GOLDENER RING · AUSGABE 6/2019
Die Christ-Erlöser-Kathedrale im Herzen Moskaus direkt an der Moskwa, in der Nähe des Kreml. Fotos: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund
Dr. Peer Schmidt-Walther
Von der Moskwa an die Newa
Mit einem „Boizenburger” durchs Herz des russischen Riesenreichs
Marschmusik schmettert blechern über die Deckslautsprecher, als die schneeweiße KRONSTADT vom Kai des Moskauer Flusshafengebäudes am Moskwa-Kanal ablegt. Vor dem Binnenkreuzfahrtschiff liegen rund 1770 Kilometer bis Sankt Petersburg. Eine Route mit vielen Facetten.
Maria, studierte Germanistin und Bord-Reiseleiterin, ist noch jung, unser Schiff vom VEB Elbewerften hingegen mit 40 schon eine alte Dame. 2018 allerdings bis in jeden Winkel geliftet. Außen und innen wieder ein echtes Schmuckstück – vor allem „schiffig”, wie Fans die klassische Form des 125-Meter-Motorschiffes mit Kennerblick beurteilen.
Ehrgeizige Pläne Peter I.
Maria hat jetzt anderes im Sinn: Sie muss erst mal ihre deutschen Gäste, die zwei pralle Sightseeing-Tage in der russischen Hauptstadt hinter sich haben, im Konferenzraum über die bevorstehende Strecke informieren. Wir erfahren von ihr, dass in früheren Zeiten der Moskwa-Fluss einziger Weg durch die dichten, sumpfigen Wälder war. Die Schifffahrt spielte hier immer eine bedeutende Rolle. Bevor Peter I. Pläne zur Verbindung zwischen Ostsee, Wolga und Don schmiedete, konnte man in 20 bis 42 Tagen – je nach Schiffsgröße – von Moskau nach Astrachan schippern. Über die Wasserscheide wurden Schiffe und Waren mit Muskelkraft von Mensch und Pferd übers Trockene geschleppt. Infolge zunehmender Siedlungsgrößen und damit verbundener Wasserentnahme, Abholzung und landwirtschaftlicher Nutzung begann im 17. und 18. Jahrhundert der Fluss zu versanden.
Zwischen 1873 und 1877 wurde schließlich ein Holz-Schleusen-System gebaut. Doch erst weitere Verbesserungen und Regulierungen brachten ab 1931 eine Erleichterung.
Bis zwischen 1932 und 1937 Sträflinge auf Befehl Stalins eine künstliche Wasserstraße gruben. Was sie damals unter größten Strapazen leisten mussten, ist beachtlich: In der Rekordbauzeit von knapp sechs Jahren bewegten sie 154 Millionen Kubikmeter Erdreich, verarbeiteten 2,9 Millionen Kubikmeter Beton und Stahlbeton, errichteten elf Staudämme, ebenso viele Schleusen, 15 Brücken, acht Wasserkraftwerke und Sperrtore, fünf Pumpstationen und zwei Tunnel unter dem Kanal. Außerdem wurden zahlreiche Anleger gebaut, drei Binnenhäfen angelegt, 203 Siedlungen und Ortschaften umgesiedelt, neben dem Schifffahrtsweg ein doppeltes Röhrensystem für den Trinkwassertransport sowie Telefon-, Telegrafen- und Stromleitungen verlegt.
„Das haben wir bisher nicht gewusst”, staunen die Russland-Fahrer über das gigantische Werk. Und dies umso mehr, als sie erfahren, dass der 128 Kilometer lange Wolga-Moskwa-Kanal seine Brüder in Panama um 47 und zwischen Nord- und Ostsee um 29 Kilometer übertrifft.
Monopolisten schrecken ab
Immer wieder gleiten Schiffe vorüber. Bei 85 Metern Kanalbreite kein Problem für die erfahrenen Männer um Kapitän Michail Sagalaew auf der KRONSTADT-Brücke. Sie kennen ihre Strecke dank wöchentlicher Pendelfahrten wie aus dem Eff-Eff. Aber sie haben es hier auch – tief im Herzen Russlands – mit echten Seeleuten zu tun. Denen begegnen sie auf Binnen-See-Schiffen der Typen „Wolgo-Balt” oder „Amur”. Manch ein 140 Meter langer 6000-Tonnen-Brocken ist darunter, unterwegs aus dem Kaspischen oder Schwarzen Meer von oder zur Ostsee oder ins arktische Weiße Meer. Sie transportieren Güter in über 20 Länder Europas, Asiens und Afrikas, ohne dass ein Umladen notwendig ist. Eine Reise von Murmansk nach Baku mitten durch Russland dauert nur 15 Tage. Dank moderner Eisbrecher konnte die Kanal-, Fluss- und Seen-Navigationsperiode auf 250 Tage verlängert werden.
