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18106 15 Queen Mary 2 Bootsdeck vorne08 2017 Kai OrtelDie Frontpartie der QUEEN MARY 2 ist architektonisch von ihrer Namensvorgängerin QUEEN MARY inspiriert.
Fotos: Kai Ortel, Berlin

Kai Ortel
Königliche Auszeit bei Windstärke 11
An Bord der QUEEN MARY 2 von Southampton nach Hamburg (Teil 2)

Einige Transatlantik-Reisen der QUEEN MARY 2 starten oder enden in Hamburg, wobei man dann das Teilstück Hamburg – Southampton oder umgekehrt auch als Mini-Kreuzfahrt buchen und dies mit einem Städtetrip nach London verbinden kann. Wenn die geplante herbstliche Kurzkreuzfahrt dann aber mitten durch einen Orkan führt, verspricht dies auf einem Schiff wie der QUEEN MARY 2 der Cunard Line ganz besondere Erlebnisse.

Fortsetzung

Am nächsten Morgen stampft das Schiff leicht vor sich hin – auf keinste Weise unangenehm, aber immerhin so, dass man noch merkt, dass man auf einem Schiff ist. Um 9 Uhr macht die QUEEN MARY 2 irgendwo vor der belgischen Küste 16,5 Knoten Fahrt. Draußen herrscht Windstärke 7, doch auch davon spürt man an Bord nichts, sieht man einmal von den Schildern ab, die darauf hinweisen, dass die Decks 7, 11 und 14 „due to high winds” bis auf weiteres gesperrt sind. Außerdem hat das Frühstück im Kings Court für ausreichend „Bauchschwere” gesorgt. Der Brownie war ein Traum, der Obstsalat sagenhaft frisch und auch Wurst und Schinken kein Vergleich zur Massenware anderer Reedereien. Auch hier müssen wir neidlos anerkennen: Besser geht es nicht. Fast möchte man bis zum Mittagessen am Frühstückstisch sitzen bleiben, so satt und zufrieden ist man.
Doch so ein Tag auf der „Königin der Meere” möchte natürlich ausgekostet werden. Zuerst schauen wir daher um 9:30 Uhr im Royal Court Theatre vorbei. Dort referiert Lektor Ivo Mechtel über die Ära der ersten Cunard-Queens, QUEEN MARY und QUEEN ELIZABETH. Vom „Untergang mit Stil“ ist da die Rede, jener Zeit in den frühen 1960er Jahren, als das Flugzeug bereits seinen Siegeszug angetreten hatte. Damals hat die Cunard Line Atlantik-Überquerungen mit 12 Passagieren bei 1.200 Mann Besatzung durchgeführt, dabei jedoch nichtsdestotrotz Essen, Unterhaltung und Service auf höchstem Niveau geboten. Über dieselbe Epoche berichtet um 11 Uhr im Planetarium auch Maureen Ryan, eine ehemalige Zahlmeisterin und Hostess in Diensten der Traditionsreederei. Mit viel Kenntnis und noch mehr Charme plaudert sie dabei aus dem Nähkästchen ihrer Erinnerungen, die sie von Fotos aus ihrer langen Karriere bei Cunard (und P&O) begleiten lässt. Was waren das für Zeiten, als die Passagierschiffe auf dem Nordatlantik noch keine Stabilisatoren hatten und man bei Seegang schon mal „aus Versehen” in die Arme von Kirk Douglas fallen konnte! Oder als für sämtliches Getier an Bord, egal ob Schoßhündchen oder Federvieh, noch eine einzige Person zuständig war – der Schlachter nämlich. Stundenlang könnte man diesen und anderen Anekdoten zuhören, doch um Punkt 12 Uhr stehen schon wieder ganz andere Rituale auf dem (Tages-)Programm. Die „Eight Bells”-Zeremonie z. B., die noch aus Zeiten der Segelschiffe stammt, als die Wachen der Besatzung nach Sanduhren bemessen wurden, die nach einer halben Stunde umgedreht werden mussten. Dabei wurde jedes Mal die Schiffsglocke geläutet, und da eine Wache vier Stunden dauerte, war die Wache nach acht Glockenschlägen („eight bells”) vorüber.
Auf der QUEEN MARY 2 sind von diesem Ritual vier Doppelschläge geblieben, die ein Offizier um Punkt 12 Uhr in der Grand Lobby an der dortigen Schiffsglocke ausführt, ganz unabhängig von seiner tatsächlichen Wache übrigens. Das zweite Ritual ist die Durchsage des Kapitäns, die unmittelbar nach dem 12 Uhr-Glockenschlag ertönt, meist in Verbindung mit drei langen Tönen aus dem Schiffshorn an Deck. Am heutigen Samstag teilt Kapitän Philpott seinen Passagieren mit, dass wir in der vergangenen Nacht um 2 Uhr die Dover Strait passiert haben und dass das Containerschiff ELEONORE MAERSK vor uns fahre. Ferner, dass die Wettervorhersage „not so nice” sei. Was, wenn dies typisches englisches Understatement sein soll, dann schon eher aufhorchen lässt. Uns erwarten heute Nacht nämlich Windgeschwindigkeiten von 60 Seemeilen pro Stunde, also Windstärke 10. Auch könne es sein, dass die Elbe für große Seeschiffe geschlossen werde. Er verspricht, uns auf dem Laufenden zu halten. Bis dahin bleibt es bei durchschnittlich 17 Knoten Fahrt, und er wünscht uns allen Guten Appetit beim Mittagessen.
In der Tat war schon vorhin im Planetarium, das sich ziemlich weit vorne im Schiff befindet, das Geschaukel deutlicher zu spüren als noch am Morgen. Doch für derlei Wetter ist die QUEEN MARY 2 gebaut, schließlich herrscht auch auf dem Nordatlantik vor allem in der Nebensaison nicht nur eitel Sonnenschein. Auf dem Cunard-Liner befindet sich daher auch das Bootsdeck im Vergleich zu gewöhnlichen Kreuzfahrtschiffen außerordentlich weit über der Wasserlinie. Der altmodische Begriff „Promenadendeck” trifft es übrigens besser, denn Deck 7 ist außen nicht nur rundherum begehbar (am Bug natürlich durch einen „Tunnel” in den Aufbauten), sondern auch so breit, dass hier mehr als genug Platz für Liegestühle ist, ohne dass diese im Weg stehen. Im Gegenteil: Wie zu Zeiten ihrer Namensvorgängerin QUEEN MARY ist auch auf der QUEEN MARY 2 das Bootsdeck selbst bei schlechtem Wetter stark frequentiert – vorzugsweise von älteren Herrschaften, die mit einer warmen Decke und einem noch wärmeren Tee auf dem Schoss die Überfahrt genießen. Pate hierfür stand übrigens noch ein zweiter Liner, der zur selben Zeit wie die QUEEN MARY die Transatlantik-Route befahren hat: der Holland America-Liner ROTTERDAM. Beide vereint darüber hinaus dasselbe Schicksal: Sie sind der Nachwelt dankenswerterweise als Hotel- und Museumsschiffe erhalten geblieben, die ROTTERDAM in dem Hafen, dessen Namen sie trägt, und die erste QUEEN MARY im Hafen von Long Beach/Kalifornien.

