EDITORIAL · AUSGABE 6/2019
Kai Ortel und Christian Eckardt
An der Nordseeküste ...
... am plattdeutschen Strand, sind die Fische im Wasser, und selten an Land”, heißt es in dem Schlager von Klaus und Klaus aus dem Jahr 1985. Das mag auch in Zeiten globaler Überfischung der Meere noch so stimmen, ist aber natürlich nur ein Teil der Wahrheit. Denn an der Nordseeküste wird auch im großen Stil Handel getrieben, und das seit dem Mittelalter. Im 21. Jahrhundert sind daher die wichtigen Nordseehäfen von der französischen bis zur norwegischen Küste auch Zentren der Petrochemie, des Neuwagenumschlags und der Containerverladung, was sie im Gegensatz zu ihren Pendants in der Ostsee oder im Mittelmeer nicht immer zur ersten Wahl bei den Routenplanern der großen Kreuzfahrtreedereien macht. So etwas wie einen malerischen Nordseehafen gibt es nicht, das haben im September mehr oder weniger unfreiwillig die Gäste gleich zweier Kreuzfahrtschiffe erfahren.
Das erste war die neue WORLD EXPLORER. Diesen Sommer frisch in Dienst gestellt, sollte „das Schiff, das alles kann” (nicko tours) am 14.09. „von den Cruise Days auf die Inseln” fahren. „Strand, Watt und Wellen” versprach die Reederei ihren Kunden bei Anläufen der Inseln Amrum, Sylt und Helgoland. Immerhin ist die WORLD EXPLORER als Expeditionskreuzfahrtschiff gebaut, das Tendern vor kleinen oder großen Inseln gehört damit zu ihrem Standardprogramm. Doch daraus wurde nichts, ein Herbststurm über der Nordsee machte die ursprüngliche Planung zunichte. Und da die Sicherheit an Bord an erster Stelle steht, musste die Route der WORLD EXPLORER kurzfristig geändert werden. Statt Sylt und Amrum lief das Schiff das dänische Esbjerg an, den einzigen größeren geschützten Nordseehafen nördlich von Hamburg. Die Begeisterung hierüber hielt sich an Bord jedoch in Grenzen, um es vorsichtig auszudrücken. Dabei liegt mit Fanø eine Insel gleich vor Esbjergs Haustür, die Sylt und Amrum nicht unähnlich ist. Strand, Watt und Wellen? Hätte man auch hier haben können. Außerdem ist die Stadt Ribe mit ihrem mittelalterlichen Stadtkern nicht weit, Legoland ebenso wenig, und auch Dänemarks Westspitze Blåvands Huk ist immer einen Ausflug wert. Kein Grund also zur Revolte.
Doch nach dem Anlauf von Esbjerg fiel auch noch Helgoland aus, stattdessen suchte die WORLD EXPLORER Schutz in Bremerhaven. Eine „einmalige Flora und Fauna” (nicko tours) gibt es auch hier zu sehen, wenn auch hinter Panzerglas – im liebenswerten „Zoo am Meer” direkt am Weserdeich. Und wem das nicht „wild” genug ist: die gleichen Seehunde wie im Zoo liegen bei Ebbe auf den Sandbänken direkt vor Bremerhavens Containerterminal; näher heran kommt man auch in Sylt oder Amrum nicht. Doch Bremerhaven hat noch mehr zu bieten: Nicht nur das weltweit prämierte Auswandererhaus, sondern auch das viel beachtete und gerade sehr aktuelle Klimahaus in den Havenwelten. Auch in Bremerhaven liegt vieles im Verborgenen: Eine Passagierfährlinie in einem Original-Börteboot verkehrt z. B. regelmäßig vom Kaiserhafen zum Schaufenster Fischereihafen. Dort kann man sich in historischem Ambiente Fisch und andere Leckereien der Nordsee servieren lassen. Eine einmalige Gelegenheit, dass der Öffentlichkeit normalerweise nicht zugängliche Container- und Autoterminal zu besichtigen, ist zudem die Fahrt mit dem Havenbus, der auch einen Schlenker zur Lloyd Werft nimmt. Außerdem ist Bremerhaven eine Stadt der Kultur und Museen: Dazu gehören Einrichtungen wie das Zimmertheater „Piccolo Teatro”, das Historische Museum zur Geschichte der Stadt selber oder das Museum der 50er Jahre. Wenn das Wetter schön ist, kann man mitten in der Stadt am Weserstrandbad sonnenbaden oder weiter nördlich, in den kleinen Fischerorten Wremen und Dorum, bei Ebbe auf dem Meeresboden „wattlaufen” und damit hautnah mit dem Nationalpark Wattenmeer in Berührung kommen. Und von der Besucherterrasse des Sail City-Hotels hat man aus 86 Metern Höhe einen grandiosen Überblick über die gesamte Region sowie über die Wesermündung bis in die Nordsee hinein. Die Gäste der WORLD EXPLORER dagegen wollten nur noch nach Hause.
