD DREAM wurden daher alle Passagiere getestet, ein weiterer Verdachtsfall wurde jedoch nicht öffentlich, so dass die Quarantäne nach vier Tagen wieder aufgehoben wurde.
Anderen Schiffen wiederum wurde nach dem Ausbruch des Corona-Virus auf dem chinesischen Festland das Anlaufen diverser fernöstlicher Häfen verweigert. So verließ die WESTERDAM am 1. Februar Hongkong, wurde anschließend aber sowohl auf den Philippinen und in Taiwan als auch in den fünf vorgesehenen japanischen Zielhäfen abgewiesen. An Bord befand sich zu diesem Zeitpunkt kein einziger Verdachtsfall, die immer gleiche Maßnahme wurde allein aufgrund der Tatsache verhängt, dass in Hongkong ein Teil-Passagierwechsel stattgefunden hatte. Die Carnival Corporation schaltete sogar das State Department im fernen Washington ein, um wenigstens eine Anlaufgenehmigung für die WESTERDAM am Luftwaffenstützpunkt der US Air Force in Guam zu erhalten. Doch selbst dort wurde das Schiff abgewiesen. In Thailand erhielt der Holland America-Liner ebenfalls keine Genehmigung; die Geisterfahrt der WESTERDAM endete erst am 12. Februar im kambodschanischen Hafen Sihanoukville.
In der zweiten Februarwoche waren sämtliche Kreuzfahrten ab chinesischen Festlandhäfen eingestellt, davon betroffen waren die Reedereien Astro Ocean Cruises (1 Schiff), Costa Crociere (4 Schiffe), Royal Caribbean (1 Schiff), Bohai Cruises (1 Schiff), MSC Cruises (1 Schiff) und Genting (4 Schiffe). NCL sagte am 13. Februar die komplette geplante Asien-Saison der frisch umgebauten NORWEGIAN SPIRIT sowie die Singapur-Reisen der NORWEGIAN JADE ab; Celebrity Cruises folgte wenig später mit der Annullierung der Fernost-Reisen der CELEBRITY MILLENIUM. Wieder andere Reedereien, darunter Phoenix Reisen und AIDA Cruises, mussten kurzfristig umrouten oder sind gegenwärtig noch dabei, dies zu tun. Mitte Februar waren nämlich nicht nur Hongkong, Shanghai und andere chinesische Festlandhäfen für Kreuzfahrten geschlossen, sondern auch Taiwan, Singapur, Manila und sogar das ferne Tonga. Ein Kreuzfahrt-Markt, der noch vor kurzem als der zweitwichtigste nach dem amerikanischen gehandelt wurde, steht still. Und mit ihm die Schiffe, die zur Untätigkeit verdammt sind, während ihnen Einnahmen in Millionenhöhe entgehen.
Laut dem Kreuzfahrtportal „Cruisemarketwatch” erzielt allein die DIAMOND PRINCESS jährliche Einnahmen von 362 Mio. $, also knapp 1 Million $ pro Tag. Da verwundert es nicht, dass die Carnival Corporation am 12. Februar verlauten ließ, die abgesagten Fahrten hätten in der Tat einen „material impact on its financial results”. Ebenso Royal Caribbean, dort warnte man einen Tag später in ähnlicher Weise vor möglichen negativen Auswirkungen auf das nächste Jahresergebnis. Der Wert der Carnival-Aktie ist seit Dezember zwischenzeitlich um 17% gefallen, der der Royal Caribbean-Aktie um 16% und der der NCL-Aktie um 10%. Im Glück ist plötzlich, wer keine Schiffe in China hat.