Afternoon Tea
Am frühen Nachmittag hat unser Schiff seine Geschwindigkeit auf der Nordsee auf 10 Knoten reduziert. Der Wind hat auf Stärke 8 aufgefrischt, und noch immer herrscht Sturmwarnung für die Deutsche Bucht. Doch die Passagiere an Bord lässt die tosende See kalt. Auch wir sind um 13 Uhr erneut im „Illuminations”-Theater – diesmal, um den einmaligen Raum als Planetarium zu erleben. „Infinity Express” heißt die (kostenlose) Vorführung, die vielleicht nicht an die inhaltliche Tiefe einer Phoenix-Dokumentation heranreicht, die einen aber für die Dauer einer halben Stunde in höchstem Komfort (verstellbare Rückenlehnen) in fremde Galaxien und in die Geschichte der Raumfahrt entführt. Und da diese Vorstellung auf Deutsch gezeigt wird, haben auch die Kinder etwas davon. Als nächstes statten wir der Bordbibliothek einen Besuch ab. Auch sie ist gut besucht an Seetagen wie diesem; die wenigen Lesetische sind praktisch rund um die Uhr belegt, doch allein schon das Herumstromern um die Regale und Vitrinen macht Spaß. Die Schiffsbücher verehrter Kollegen stehen hier, aber auch Biografien, Romane und jede Menge Bildbände. Die „Times” liegt in Stapeln aus, und sogar in einer gedruckten Ausgabe der „Encyclopedia Britannica” kann man hier blättern, um seinen Wissensdurst zu stillen. Auf 16 Tonnen Gewicht bringen es die Bücherregale der QUEEN MARY 2 samt Inhalt. Das dürfte für manch eine Weltreise an Lektüre reichen. Und wer ein literarisches Souvenir mit nach Hause nehmen möchte – bitteschön: Direkt neben der Bibliothek befindet sich der Book Shop, die einzige Buchhandlung zur See. Sie wartet mit Bestsellern, aber auch mit interessanten Büchern rund ums Thema Cunard Line auf sowie mit Briefpapier und anderem Lese- und Schreibbedarf, den der goldene Löwe ziert, das Wappentier der Reederei.
Am Nachmittag steht dann einer der Höhepunkte einer jeden Fahrt mit einem Cunard-Liner auf dem Programm: der traditionelle „Afternoon Tea”. Um Punkt 15:30 Uhr öffnen sich die Türen zum Queens Room; wer einen schönen Tisch nahe der Tanzfläche oder dem Pianisten haben möchte, sollte sich schon eine halbe Stunde vorher anstellen. Über eine Stunde erstreckt sich das urenglische Ritual, bei dem die Kellner mit ausgesuchter Höflichkeit und weißen Samthandschuhen Tee einschenken, Butter Scones und andere Leckereien servieren und man sich in schicker Garderobe in ebenso urenglischem Small Talk mit seinen Mit-Passagieren übt. Das mag manch einer schrullig finden, und sicherlich hat der eine oder andere in diesen 60 Minuten an Bord Besseres zu tun, mitgemacht haben sollte man es aber einmal. Eine QUEEN MARY 2 ohne Afternoon Tea? Undenkbar.