Ausländischen Frachtschiffen begegnet man auf den innerrussischen Wasserstraßen hingegen nicht. Die Monopolisten mit ihrer Mammut-Flotte unter der weiß-blau-roten Zarenflagge fürchten internationale Konkurrenz. Und stellen daher unannehmbare Bedingungen, zum Beispiel sich an den immensen Unterhaltungskosten des Fahrwassers zu beteiligen. Das schreckt ab. Vorerst bleibt es also beim strikten „Njet!”
Die KRONSTADT, 1979 als ALEKSANDR ULYANOV gebaut und ihre 22 Boizenburger Schwestern fahren im Fahrplan und haben dadurch Privilegien. Nämlich bevorzugt in den Schleusen abgefertigt zu werden.
Das ist jedes Mal ein Augen- und Fotoschmaus für die Seh-Leute an der Reling. Weithin sichtbar die monumentalen Schleusengebäude aus Granit und weißem Kalkstein. Ihr stalinistischer Baustil mit den triumphbogenähnlichen Türmen erinnert entfernt an das alte Rom.
Satte 50 Meter Höhenunterschied müssen erst mal überwunden werden. Da heißt es immer wieder: „Fahrstuhlfahren abwärts”. Auf unserem Kanal-Kurs nach Norden allein sechs Mal. Ohne Rummser und Kratzer übrigens. Selbst nachts wird niemand aus dem Schlaf geschreckt. Für manch alten Flusskreuzfahrt-„Hasen”, der Schleusen-Manöver in unsanfter Erinnerung hat, eine völlig neue Erfahrung.
Wolga – die Helle, Herrliche
Ab Dubna, dem Atomzentrum an der Wolga-Einmündung, wo Angela Merkel zu DDR-Zeiten forschte, geht es erst mal auf „ebenem Kiel” weiter. Signalisiert durch einen echten, großen Leuchtturm. Ein versilberter Lenin grüßt mit erhobenem Arm – wie eh und je – vom gegenüberliegenden Ufer.
Sie ist seit jeher Inbegriff für russische Heimat. Wie die Birke der russische Baum, der Wodka das russische Getränk, so ist die Wolga der russische Fluss. An seinen Ufern entstand die Nation. Viel besungen, bedichtet und gemalt: in Volksliedern, Romanen, Gedichten und Gemälden voller schwermütiger Romantik. Heute geschunden durch schwergewichtige Baumaßnahmen und Industrie. Ihre braunen Fluten laden selbst bei heißen Hochsommertemperaturen nicht zum Bade. Nach ihrer finno-ugrischen Wortbedeutung gilt sie eigentlich als „die Helle, Herrliche”.
Was bleibt, ist russische Gigantomanie. Gespeist wird der 3690 Kilometer-Fluss der Flüsse, längster und wasserreichster Europas, aus rund 150.000 Zuflüssen, von denen 71 schiffbar sind. 60 Prozent des Wasservolumens machen Schmelzwasser, 30 Prozent Grundwasser und 10 Prozent Niederschläge aus. Sie durchströmt auf ihrem Nord-Süd-Weg drei Klima- und Vegetationszonen: Halbwüsten, Steppen und Nadelwälder. Letztere dehnen sich schier unendlich längs unseres Reiseweges durch das gleichförmige Osteuropäische Tiefland bis zur Ostsee. Nur spärlich unterbrochen von Blockhüttensiedlungen – zunehmend auch in farbenfrohem Outfit – und kümmerlicher Roggen-Kartoffel-Landwirtschaft. Manchmal reckt auch eine Industrieruine ihr rostiges Stahlbetongerippe über die Baumwipfel. Mit schwarz qualmenden Schornsteinen.
Zwischen Waldmeer und Seefahrt
Nach der Flussfahrt weitet sich der Blick auf dem Uglitscher Stausee. Am Horizont Zwiebeltürme. Die frühere Uhrenstadt Uglitsch ging als Schauplatz eines düsteren Geschehnisses in die Geschichte ein. Dimitri, neunjähriger Sohn Iwans des Schrecklichen, kam hier 1591 unter mysteriösen Umständen ums Leben. Die Dimitri-Blut-Kirche von 1692 mit ihren fünf Kuppeln erinnert noch heute an den heiliggesprochenen Fürstenspross. Vom Anleger sind es nur ein paar Gehminuten zu dem Sakralbau oberhalb des Wolgastrandes. Der birkengesäumte Weg zur Kirche ist gepflastert mit Souvenirständen. Jeder Händler versucht ein Schnäppchen zu machen.