Zweiter Aufreger war wenig später eine Kreuzfahrt der britischen BALMORAL. Das Schiff der Reederei Fred. Olsen Cruises hatte am 16.09. Newcastle für eine „Mystery Cruise” verlassen. Dabei standen nur der Ein- und Ausschiffungshafen fest, die angelaufenen Häfen dagegen waren eine Überraschung. Selbst das schiffseigene AIS gab für die Dauer der Reise keine Zielhäfen an. Nun kann man sich leicht ausrechnen, dass eine derartige Kreuzfahrt nicht nach Hongkong führt, sondern zu den Häfen vor der eigenen Haustür. Als erstes lief die BALMORAL folglich Great Yarmouth an, wo der Bürgermeister persönlich die Gäste am Kai begrüßte, ehe diese das nahegelegene Norwich und das Seebad selber besuchten. Am Folgetag machte die BALMORAL in Dünkirchen fest. Sicherlich nicht die malerischste Stadt Frankreichs, aber eine Stadt voller Geschichte, die zudem bei kaum einer anderen Reederei auf dem Routenplan steht. Dass man von Dünkirchen nicht gleich die Schokoladenseiten zu sehen bekommt, wenn man mit dem Kreuzfahrtschiff die großen Industrieanlagen am Hafen passiert, bedeutet auch nicht, dass es keine Sehenswürdigkeiten zu bieten hat. Ruft man sich die Homepage der Stadt auf, werden z. B. gleich ein Dutzend Kirchen und andere historische Monumente angezeigt. Und wenn man sich durch die Straßen Dünkirchens bewegt, stellt man sich die Frage, was an Le Havre, das ständig von Kreuzfahrtschiffen angesteuert wird, schöner sein soll. Vermutlich nur die Lage, da man von Le Havre aus schneller in Paris ist. Doch Dünkirchen punktet noch auf eine ganz andere Art und Weise: Seit zwei Jahren ist der öffentliche Nahverkehr zur Entlastung des Straßenverkehrs kostenlos! Somit kann man jeden Ausflug zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt gratis durchführen – das bietet sonst kein anderer Kreuzfahrthafen an der Nordseeküste. Trotzdem hielt sich an Bord der BALMORAL auch die Begeisterung über Dünkirchen in Grenzen, und als das Schiff zwei Tage später im niederländischen IJmuiden anlegte, sprachen Passagiere und Medien bereits von einer „Meuterei” an Bord. IJmuiden liegt am Ausgang des Nordseekanals, der den Fischerei- und Fährhafen mit Amsterdam verbindet. Die Schlote der Kraftwerke und Industrieanlagen Nord-Hollands sind hier nicht zu übersehen, und auch die neue Schleuse, die derzeit am Ausgang des Nordseekanals im Bau ist, verdient keinen Schönheitspreis. Auf der gegenüberliegenden Seite zieht sich jedoch ein herrlich breiter Sandstrand die Küste bis nach Scheveningen entlang, und wem dies zuviel „Mystery” ist, der konnte immer noch Ausflüge nach Leiden, Utrecht oder Amsterdam unternehmen. Grund für eine Meuterei an Bord? Wohl kaum.