Maritime Heritage
Hat man die Abendgarderobe für den Afternoon Tea schon einmal angelegt, kann man mit ihr im Anschluss daran auch wunderbar weiter durchs Schiff flanieren. Sehen und gesehen werden. Anders als die meisten Kreuzfahrtschiffe, deren öffentliche Räume von lichtdurchfluteten Arkaden an den Seiten des Schiffes nach innen zeigen, verfügt die QUEEN MARY 2 auf den Decks 2 und 3 über einen zentralen Mittelgang, von dem aus das Empire Casino, der Golden Lion Pub, der Chart Room und die Champagner Bar nach außen abgehen. Auch dies im Übrigen das Erbe eines anderen berühmten Art Déco-Liners: der NORMANDIE. Auch sind diese beiden Decks mit 4,50 Metern so hoch, dass sie im vorderen Teil des Schiffes noch Platz für ein Zwischendeck gelassen haben. Deck 3l (das „l” steht für „lower”), wo an beiden Schiffsseiten gemütliche Polstersessel zum Lesen und Entspannen ziemlich nahe über der Wasserlinie einladen, kompensiert nicht nur die Tatsache, dass für derlei an anderer Stelle im Schiff kein Platz gewesen ist, sondern erlaubt den Passagieren auch den Besuch des Planetariums, ohne dabei das Royal Court-Theatre dazwischen durchqueren zu müssen. Ein architektonischer Geniestreich, einer von vielen an Bord.
Und noch für etwas anderes hat man Deck 3l genutzt: für Schautafeln, Großfotos und Galerien, welche die Passagiere auf die Geschichte der Cunard Line hinweisen. „Maritime Quest” nennt dies die Reederei, und in der Tat ist es im Rahmen einer Minikreuzfahrt eine ziemliche Herausforderung, all die Informationen aufzusagen, die einem an dieser wie an anderer Stelle an Bord geboten werden. Egal ob es die 248 Schiffe sind, die seit 1840 unter Cunard-Flagge gefahren sind, Hollywood-Größen wie Rita Hayworth oder Elizabeth Taylor, über die Anekdoten berichten, oder das alltägliche Geschäft der Reederei mit Fracht, Auswanderern und Touristen – über all dies und noch vieles mehr gibt der „Cunard Heritage Trail” an Bord Auskunft. „Unequaled maritime heritage” nennt dies auch Douglas Ward, und wer sich die Zeit nimmt, dieses in aller Tiefe zu studieren, dürfte am Ende seiner Reise mit einem Wissen und einem Verständnis für diese Traditionsreederei von Bord gehen, das ansonsten vermutlich nur noch der Kapitän besitzt. An dieser Stelle sei daher nur erwähnt, dass die Cunard Line während der ersten schlappen 125 Jahre ihres Bestehens zwar tatsächlich fast ausschließlich eine Linienreederei gewesen ist. Dass aber auch das Kreuzfahrtgeschäft im Hause Cunard auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Im Jahr 1922 war es eine Weltreise der LACONIA, die diese Tradition begründet hat. Da war ein Ted Arison, 1966 Mitbegründer der Norwegian Caribbean Lines (NCL) und später der Carnival Cruise Line, keine zwei Jahre alt. Auch die Möglichkeit, unabhängig vom Hauptrestaurant in einem zuzahlungspflichtigen, dafür aber intimen und exklusiven Rahmen zu speisen, ist keine Idee des 21. Jahrhunderts. Ein Verandah Restaurant, auf der QUEEN MARY 2 achtern auf Deck 8 gelegen, gab es schon 1936 auf der ersten QUEEN MARY, und einen Grill Room bereits 1914 auf der AQUITANIA. An „richtige” Kreuzfahrtschiffe war da noch lange nicht zu denken.
Am frühen Abend zeigt der Kanal im Bordfernsehen noch immer Windstärke 8 und 10 Knoten Fahrt an, unsere geschätzte Ankunft in Hamburg ist aber weiterhin um 4:30 Uhr morgen früh. Um 21:30 Uhr soll laut Bordprogramm bereits der erste Elblotse an Bord kommen. Wie er das bei den weißen Wellenkämmen da draußen anstellen will, ist uns allerdings ein Rätsel. Auch der Lookout auf Deck 13 ist inzwischen abgesperrt; wer sich bei diesem Sturm an Deck aufhalten will, sollte dafür gute Gründe, noch bessere Kleidung und Standfestigkeit mitbringen. Ein paar Unerschütterliche verbringen die Zeit vor dem Abendessen dennoch im Außen-Swimmingpool auf Deck 8. Wer mit diesem Schiff eine Atlantiküberquerung unternommen hat, dem kann auch ein Nordseesturm nichts anhaben!