Der 400 Kilometer-Abstecher flussaufwärts nach Jaroslawl, älter als Moskau, schönste Stadt des Altrussischen Goldenen Rings, macht einem so recht die geschichtliche Bedeutung des Stroms bewusst, wenn man bei Morgensonne auf sein gewaltiges, glitzerndes Bett herabblickt. Oder die monströse Kirillow-Beloserski-Klosteranlage umrundet, eine der größten Russlands beim Dorf Goritzy an der Sheksna, in dem angelegt wird.
Superlativ Nummer drei: der Rybinsker Stausee. Bis zu 72 Kilometer breit und 140 Kilometer lang, gilt er als einer der größten der Welt. Nicht umsonst wird er „morje”, zu Deutsch „Meer”, genannt. Während seiner Anlage zur Verbesserung der Schifffahrtsbedingungen, Energie- und Wasserversorgung zwischen 1941 und 1947 wurden 700 Ortschaften umgesiedelt und überschwemmt. Stellenweise kommt der Betrachter sich vor wie auf dem Amazonas. Vom Decksstuhl lässt sich das würzig duftende Grün-Panorama aus Inseln, versunkenen Bäumen und endlosem herbstlich glühend gefärbtem Waldmeer so recht genießen. Auch bei typisch russischem Essen, das die Küche täglich zaubert: ob Pelmeni, Borschtsch oder Piroschki.
Kein Ufer ist mehr zu sehen. Wir sind „auf See”. MS KRONSTADT schiebt sich mit 25 Kilometern pro Stunde durch die Nacht, in der sogar der erste Schnee fällt, voran. Beleuchtet durch den Strom, den vier SKL-Dieselaggregate des VEB Schwermaschinenbau „Karl Liebknecht” aus Magdeburg erzeugen. Seit 40 Jahren störungsfrei wie die drei sowjetischen Hauptmaschinen. Das betont der Chief mit Stolz.
Sturm verhindert Wunder des Nordens
Nach weiteren sieben Schleusen mit 80 Metern Abwärtsfahrt öffnet sich uns der schmale Flusslauf der Kowscha, Teil des Wolga-Ostsee-Kanals, beim Ort Wytegra. Hier ist erst mal Schluss. Wegen eines heftigen Sturms über dem Onegasee verbietet die Wasserstraßenverwaltung eine Weiterfahrt. Die Wellenhöhe sei mit über drei Metern zu hoch – was für alle Schiffe gilt. Das beschert uns eine Nacht in Wytegra sowie die Besichtigung des Regionalmuseums und eines ausgedienten U-Boots der Baltischen Flotte.
Gegen Mittag darf MS KRONSTADT schließlich seine Nase in den hier dünengesäumten Onegasee stecken. Eine schier uferlose, wellenbewegte Fläche.
Zu Ehren von Neptun – schließlich dampfen wir über einen See, der mit 10.000 Quadratkilometern (zum Vergleich der Bodensee: 539 Quadratkilometer) größer ist als alle westeuropäischen Seen – wird ein „Piraten-Abendessen” zelebriert.
Ein Highlight der Reise fällt wegen der sturmbedingten Verzögerung allerdings ins Wasser: die berühmte Museumsinsel Kishi, eine von 1650 im Onegasee.
Wir verpassen die grandiose hölzerne 22-kupplige Christ-Verklärungs-Kirche. Genannt auch das „Wunder des Nordens”, 1990 aufgenommen in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO. Russische Holzbaukunst pur – ohne Eisennägel – ebenso karelische Bauernhöfe, Speicher, eine Windmühle und die 10-kupplige Mariä-Schutz-Kirche.
Der Fluss Swir verbindet den Onega- mit dem Ladogasee. Auf halbem Weg Stopp am „Grünen Anleger” Mandrogy im Wald mit einem russischen Museumsdorf in Blockbauweise und traditionellem Handwerk.
Nachts schließlich Einfahrt in den Ladoga. Er ist größter See Europas mit 219 Kilometern Nord-Süd-, 130 Kilometer Ost-West-Ausdehnung, 18.100 Quadratkilometern und bis zu 225 Meter Tiefe. Er zeigt sich gnädig. Seine Sturmwellen indes sind gefürchtet. Sieben Leuchttürme weisen den Weg nach Sankt Petersburg.
Als die Stadt im Zweiten Weltkrieg 900 Tage von deutschen Truppen belagert wurde, führte über den zugefrorenen See die „Straße des Lebens”, auf der Versorgungskonvois in die Festung rollten und sie dadurch retteten.
Für uns indes ist die Stadt im Jahre 2019 das „Venedig des Nordens”: Zwei Tage wird uns Sankt Petersburg wie schon Moskau unwiderstehlich in seinen Bann ziehen.