Und glaubt man einem Artikel der „New York Times” vom 12. Februar, brechen inzwischen auch die Vorausbuchungen für die kommenden Monate ein – und zwar unabhängig vom Fahrtgebiet. Umfragen in Reisebüros zufolge beträgt der Buchungsrückgang aktuell 10 bis 15%. Die Zeitung nennt das Corona-Virus einen „Public Relations-Alptraum” und sieht in ihm sogar die größte Herausforderung, vor der die Kreuzfahrtbranche jemals gestanden hat. Doch nicht nur die Kreuzfahrtreedereien kämpfen mit den Folgen von SARS-CoV-2. Als Ende Februar Erkrankungen in Italien gemeldet wurden, brachen auch die Wertpapiere von Fluggesellschaften und Touristikkonzernen ein – die Aktien reagierten auf die Sorge um die Folgen der Ausbreitung des Corona-Virus mit kräftigen Einbußen. So gaben die TUI-Aktie um gut 10%, Lufthansa-Papiere um 8,5% und die Anteile von Easyjet um 15% nach. Dabei hatten die Börsen das Corona-Virus fast schon abgehakt. Doch die jüngsten Erkrankungen in Italien drückten bei den Anlegern die Stimmung. Diese Entwicklung erfasste neben TUI, Lufthansa und Easyjet auch den Billigflieger Ryanair, dessen Wert um fast 11% in den Keller ging.
Der Begriff „Panik” mag bei einem hochansteckenden und potenziell tödlichen Virus nicht unangebracht sein, die Entscheidung diverser Länder, ihre Flughäfen und Häfen auch für solche Flugzeuge und Schiffe zu schließen, die nicht einmal Verdachtsfälle an Bord haben, macht es den Reedereien aber auch nicht eben leichter, sich auf die ungewohnte neue Situation einzustellen. In Europa war die Aufregung groß, als am 30. Januar die COSTA SMERALDA im Hafen von Civitavecchia ihre Passagiere nicht ausschiffen durfte. Eine chinesische Passagierin an Bord hatte über Fieber und Atemprobleme geklagt. Am Ende stellte sich die Erkrankung als ein ganz normaler Schnupfen heraus, die Rückreise- und Landgangsarrangements der über 5.000 Passagiere an Bord waren aber ruiniert.
Die größte Bedrohung der Kreuzfahrtindustrie ist somit gar nicht einmal das Corona-Virus selber, sondern die Angst davor. „Wirtschaft ist zu 50 % Psychologie”, hatte schon Ludwig Erhard erkannt, und so müssen die Reedereien ihren Passagieren, gegenwärtigen wie künftigen, in den kommenden Wochen und Monaten vor allem die Angst nehmen, das Corona-Virus könnte auch sie (be)treffen. Keine leichte Aufgabe, wenn man gleichzeitig auch noch Schiffe umrouten, Werftzeiten vorziehen, Besatzungen freistellen und Kunden entschädigen muss. Da ist es zwar schön, wenn der Branchenverband CLIA in einem Statement betont, Sicherheit und Gesundheit der Passagiere und der Crew hätten oberste Priorität. Wenn die damit verbundenen Maßnahmen aber dazu führen, dass eine Kreuzfahrt kein Vergnügen mehr ist, sondern nur noch eine Geisterfahrt mit Vollpension auf der Kabine, hat dies mit Sicherheit Auswirkungen auf künftige Buchungen. MSC Cruises hat sogar bekanntgegeben, Personen mit Anzeichen oder Symptomen von Krankheiten wie Fieber über 38° C, Schüttelfrost, Husten oder Atembeschwerden künftig generell von der Einschiffung auszuschließen. Und deren Reisebegleitung gleich mit dazu. Da überlegt man sich dann dreimal, ob man tatsächlich einen vierstelligen Betrag für Kind und Kegel bezahlt, sollte man Gefahr laufen, kurz vor der geplanten Traumreise von einer Wärmebildkamera im Terminal abgewiesen zu werden und auf den Kosten für die Reise sitzenzubleiben. Dabei traut man sich vom Worst Case gegenwärtig noch nicht einmal zu sprechen: einer Ausbreitung des Virus auf Amerika und Europa, der viel beschworenen Pandemie. Dann wären nämlich nicht mehr nur wie jetzt einzelne Schiffe betroffen, sondern ganze Flotten, die zur Untätigkeit verdammt wären. Nicht auszudenken, wenn auch hierzulande oder gar in den USA, dem Heimatland der Kreuzfahrt, plötzlich Passagierschiffe für längere Zeit unter Quarantäne ständen oder zu tagelangen Geisterfahrten gezwungen wären wie jüngst die WESTERDAM. Ein Horrorszenario, das sich so sicherlich kein noch so gesundheitsbewusster Kreuzfahrt-Manager ausmalen möchte. Doch die Lage ist ernst. Und die Molen in Häfen wie Barcelona und Civitavecchia im Bedarfsfall lang.