Planänderung
Um kurz vor 19 Uhr sitzen wir im Royal Court Theatre. „The Overtures” stehen auf dem Programm, von denen niemand Geringeres als Elton John sagt, sie seien die beste Band ihrer Art auf der Welt. Ein musikalischer Tribut an die 60er Jahre auf allerhöchstem Niveau wartet auf uns, auch wenn die „Epic Beatles” mit ihrer Show auf der NORWEGIAN EPIC in dieser Hinsicht hohe Maßstäbe gesetzt haben. Doch seltsamerweise beginnt die Show nicht pünktlich. Nicht fünf Minuten später, nicht zehn und auch nicht fünfzehn Minuten später. Den Grund hierfür teilt uns der Kreuzfahrtdirektor vor geschlossenem Vorhang mit: eine wichtige Durchsage des Kapitäns, die seiner Ansprache auf dem Fuße folgt. Und die hat es in sich. Denn Wetterbesserung ist weiterhin nicht in Sicht, im Gegenteil. Während er dies durchsage, weite sich der Sturm zu einem Orkan aus, der u. a. zur Folge habe, dass heute Abend um 22 Uhr der Hamburger Hafen für alle größeren ein- und auslaufenden Schiffe geschlossen werde. Die QUEEN MARY 2 werde also nicht wie geplant um 4:30 Uhr morgen früh in Hamburg anlegen, sondern stattdessen die kommende Nacht im Orkan auf der Nordsee verbringen! Je nach Wetterlage werde das Schiff daher erst im Laufe des Sonntags überhaupt in die Elbe einlaufen können, so dass sich unsere Ausschiffung auf Montagmorgen verschiebt, wir die Reise also mit etwa 24 Stunden Verspätung beenden werden. Sprach’s, und lässt 2.500 Passagiere (darunter knapp 1.000 im fast vollbesetzten Theater) verdattert zurück. Wann und wie kommen wir nun zurück nach Hause? Wie buchen wir Flüge, Bahnen, Busse, Hotels um? Wer macht am Montag unsere Arbeit? Doch für die Beantwortung all dieser Fragen ist erstmal keine Zeit. Denn schon stehen die „Overtures” auf der Bühne und legen los. „Ooh I need your love babe / Guess you know it's true”. Ihr Set beginnt ausgerechnet mit einem Beatles-Klassiker, das traut sich nicht jede Band. Doch die vier Herren sind schlichtweg fantastisch. Begleitet von historischen Fotos und Collagen auf der Bildschirmwand hinter ihnen folgt ein perfekt intonierter 60es-Oldie auf den nächsten. Egal ob Bob Dylan („Blowin’ in the Wind”), Simon & Garfunkel („Feelin’ groovy”) oder die Beach Boys („Little Deuce Coupe”) – im Publikum wird mitgesummt, mitgeklatscht und sogar mitgetanzt, was das Zeug hält. Ohne zwei Zugaben dürfen die „Overtures” nicht gehen, da ist selbst der Orkan draußen für einen Moment vergessen. Jetzt wissen wir, was Elton John gemeint hat.