MS KRONSTADT (technische Daten)
Baujahr: 1979 (22 baugleiche Schwesterschiffe, 28 ähnliche Fahrgastschiffe); Bauwerft: VEB Elbe-Werft, Boizenburg/Elbe (komplettiert nach Schleppfahrt via Hamburg in Rostock; Überführung auf eigenem Kiel nach Leningrad); Projekt: 301; Typ: BiFa 125 M; Renovierung: 2018; BRZ: 5.640; Verdrängung: 3.545 t; Länge: 125 m; Breite: 16,7 m; Tiefgang (maximal): 2,80 m; Höhe über Wasser: 13,7 m; Decks: 4; Passagiere: 212; Crew: 100; Maschine: 3 x 1000 PS, 4-Takt dieselelektrisch, sowjetisches Fabrikat; Propeller: 3; Geschwindigkeit (maximal): 25 km/h/13,5 kn; Generatoren: 4 SKL à 400 PS; Stromspannung: 220 Volt; Eigner/Reederei: www.vodochod.com; Heimathafen: Nishni Novgorod; Flagge: Russland.
Ab 2020 wird das baugleiche Schwesterschiff KONSTANTIN FEDIN anstelle der KRONSTADT fahren.
MS KRONSTADT (Bordeinrichtungen)
Kabinen: 116 (zwischen 7 und 28,5 qm); alle außen gelegen, nur im untersten Deck verschlossene Bullaugen, sonst große, zu öffnende Fenster; 1 Restaurant (eine Sitzung), 2 Bars, Sonnendeck, Veranstaltungsraum, Lese- und Musiksalon, Souvenirshop, Friseur, Bordarzt; Küche: gutbürgerlich (mehrgängiges russisches Menü); Zahlungsmittel: Euro, US-Dollar, Kreditkarten; Bordatmosphäre: leger, Kleidung (laut russischem Scherz): „Wir tragen immer einen Pelzmantel: im Sommer offen, im Winter geschlossen”); Bordprogramm: Konzerte des Bordensembles, Vorträge über Land und Leute, Russisch-Lektionen, Musik- und Tanzveranstaltungen; WLAN; Bordsprache: Deutsch; Sterne: 4; Route (1.777 km): Moskau-Uglitsch-Jaroslawl-Kishi-Mandrogy-St. Petersburg oder umgekehrt. www.nicko-cruises.de
Der Reiseverlauf der MS KRONSTADT von Moskau nach St. Petersburg.
Blick von der Moskwa auf das Machtzentrum Russlands, den Kreml.
Die Basilius-Kathedrale an der Südseite vom Roten Platz.
Roter Platz, Ostseite – das Lenin-Mausoleum an der Kreml-Mauer – wird noch immer gut besucht.
Die Zarkanone im Kreml in Moskau. Sie hat das beeinduckende Kaliber von 890 Millimetern.
Im Südteil des Kathedralenplatzes des Kreml steht die Mariä-Verkündungs-Kathedrale aus dem Jahr 1489.
Einfahrt vom Moskau-Kanal in die Dmitrov-Schleuse zum Uglitsch-Stausee.
Die Dimitrij- oder Bluts-Kirche in Uglitsch.
Die Christi-Verklärungs-Kathedrale in Uglitsch mit dem freistehenden Glockenturm.
Typische russisch-orthodoxe hölzerne Dorfkirche am Wolga-Ufer.
Mönchs-Fischerboot des Kirillov-Beloserski-Klosters bei Gorizy am Fluss Scheksna.
Die wieder aufgebaute Mariä-Entschlafens-Kathedrale in Jaroslawl.
Blick von der Kathedrale auf den Jaroslawler Wolga-Ufer-Park, rechts der Wolga-Nebenfluss Kotorosl.
Kapitän und Steuermann auf der Brücke der MS KRONSTADT.
Blick in eine Zwei-Bett-Kabine auf dem Hauptdeck.
Traditionelles russisches Blockhaus in Mandrogy am Fluss Swir.
Ein Instrumentenbauer bei seiner künstlerischen Handarbeit in Mandrogy.
Traditionelles Mandrogy-Holzhäuschen, das man mieten kann.
Sonnenuntergang über den Uferwäldern des Swir-Flusses.
Das Untere-Swir-Kraftwerk mit Schleuse und einlaufendem Tanker.
Die Sankt Petersburger Erlöser-Blutkirche in ganzer Pracht.
Die Peter-und-Paul-Festung grenzt mit ihrer Mauer an die Newa.
Särge der Zaren-Familie in Sankt-Peter-und-Paul.
Die Privatkapelle der Zarenfamilie im Winterpalais.
Das Winterpalais, ein Teil der Eremitage, am Schloßplatz in St. Petersburg.
Die Isaaks-Kathedrale, eine der weltgrößten Kuppelkirchen.
Sonnenuntergang über der Sankt-Peter-und-Paul-Festung an der Newa.
Blick von der Sommeresidenz Peterhof auf die Ostsee.
Das Schloß Peterhof vom Park aus gesehen.