Dass es auch anders geht, zeigte zur selben Zeit die ARTANIA von Phoenix Reisen. Diese ging vom 13. bis 17.09. ebenfalls auf (Mini-)Kreuzfahrt in der Nordsee. Auf ihrem Programm standen Harwich und Amsterdam; Klagen darüber gab es keine. Für den Tag in Harwich konnte man lange im Voraus Tagesausflüge nach London buchen, und wem dies zu stressig war, der nutzte den kostenlosen Shuttle-Bus der Stadt, welcher die Passagiere halbstündlich in das Zentrum von Harwich selber brachte. Letzteres mag in Sachen Bekanntheit nicht mit Dover, Portsmouth oder Southampton mithalten können, und auch der internationale Fährhafen hat schon bessere Zeiten gesehen. An einem Spätsommertag wie dem 15.09. entpuppte sich der Geburtsort der berühmten MAYFLOWER aber als herrlich entspannte Kleinstadt mit viel Flair und reichlich Historie. Auf der Halfpenny Pier saßen an diesem Sonntag Einheimische in viktorianischer Tracht, am Strand erprobten die Jugendlichen des örtlichen Segelvereins ihr Können, und in der Festung „Harwich Redoubt” wurde, ebenfalls gratis, Geschichte lebendig, für die man im Tower of London lange hätte anstehen und ein kleines Vermögen hätte bezahlen müssen. Eine Meuterei auf der ARTANIA? Undenkbar.
Zufriedene Passagiere sind auch eine Sache der Kommunikation – vor allem, wenn das Wetter wie im Falle der WORLD EXPLORER der Routenplanung einen Strich durch die Rechnung macht. Oder wenn wie bei der BALMORAL eine „Mystery Cruise” nicht wie erhofft in malerische Buchten und pittoreske Fischerdörfer führt, sondern zu Hafenstädten, in denen man als Passagier plötzlich mit dem wirklichen Leben konfrontiert wird. Was an den Gestaden des Meeres, das die alten Römer als „Mare Frisicum” bezeichneten und dass die Dänen „Vesterhavet” nennen, nun einmal regelmäßig vorkommt. Dass die Gäste eine gewisse Erwartungshaltung an eine Kreuzfahrt haben, ist verständlich, aber die Reedereien müssen auch einen Blick dafür haben, was sich außerhalb der zwar beliebten, aber bisweilen auch überlaufenen Hauptdestinationen befindet. Die Nordseehäfen, vom Ärmelkanal bis nach Norwegen, sind in den letzten Jahrhunderten meist für den Umschlag von Waren entstanden; dass sie heute auch von Kreuzfahrtschiffen angesteuert werden, ist für die Häfen selber eher ein Nebengeschäft. Was im Übrigen auch für viele Ostseehäfen gilt. So bieten alle drei großen deutschen Kreuzfahrthäfen mit ihren Terminals in Steinwerder (Hamburg), im Ostuferhafen (Kiel) oder im Seehafen (Rostock) Hafenanlagen an, die sich nicht nur inmitten von Industrieanlagen befinden, sondern die von den touristischen Destinationen ihrer Region auch meilenweit entfernt liegen.
Dasselbe gilt auch für Norwegen, welches auch, aber eben nicht nur für seine malerischen Fjorde bekannt ist. So nahm die DEUTSCHLAND im Rahmen einer Nordlandreise im letzten Jahr erstmals Kurs auf den Hafen Moss – einigen Lesern vielleicht noch als ehemaliger Fährhafen der Stena Line bekannt. Auf den ersten Blick machte auch Moss keinen besonders attraktiven Eindruck, doch nach einem kurzen Gang durch die hübsche Innenstadt zeigte sich hier eine Stadt der frühen norwegischen Industrialisierung, die mit einem wunderschönen Industrie- und Stadtmuseum am Wasserfall Mossefossen aufwarten konnte. Zudem wusste bis dahin keiner der Passagiere, dass Moss Hauptsitz des weltbekannten Regen- und Segeljackenherstellers Helly Hansen ist. Und den Bogen zur Kreuzfahrt schließt die Firma „VingCard” die in Moss die Code-Schlösser für Hotels und Kreuzfahrtschiffskabinen in der ganzen Welt herstellt. Sicherlich war der Besuch von Moss nicht so beeindruckend wie der von Bergen oder Oslo, doch der Erstanlauf eines Kreuzfahrtschiffs in dem 30.000 Einwohner zählenden Städtchen hinterließ dennoch schöne Erinnerungen.
So vielfältig wie die Städte, Landschaften und Menschen in Europa sind, so besonders und vielfältig ist auch die Nordseeküste. Wenn Sie sich also mit dem Gedanken an eine Nordsee-Kreuzfahrt tragen, bedenken Sie bitte: Die Nordseeküste – das ist nicht nur Sylt, Amrum und Amsterdam, sondern auch Dünkirchen und IJmuiden, Bremerhaven und Esbjerg.