Durch den Orkan
Okay, wir bekommen einen Gratis-Tag auf dem vielleicht schönsten Passagierschiff der Welt. Also genießen wir ihn! Denn an Mobilfunk-Verbindungen, Telefon- oder Internetempfang ist in unserer gegenwärtigen Lage nicht zu denken. Somit können wir auch unsere Rückreisepläne fürs erste nicht ändern oder in der Heimat Bescheid sagen, dass es am Montagmorgen mit der Arbeit leider nichts wird. Zeit, uns darüber weitere Gedanken zu machen, haben wir im Moment aber eh nicht, denn um 20:30 Uhr erwartet man uns wieder im Britannia Restaurant. Dort bleibt der eine oder andere Stuhl verständlicherweise leer – nicht nur wegen der Aufregung um unsere Verspätung, sondern auch wegen der Opfergaben, die angesichts des Sturms so mancher Passagier zu dieser Stunde dem Meeresgott darbringen muss. Doch das Abendessen im Britannia Restaurant ist erneut ein Spektakel. Abgesehen davon, dass der Raum an sich ein architektonisches Meisterwerk darstellt; seit der Außerdienststellung der BERENGARIA 1938 hat es bei der Cunard Line kein Bord-Restaurant mehr gegeben, dass sich über zwei Decks erstreckt hat. Auch am Service oder an den Portionen und schon gar nicht an der Qualität der Mahlzeiten ist etwas auszusetzen. Doch diesmal bekommen wir zusätzlich auch noch Show-Programm geboten. Wellen schlagen bis hoch zu den Fenstern des Britannia Restaurants auf Deck 2, das immerhin mehrere Meter über der Wasserlinie liegt. Sogar die Kellner kommen aus allen Ecken des Restaurants zu den Seiten des Schiffes, um sich diesen Anblick nicht entgehen zu lassen. Das Bord-Fernsehen spricht um 22 Uhr von Windstärke 9 („severe gale”), ein nennenswertes Rollen oder Stampfen können wir aber noch immer nicht spüren. Nur hin und wieder ein kurzes Ruckeln, und die Treppenhäuser knarren während der Fahrt. Kein Vergleich zu besagter BERENGARIA, die zu Zeiten, als sie noch IMPERATOR hieß, den Spitznamen „Limperator” trug – der Schaukelnde. Doch nach einem Gang durchs Schiff zu später Stunde ruft erstmal das Bett. Ein letzter Blick auf den Fernseher um Mitternacht: Windstärke 10, „sea state: very rough”, Schiff mit 9,5 Knoten Fahrt querab Borkum. Die Nacht kann lustig werden.
In der Heimat hat man den Orkan derweil „Herwart” getauft, und Herwart wütet nach Kräften. In Norddeutschland stellt die Deutsche Bahn ihren Betrieb fast komplett ein, auf Wangerooge spült die Sturmflut große Teile des Badestrandes weg, und vor Langeoog strandet am Morgen der Massengutfrachter GLORY AMSTERDAM. Und die QUEEN MARY 2? Auch sie schaukelt jetzt doch gehörig. In Kabine 5196 fallen mehrmals während der Nachtstunden die Teetassen vom Tisch, ansonsten bleibt aber alles heile. Nur Junior kann irgendwann nicht mehr einschlafen. Macht um 1:30 Uhr den Fernseher an und kann die Dialoge aus „Passengers”, einem Science-Fiction-Film mit Jennifer Lawrence, am nächsten Morgen fast auswendig mitsprechen. Schlecht war ihm aber nicht, wie er beteuert, und Papa hat während der Orkannacht sowieso geschlafen wie ein Stein.

Den Sturm abwettern
Windstärke 11 herrscht am nächsten Morgen, als wir uns frühstücksfertig machen – „violent storm”, wie es selbst der Engländer ganz ohne Understatement nennt. „Due to exceptionally strong winds all open decks are closed”, merkt das Kabinen-Fernsehen an, doch die Lust auf einen Deckspaziergang hält sich mittlerweile in Grenzen – solide Bauweise unseres schwimmenden Luxushotels hin oder her. Da muss ein Schritt hinaus auf den Loggia-Balkon genügen. Dort hat übrigens ein dienstbarer Geist während unserer Abwesenheit zum Frühstück die Balkonbrüstung abgewischt, die nach dem nächtlichen Sturm heute früh noch salzverkrustet gewesen war. White Star Service. „Attention to the finest detail”, Sie wissen schon.
Fünf Knoten Fahrt macht die QUEEN MARY 2 am Vormittag. Sie wettert den Sturm ab, wie der Seemann sagt. Dreht den Bug in den Wind, um ihm so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten, und bewegt sich ansonsten nicht oder nur unwesentlich von der Stelle. Dies teilt auch Kapitän Philpott den Passagieren um 9 Uhr in der ersten von mehreren Durchsagen mit, die er im Laufe des Tages noch machen wird. Der Hamburger Hafen sei weiterhin gesperrt, wir müssen warten, bis sich das Wetter ein wenig beruhigt hat. Was am frühen Nachmittag der Fall sein könne, dann wären wir um 21 Uhr am Anleger. Garantien abgeben wolle er aber nicht. Der Elb-Lotse ist zu diesem Zeitpunkt übrigens schon an Bord; wie er das bewerkstelligt hat, bleibt sein Geheimnis. Dass Kapitän Warwick sich in den Anfangsmonaten „seiner” QUEEN MARY 2 ein Feldbett auf die Kommandobrücke hat stellen lassen, um in schwerer See keine Zeit zu verlieren, wenn er vom Wachhabenden gerufen wird, ist dagegen verbürgt. Ob Kapitän Philpott heute Nacht genauso verfahren ist oder ob er überhaupt ein Auge zugemacht hat, weiß man nicht.
Um 10:30 Uhr kommt die zweite Morgendurchsage von der Brücke. „Not much news” habe man, dafür drängen alle an Bord auf eine Lösung, was die Kommunikation mit der Außenwelt betrifft. Die gestaltet sich nämlich schwierig. Telefonanrufe von der Kabine sind heute zwar gratis, am anderen Ende hört man aber wegen des Orkans nur ein Rauschen. Ins Internet kommt niemand, weil wir für das Bordsystem am Sonntagvormittag schon längst als ausgeschifft gelten. Dieses Problem könne nur die IT in der Cunard-Zentrale in Southampton beheben, da ist aber Sonntag, genauso wie bei uns an Bord. Handy- und WhatsApp-Empfang? Fehlanzeige. Kein Land in Sicht. Doch Cunard wäre nicht Cunard, wenn den Passagieren nicht auch in einer Situation wie dieser geholfen würde. Die diensthabende Mitarbeiterin überlässt uns und vielen weiteren Passagieren ihren Privat-Laptop, damit wir daran und über das Netzwerk der Besatzung unseren Bus umbuchen können. Das dauert zwar eine gefühlte Ewigkeit, und an einen Drucker anschließen lässt sich das gute Stück auch nicht. Aber nach einer halben Stunde haben wir unseren Bus storniert und die Buchungsnummer für den neuen abgekritzelt. Die Dame von der Besatzung versichert uns derweil, sie habe es während ihrer Zeit an Bord noch nie erlebt, dass die QUEEN MARY 2 eine Nacht im Orkan verbringen musste, weil weit und breit kein Hafen ansteuerbar war.
In gar nicht mal so weiter Entfernung vom Schiff kommt am späten Vormittag plötzlich die Insel Helgoland in Sicht. Nach zwei Kreuzfahrten, auf denen ein geplanter Landgang auf dem roten Felsen wegen schwerer See hatte abgesagt werden müssen, ist dies nun bereits das dritte Mal in fünf Jahren, dass der Autor dieser Zeilen Deutschlands einzige Hochseeinsel nur von Deck aus sehen kann. Bzw. nicht einmal das, denn diese sind ja auf der QUEEN MARY 2 bis auf weiteres gesperrt. Was zum Glück jedoch nicht für das Kings Court Restaurant gilt (hatte ich bereits den dortigen Schokobrunnen mit abwechselnd brauner und weißer Schokolade erwähnt?), und für die Champagner Bar schon gar nicht. In ersterer sind übrigens die Papierservietten helixförmig gestapelt, als hätte man mit einem Zirkel nachgeholfen, und in letzterer stehen auch bei Windstärke 11 die Kissen auf den Sofas noch auf Kante, als wären sie an der Lehne festgenäht. Detailverliebtheit in Perfektion.

Nach Hamburg – endlich
Am frühen Nachmittag dreht die QUEEN MARY 2 ihren Bug endlich in Richtung Elbmündung. Um 14 Uhr könnten wir in die Elbe einfahren, dann wäre wir um 21 Uhr in Hamburg. Vielleicht wird es aber auch 15 Uhr, dann wären wir erst um 22 Uhr fest. So oder so wäre es zu spät für eine abendliche Rückfahrt in die Heimat. Also genießen wir die zusätzlichen Stunden auf der Nordsee, ändern können wir an unserer Lage sowieso nichts. Brauchen wir jetzt nur noch endlich Mobilfunk-Empfang, um dies Chefs, Familien und Freunden beizubringen.
Um 14:10 Uhr kommt die erlösende Nachricht von der Brücke: Die QUEEN MARY 2 hat „Priority” und ist das erste größere Schiff, das den Hamburger Hafen nach dessen nächtlicher Schließung heute wieder anlaufen darf. Als wir zwei Stunden später Cuxhaven passieren, hat der Wind bereits auf Stärke 6 abgeflaut, und auch die Außendecks sind wieder zugänglich. Sogar die Sonne kommt hervor. Wow – erst in London die Königin gesehen, dann einen zusätzlichen Tag auf der QUEEN MARY 2 geschenkt bekommen und nun auch noch eine Tagespassage die Elbe hinauf bei schönstem Herbstsonnenschein. Manchmal darf man auch mal Glück haben.
Mit beachtlichen 17 Knoten passiert unser Schiff Brunsbüttel, Brokdorf und Glückstadt; für einige, die doch noch heute Abend ausschiffen, weil sie einen Flug bekommen müssen, zählt schließlich jede Minute. Ganz kreuzfahrt-untypisch stehen daher plötzlich am helllichten Tag die Kabinenkorridore voller Koffer. Macht aber nichts, denn je näher wir Hamburg kommen, desto mehr füllen sich auch die Außendecks. Den geplanten Kinobesuch verwerfen wir dafür; zu schön ist das majestätische Dahingleiten unserer „Königin der Meere” zur blauen Stunde auf der Elbe. Sogar das Vorschiff ist jetzt offen, jener begehbare Bereich, in dem man zwischen den Ersatz-Schraubenblättern des Schiffes hin und her spazieren kann (die mitnichten abstrakte Kunstwerke darstellen, worauf eine Bronzetafel dezent hinweist). Doch auch das Aussichtsdeck vor dem Atlantic Room hat jetzt Hochkonjunktur, ebenso das Bootsdeck, das Sonnendeck und die terrassenförmig abgestuften Decks am Heck. Kein anderes Passagierschiff dieser Größenordnung hat auch nur annähernd so weitläufige Außendeckflächen wie die QUEEN MARY 2, und in Stunden wie diesen zahlt sich das einmal mehr aus. Kurz vor Blankenese steht der Vollmond über dem Bug des Schiffes voraus, und die Ruhe ist himmlisch. Keine Durchsagen mehr, laute Pool-Musik oder Animation sowieso nicht, aber selbst die Passagiere unterhalten sich nur leise miteinander. Schöner kann ein Tag an Bord nicht ausklingen. Erst als wir Hamburg erreichen, wird es wieder lauter. Denn wer gedacht hätte, dass eine Ankunft der QUEEN MARY 2 an einem kalten Oktobersonntag 13 Jahre nach ihrem begeisterten Erstanlauf in der Hansestadt gleichgültig aufgenommen werden würde, kennt die Hamburger und ihre Liebe zu diesem Schiff schlecht. „Hallo Hallo” rufen die Leute vom Bubendey-Ufer zu uns herüber, spontaner Jubel kommt wenig später auch vom Docklands-Gebäude gegenüber, kurz bevor unser Liner an den Containerschiffen des Tollerort-Terminals vorbeizirkelt, um rückwärts am Cruise Terminal Steinwerder anzulegen. Die QUEEN MARY 2 besucht den Hamburger Hafen nicht einfach, sie gewährt Audienz. Wohl dem, der dieses Erlebnis an Bord des Cunard-Flaggschiffes genießen darf. Einen schöneren Platz auf den sieben Weltmeeren gibt es nicht. www.cunard.de 

Technische Daten GTS QUEEN MARY 2
Größe: 148.528 BRZ, Länge: 345,03 Meter, Breite: 41,00 Meter, Tiefgang: 10,30 Meter, Decks: 13 (davon 12 Passagierdecks), Baujahr: 2003, Bauwerft: Chantiers de l’Atlantique, St. Nazaire, Frankreich, Antrieb: vier 16-Zylinder Wärtsilä-Diesel, 67.200 kW und 2 Gasturbinen, 59.660 kW (gesamt 126.860 kW), Geschwindigkeit: maximal 30 Knoten, Flagge: Bermudas, Heimathafen: Hamilton, Besatzung: 1254, Passagiere: 2.626 (3.151), Kabinen: 1.313, Bordsprache: Englisch.

18106 01 Queen Mary 2 Deck 2 Mittelgang07 2017 Kai OrtelInspiriert von der berühmten NORMANDIE: die zentrale Arkade auf Deck 2.

18106 02 Queen Mary 2 Grand Lobby Deck 2 02 2017 Kai OrtelDie über die Decks 2 und 3 verlaufende Grand Lobby ist das elegante Herzstück der QUEEN MARY 2.

18106 03 Queen Mary 2 Champagne Bar05 2017 Kai OrtelIn der Champagner Bar stehen die Kissen adrett auf Kante; mit Fotos historischer Filmszenen versprüht der Raum das Flair
der 1940er Jahre.

18106 04 Queen Mary 2 Chart Room04 2017 Kai OrtelDer gemütliche Chart Room ist ein beliebter Treffpunkt für ruhige Stunden abseits von Queens Room und Theater.

18106 06 Queen Mary 2 Queens Grill03 2017 Kai OrtelDas edle Queens Grill-Restaurant ist den Passagieren der Grill Class vorbehalten.

18106 07 Queen Mary 2 Library02 2017 Kai OrtelDie vielleicht schönste Bibliothek auf See.

18106 09 Queen Mary 2 Atlantic Room01 2017 Kai OrtelDer Atlantic Room eignet sich hervorragend für Gesellschaftsspiele im kleinen oder größeren Kreis.

18106 19 Queen Mary 2 Princess Grill07 2017 Kai OrtelAuch das Princess Grill-Restaurant auf Deck 6 steht nur den Gästen der Grill Class zur Verfügung.

18106 05 Queen Mary 2 Minnows Pool01 2017 Kai OrtelIn den frühen Morgenstunden sind die Außendecks der QUEEN MARY 2 noch menschenleer.

18106 08 Queen Mary 2 Commodore Club23 2017 Kai OrtelHinein in den Sturm. Blick aus dem Fenster im Commodore Club.

18106 10 Queen Mary 2 Minnows Pool08 2017 Kai OrtelAm Wasser im Minnows Pool auf Deck 6 ist das Sturmtief, das die QUEEN MARY 2 gerade durchquert, gut abzulesen.

18106 11 Nordsee Sturm08 2017 Kai OrtelAufwachen im Orkan. Am Morgen unserer Ankunft ist Hamburg weit weg, dafür sorgt Windstärke 11 für Wellenberge, soweit
das Auge auf der Balkonkabine reicht.

18106 12 Queen Mary 2 Bug01 2017 Kai OrtelIm Sturm sind vorsorglich alle Außendecks gesperrt; ein Blick durch die Fenster der Bibliothek genügt, um zu wissen, warum.

18106 13 Elbe03 2017 Kai OrtelAm Nachmittag nach dem Sturm kann die QUEEN MARY 2 endlich in die Elbe einlaufen; belohnt werden ihre Passagiere mit
einem herrlichen Sonnenuntergang.

18106 14 Queen Mary 2 Observation Deck11 07 2017 Kai OrtelAls der Wind abgeflaut hat, können die Passagiere die Revierfahrt auf der Elbe an Deck genießen.

18106 16 Queen Mary 2 Bootsdeck23 2017 Kai OrtelDeckspaziergang auf der Elbe. Wegen der Verspätung kommen die Passagiere in den Genuss einer seltenen Revierfahrt nach
Hamburg bei Tageslicht.

18106 18 Queen Mary 2 Oberdeck 12 Nacht06 2017 Kai OrtelMond über Hamburg. Als die QUEEN MARY 2 ihr Ziel spät abends erreicht hat, dürfen ihre Passagiere noch eine zusätzliche
Nacht an Bord verbringen.

18106 01 QUEEN MARY 2 Hamburg26 2015 Kai OrtelDie QUEEN MARY 2 bei einem Besuch am Hamburger Grasbrook im Sommer 2015.